Neckel | Kapitalistischer Realismus | Buch | 978-3-593-39182-3 | sack.de

Buch, Deutsch, 308 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 220 mm, Gewicht: 450 g

Neckel

Kapitalistischer Realismus

Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-593-39182-3
Verlag: Campus Verlag GmbH

Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik

Buch, Deutsch, 308 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 220 mm, Gewicht: 450 g

ISBN: 978-3-593-39182-3
Verlag: Campus Verlag GmbH


'Leben mit Pop – eine Demonstration für den kapitalistischen Realismus': Unter diesem Motto veranstalteten die Künstler Gerhard Richter und Konrad Lueg 1963 ein Happening in einem Düsseldorfer Möbelhaus. Der 'kapitalistische Realismus' wollte die Konsum- und Lebensgewohnheiten der Nachkriegszeit ästhetisch entlarven. Der Band nimmt das Motto der damaligen Kunstaktion auf, um in gesellschaftskritischer Absicht ähnliche Fragen zu stellen. Wie sieht die Realität des Kapitalismus heute aus, seitdem dieser in alle Verästelungen des Lebens Eingang gefunden hat? Es geht um die Paradoxien, die entstehen, wenn der Kapitalismus Kultur und Lebensstil wird; aber auch um seine Bruchstellen und Grenzen in Kunst und Arbeit, Ökonomie und Moral, Alltag und Subjektivität. Mit Beiträgen von Ulrich Bröckling, Diedrich Diederichsen, Georg Franck, Isabelle Graw, Rahel Jaeggi, Cornelia Klinger, Birgit Mahnkopf, Robert Misik u.a.
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Inhalt

Vorwort 7

'Kapitalistischer Realismus': Die künstlerische Gesellschaftskritik 11
Sighard Neckel und Monica Titton

Ästhetik

Menschen der Steigerung, Menschen der Macht: Die Nietzsche-Ökonomie 33
Diedrich Diederichsen

Kapitalismus in Bildern: Zwischen Oberflächen und Tiefenstrukturen 48
Cornelia Klinger

Im Griff des Marktes? Über die relative Heteronomie von Kunst, Kunstwelt und Kunstkritik 73
Isabelle Graw

Ökonomisierung

Die 'Satansmühle' der kapitalistischen Ökonomie oder: Der kapitalistische Realismus in der Krise 93
Birgit Mahnkopf

Über die Zivilisierung kapitalistischer Aristokratien 117
Reinhard Blomert

After Neo-Liberalism? Rückschau auf die Politik der ökonomischen Entdifferenzierung 138
Frank-Olaf Radtke

Distinktionen

Leben mit Pop: Kulturelle Allesfresser im Netzwerkkapitalismus 165
Michael Parzer

'I am a loser baby, so why don’t you kill me?' Kapitalismus und popkulturelle Moral 184
Robert Misik

Bipa, Conrad, Möbelix: Das Geschlecht des Kapitalismus 197
Andrea Roedig

Konsum

Kapitalismus Zweipunktnull: Über die Kommerzialisierung der Ökonomie der Aufmerksamkeit 217
Georg Franck

'Ich kaufe, also bin ich': Die Person des Kapitalismus 232
Manfred Prisching

Zonen der Ununterscheidbarkeit: Ökonomie und Anerkennung im digitalen Zeitalter 256
Jörn Lamla

