E-Book, Deutsch, 326 Seiten
Neef Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-593-41869-8
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Eine Fachgeschichte
E-Book, Deutsch, 326 Seiten
ISBN: 978-3-593-41869-8
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Soziologie war um 1910 in aller Munde – nicht nur bei Akademikern, sondern gerade auch bei sozial engagierten Intellektuellen: Ingenieuren, Ärzten, Naturwissenschaftlern. Eine Wissenschaft von der Gesellschaft – das hatte Potenzial für optimistische Fortschrittsgedanken. Wie funktioniert Gesellschaft? An welchen Rädern muss man drehen, um sie zu verbessern? Das Schlagwort der Intellektuellen war eben nicht die von Max Weber propagierte Werturteilsfreiheit und Selbstbeschränkung, sondern das Gegenteil:
Kulturbeherrschung. Katharina Neef zeichnet die Entwicklung einer Soziologie jener Denker nach, die aus der Sozialreform nach 1900 hervorgegangen sind.
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Einführung9
Das "Feld" der Soziologie und dieser Arbeit - Soziologie als Sozialtechnologie - Soziallamarckismus und Sozialdarwinismus - Internationalismus und Sozialreform - Gemeinschaft und Gesellschaft - Soziologie und Sozialwissenschaft - Die Rede von den "Diskursen" - Wissenschaft als Weltanschauung
Disziplin- vs. Fachgeschichte27
1.Anstelle eines Forschungsstandes: Die Soziologiegeschichte29
Wozu braucht es Klassiker? - Ein Gegenentwurf: Die Fachgeschichte - Rezeptive Brüche und ihre Folgen - "Historische Wissenschaftsforschung"
2.Die Entstehung der Soziologie in Deutschland nach 196439
Wolfgang Glatzer: Max Weber und die DGS - Gertraude Mikl-Horke: Eine fachgeschichtliche Alternative - Helene Kleine 1989: Soziologie und Erwachsenenbildung - Dirk Käslers Milieustudie von 1984 - Helmut Fogt 1981: Der geheime Klassiker - Ursula Karger 1976: Max Weber - Hanna-Inge Rathenow 1976: Soziologiegeschichte in der DDR
3.Erinnerungen an die Anfangszeit der Soziologie nach 194556
Max Weber zum Gedächtnis 1963 - Zum fünfzigjährigen Bestehen der DGS 1959
4.Nachrufe als Quelle64
Honigsheim auf Weber 1921 - Goldscheid auf Eisler 1928 - Tönnies auf Goldscheid 1932
5.Rezeptive Brüche in der Soziologiegeschichte69
Entstehungsmilieus und Personage73
6.Historische Schlaglichter75
Akademische Existenzen: Der Status der Universität am Beispiel Leipzigs - Das Leipziger Positivistenkränzchen - Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis - Bildungaspekte: Volksbildung - Wilhelminische Schul- und Bildungsreform - Dissidenz, Multiple Devianz und Reform - Von der Reform des Lebens und der Gesellschaft - Das gesellschaftliche Klima für die monistische Sozialreform
7.Intermezzo: Klassische Akteure der Soziologiegeschichte103
8.Akteure einer alternativen Soziologie106
8.1Rudolf Goldscheid (1870-1931)106
Weg in die Sozialreform - Pazifismus und Internationalismus - Staatssozialismus und Finanzsoziologie - Entwicklungen Goldscheids nach 1918 - Ein Who's who des Roten Wien
8.2Wilhelm Ostwald (1853-1932)119
Die Energetik - Erste Schritte kulturellen Engagements - Eintritt in den DMB - Reformfreimaurerei - Freidenkerische Netzwerke - Der DMB als Alternative zur DGS - Kritik am Utilitarismus - Internationalismus und Pazifismus - Ruhestand in der Weimarer Republik
8.3Franz Carl Müller-Lyer (1857-1916)146
Der Arzt als Soziologe - Postume Rezeption im DMB
9.Typologie der monistischen Soziologen155
Soziologiegeschichte aus den Quellen157
10.Soziologisches Vereinswesen159