Exit

Jenseits des kapitalistischen Realismus: Anders anders sein 281
Ulrich Bröckling

Abbildungsverzeichnis 303
Autorinnen und Autoren 305


Von der Kunstaktion…

Der Begriff 'kapitalistischer Realismus' hat sich in den frühen sechziger Jahren als gemeinsamer Arbeitsname für eine Gruppe junger Düsseldorfer Künstler etabliert. Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Lueg lernten sich 1961 an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf kennen. Zwischen den drei Malern entwickelte sich eine enge Freundschaft und sie beschlossen, gemeinsam nach Ausstellungsmöglichkeiten zu suchen. Vom Auftreten als Gruppe erhofften sie sich eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und höhere Chancen, von Galeristen wahrgenommen zu werden. In den Jahren von 1963 bis 1965 taucht der Name 'kapitalistischer Realismus' in insgesamt fünf Ausstellungen von Gerhard Richter, Konrad Lueg und Sigmar Polke auf. Aus der engen Zusammenarbeit ergab sich eine thematische Ähnlichkeit in den Arbeiten der Künstler, obwohl es nie eine gemeinsame künstlerische Programmatik gegeben hat und der Zusammenschluss unter dem Namen 'kapitalistischer Realismus' mehr einem Zweckbündnis glich. Insbesondere Gerhard Richter war nach seinen Erfahrungen in Ostdeutschland darauf bedacht, als individueller Künstler wahrgenommen zu werden. 'Kapitalistischer Realismus' sollte zudem als Anspielung auf den 'sozialistischen Realismus' verstanden werden, mit dem sich Gerhard Richter während seines Studiums an der Kunsthochschule Dresden und vor seiner Flucht nach Westdeutschland 1961 auseinanderzusetzen hatte (vgl. Elger 2002: 18ff.; Butin 2004: 44f.).
Mit dem Namen 'kapitalistischer Realismus' wollten Lueg, Richter und Polke einen eigenen, bewusst ironischen Begriff für ihre Kunst finden, die sich als eine Analogie zur britischen und amerikanischen Pop Art verstand. Die erste gemeinsame Ausstellung im Mai 1963 wurde in einem verlassenen Lokal in der Düsseldorfer Altstadt organisiert und von zahlreichen Künstlerkollegen besucht, unter ihnen Joseph Beuys und Günter Uecker (vgl. Elger 2002: 76). Einige Monate später, am 11. Oktober 1963, fand die Eröffnung der Ausstellung und Aktion 'Leben mit Pop – Demonstration für den kapitalistischen Realismus' von Konrad Lueg und Gerhard Richter im Düsseldorfer Möbelhaus Berges statt. Die Ausstellung, die je vier Bilder von Lueg und Richter sowie eine Leihgabe von Joseph Beuys umfasste, war bis ins kleinste Detail geplant und folgte einer genauen Dramaturgie (vgl. Kölle 2005: 31ff.): Beim Betreten des Möbelhauses wurden jedem Besucher ein Abendprogramm, ein nummerierter Zettel und eine Anweisung für den bevorstehenden Ausstellungsbesuch ausgehändigt. Die Besucher sollten sich zunächst in den 3. Stock des Möbelhauses begeben und dort in einem Wartezimmer bleiben, bis sie mit ihrer Nummer in den Ausstellungsraum aufgerufen wurden. Auf den Stühlen im Wartezimmer lag je eine Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aus den Lautsprechern tönte Unterhaltungsmusik. Schon in der Einladung wurde die Anwesenheit von Ehrengästen angekündigt – dabei handelte es sich um zwei von Richter und Lueg angefertigte, im Wartezimmer stehende Pappmachéfiguren. Eine zeigte den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, die andere den Düsseldorfer Galeristen Alfred Schmela, der an dem betreffenden Abend nicht an der Ausstellung teilnehmen konnte.
Im Ausstellungsraum saßen Richter und Lueg jeweils auf einem Sofa und einem Sessel, die auf weißen Sockeln standen. Im Raum befanden sich noch weitere Wohnzimmermöbel sowie ein Fernseher, allesamt auf Sockel gestellt. Abgesehen von kurzen Momenten, in denen einer der beiden Protagonisten den Raum mit Fichtennadelozon besprühte, saßen Richter und Lueg reglos da und beachteten die Besucherinnen und Besucher nicht. In dem Bericht, den die beiden Künstler zur Aktion verfasst haben, findet sich eine genaue Beschreibung der Ausstattung des Ausstellungsraums: 'Ein Teewagen mit Blumen in einer Vase, im Zwischenfach Churchills Werke und die Zeitschrift Schöner Wohnen. Ein Schrank mit gemischtem Inhalt, ein weinroter Sessel. Ein Gasherd. Ein grüner Sessel, darauf sitzend K. Lueg (dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte). Ein kleiner Versatztisch, darauf ein Fernsehgerät (nach der Tagesschau die Ära Adenauer übertragend). Eine kleine Stehlampe. Eine Couch, darauf liegend mit einem Kriminalroman G. Richter (blauer Anzug, rosa Hemd, Krawatte). Ein Tisch gedeckt mit Kaffeegeschirr für 2 Personen, angeschnittenem Marmor- und Napfkuchen und eingeschenktem Kaffee, außerdem 3 Gläser und in einem Plastikbeutel 3 Flaschen Bier und 1 Flasche Korn. Die Wände sind weiß gestrichen. Bilder oder Wandschmuck sind nicht angebracht. Neben der Eingangstür befindet sich eine Garderobe. Sie ist mit dem offiziellen Anzug von Prof. Beuys bestückt' (zitiert nach Kölle 2005: 32ff.).
Der im Bericht erwähnte 'offizielle Anzug von Prof. Beuys' war eine Leihgabe des Künstlers, die aus fünf Kleidungsstücken von Beuys bestand, auf denen neun kleine Zettel mit braunen Kreuzen angebracht waren, sowie einem Karton mit Palmin und Margarine. Nachdem alle Gäste den Ausstellungsraum besichtigt hatten, standen Lueg und Richter auf und führten die Gäste durch die vier Stockwerke des Möbelhauses. Sie zeigten den Besucherinnen und Besuchern die ausgestellten Wohn- und Schlafzimmerarrangements, aus den Lautsprechern waren Tanzmusik und zwischendurch Zitate aus dem Möbelkatalog zu hören, die Richter und Lueg ausgesucht hatten. Am Schluss der Aktion wurde in der Küchenabteilung gekühltes Bier serviert.

…zur Gesellschaftskritik…

Die Kunstaktion im Düsseldorfer Möbelhaus Berges ist heute fast 50 Jahre her. Vieles hat sich verändert – auch das stilisierte Wohnzimmer, in dem Gerhard Richter und Konrad Lueg im Oktober 1963 saßen, würde heute ganz anders aussehen. Unbeschadet des historischen Wandels, der sich nicht zuletzt an den Veränderungen in Wohnzimmern ablesen lässt, verkörpert diese Kunstaktion eine Form der distanzierenden Stellungnahme zu gesellschaftlichen Prozessen, wie sie in der Gesellschaftsgeschichte des modernen Kapitalismus seit der Romantik immer wieder formuliert worden sind – in der Performance von 1963 eben als beißender Spott über die Enge und Spießigkeit des Lebens im Zeichen des Wirtschaftswunders.
Die französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello haben sich in ihrem Werk über den 'neuen Geist des Kapitalismus' (Boltanski/Chiapello 2003) eingehend mit dem Phänomen der künstlerischen Gesellschaftskritik auseinandergesetzt. Ihr Interesse an künstlerischen Positionen ergibt sich aus der Frage, aus welchen Kräften der Kapitalismus seine Rechtfertigung bezieht. Wie kann die kapitalistische Ordnung, die den Menschen Disziplin, Anstrengung und Verzicht abverlangt, sich legitimieren und was trägt die Kritik am Kapitalismus zu seiner Rechtfertigung bei? Boltanski und Chiapello gehen dabei von der Prämisse aus, dass der Kapitalismus aus sich selbst heraus kaum legitimationsfähig ist (vgl. ebd.: 42ff.). Mit Max Weber, auf dessen Schrift über die 'protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus' Boltanski und Chiapello mit dem Titel ihres eigenen Buches rekurrieren, sind sie der Auffassung, dass der Kapitalismus einer Sinngebung über sich selbst hinaus bedarf, um Menschen für sich einnehmen und motivieren zu können.
Der 'neue Geist des Kapitalismus' will nun aufzeigen, welche pragmatischen Rechtfertigungen des Kapitalismus heute maßgeblich sind, nachdem dessen religiöse Überhöhung, auf die Max Weber abgestellt hatte, weitgehend aus dem kollektiven Selbstverständnis der Gegenwart verschwunden ist. Hierzu unterscheiden Boltanski und Chiapello historisch verschiedene Sinnhorizonte, welche sie den ersten, den zweiten und den dritten Geist des Kapitalismus nennen (vgl. ebd.: 54ff.), wobei der dritte jener 'neue' ist, auf den sich ihre Untersuchung bezieht.
Der 'erste Geist des Kapitalismus' entspringt dem 19. Jahrhundert und bezeichnet eine gesellschaftliche Tendenz, die eine Beteiligung am Fortschritt verspricht. Der Kapitalismus nutzt moderne Technologien und treibt die Entwicklung der Wissenschaften voran. Überdies verknüpft sich der Fortschritt, den der Kapitalismus verheißt, mit einer Befreiung aus lokalen Strukturen und dem Ende der Herrschaft aus persönlicher Abhängigkeit. Der Kapitalismus wirkt als Faktor der Emanzipation, der starre Bindungen und Zugehörigkeiten aufzulösen scheint.
Der 'zweite Geist des Kapitalismus' verkörpert den organisierten Kapitalismus der industriellen Massenproduktion, den Fordismus zwischen 1930 und 1975. Er verspricht materiellen Wohlstand und Sicherheit, und insbesondere eine Beteiligung an den inzwischen deutlich gestiegenen Konsummöglichkeiten. Dies ist der 'Geist', den Gerhard Richter, Konrad Luegg und Sigmar Polke aufziehen sehen und auf den sich die Aktion im Düsseldorfer Möbelhaus richtet. Im Zeichen des zweiten Geistes des Kapitalismus wachsen mit dem Konsum auch die wirtschaftlichen Organisationen und die staatlichen Apparate. Sie eröffnen Aussichten auf sozialen Aufstieg auch für jene gesellschaftlichen Klassen, die davon bisher ausgeschlossen waren.
Der dritte und 'neue Geist des Kapitalismus' schließlich entwickelt sich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus einer Kritik an der Schwerfälligkeit und Rigidität des Industriekapitalismus. Im Ausgang des Fordismus entstehen kulturelle und gesellschaftliche Tendenzen, die Individualität, Selbstverwirklichung und Autonomie in das Zentrum der Ansprüche rücken. Das New Management des flexiblen Kapitalismus versteht sich als eine Ordnung zu präsentieren, die die Selbstverwirklichung der Individuen befördert und zugleich verlangt.
Der springende Punkt in der Darstellung bei Boltanski und Chiapello ist, dass sie die Antriebskräfte dieser 'geistigen' Veränderungen des Kapitalismus nicht in den kapitalistischen Strukturen selbst verorten, sondern in jenen externen Kräften der Kritik, die gegen diese Strukturen gerichtet sind. Der Kapitalismus nimmt die an ihm geäußerte Kritik auf und integriert sie seinen eigenen Zwecken. Er 'endogenisiert' (ebd.: 476) Einsprüche und Alternativen, indem er sie zu inneren Elementen seines eigenen Funktionierens macht. Dies öffnet neue Märkte, lässt Innovationen und Organisationswandel entstehen und hält die Wirtschaft sensitiv gegenüber neuen kulturellen Tendenzen. Wenn eine österreichische Großbank Werbung mit der Losung macht 'Aus Ideen werden Märkte', hat sie den neuen Geist des Kapitalismus auf eine bündige Formel gebracht.
Angesichts des Umstands, dass Kritiken am Kapitalismus vielgestaltig sind und sich über die Zeit verändern, identifizieren Boltanski und Chiapello zwei grundlegende Muster: 'Sozialkritik' und 'Künstlerkritik', die sich hinsichtlich ihrer Träger, Maßstäbe und Ziele auffällig unterscheiden (vgl. ebd.: 81ff.). Die 'Sozialkritik' wird von der Arbeiterbewegung getragen und nimmt ihren Ausgang als Protest gegen die Ausbeutung in der kapitalistischen Ökonomie. Das Ziel der Proteste ist der gerechte Lohn. Er soll die Ausbeutung aufheben oder zumindest zu ihrer Abmilderung führen. Die 'Künstlerkritik', die die Einsprüche von Intellektuellen, der Kunstwelt und der Bohème artikuliert, macht sich demgegenüber als Protest gegen die Entfremdung geltend, die vom Kapitalismus als einer Lebensform ausgehen soll. Die normativen Fluchtpunkte der Künstlerkritik sind persönliche Autonomie und Authentizität. Sie werden als bedroht betrachtet, wenn Fremdbestimmung und Disziplin die Unverfälschtheit der Person untergraben. Inauthentisch erscheint, sich mit Konsumgegenständen auszustatten. Als standardisierte Massenware sollen sie einer Vermassung der Individuen selbst Vorschub leisten (vgl. ebd.: 473ff.). Die 'Konsumgesellschaft' wird deswegen zu einem bevorzugten Gegenstand der Künstlerkritik. Die Arbeiten von Künstlern wie Konrad Luegg, Gerhard Richter und Sigmar Polke aus den sechziger Jahren legen darüber Zeugnis ab.


Sighard Neckel ist Professor für Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Zugleich ist er Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung.



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