Soziologische Vereine in der österreich-ungarischen Peripherie - Der Verein für Socialpolitik (VfS) - Das IIS als Drehkreuz internationaler Soziologie - Das Institut Solvay in Brüssel - Der Sozialwissenschaftliche Studentenverein - Soziologische Vereine in Wien - Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie - Der Kongress der Wissenschaften zur Weltausstellung 1904
11.Korrespondenz194
Nachlass Max Weber - Nachlass Wilhelm Ostwald - Partizipierender Klassiker: Ferdinand Tönnies
12.Publizistik210
12.1Reihen210
Die Gesellschaft - Philosophisch-soziologische Bücherei - Die Kultur der Gegenwart - Das Jahr 1913
12.2Zeitschriften219
12.2.1Bibliographie der Sozialwissenschaften219
12.2.2Internationale Zeitschriften226
American Journal of Sociology - Scientia - Annales de l'IIS
12.2.3"Soziologische"/"Sozialwissenschaftliche" Zeitschriften229
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie - Zeitschrift für Sozialwissenschaft - Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik - Monatsschrift für Soziologie
12.2.4Sonstige wissenschaftliche Zeitschriften236
Deutsche Literaturzeitung - Archiv für systematische Philosophie - Annalen der Naturphilosophie - Politisch-anthropologische Revue - Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie
12.2.5Sozialreformerische Zeitschriften243
Dokumente des Fortschritts - Der Atheist - Der Monismus - Das monistische Jahrhundert - Das Freie Wort - Der Dissident - Ethische Kultur - Die Friedens-Warte
Schlussbemerkungen262
Dramatis Personae272
Abkürzungen278
Literatur280
Archivalien280
Jahrgangsweise sondierte Zeitschriften281
Gedruckte Quellen282
Rezensionen300
Sekundärliteratur303
"Ich glaube, dass es ganz allgemein bei jedem Feld um seine Grenzen geht, um die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu diesem Feld. In einem Feld von Soziologen stellt sich die Frage, wer Soziologe ist und wer nicht, und damit, wer das Recht hat, darüber zu bestimmen, wer Soziologe ist und wer nicht (oder in einem Feld von Mathematikern, wer Mathematiker ist und wer nicht)."
Das "Feld" der Soziologie und dieser Arbeit
Die "Frage, wer Soziologe ist und wer nicht" - und weiter: die Frage nach beruflicher, sozialer, religiöser oder politischer Identität - stellt sich nicht nur zeitgenössisch als Positionierung zu Kollegen oder zu denen, die man eben nicht als Kollegen sieht; sie stellt sich auch historisch. Durch den Rekurs auf Forscher vergangener Generationen wird (nicht zuletzt in Anlehnung an Thomas Kuhns Paradigma der Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen) eine akkumulative "Ahnenreihe" konstruiert, auf die sich gegenwärtige Vertreter einer Disziplin berufen. Diese ›Galerie‹ legitimiert die Disziplin und ihre aktuellen Vertreter zum einen durch das Aufzeigen einer Tradition, in die man sich stellt, und zum anderen dadurch, dass diese Tradition durch ihre pure Existenz die Legitimität und Plausibilität des Erkenntnisanspruchs der Disziplin zu beweisen scheint: Die Anzahl und das Alter von Lehrstühlen werden dann zum Beleg nicht nur des Alters der Disziplin, sondern auch zum Beleg der Sinnhaftigkeit ihres Erkenntnisinteresses und ihrer Erkenntnismethoden.
In der Folge werden alternative Methoden, alternative Vorstellungen vom Ziel der betreffenden Disziplin oder alternative Akteure (als die aus der "Ahnengalerie" bekannten) als abwegig und der Legitimation und Plausibilität einer konkreten akademischen Disziplin abträglich angesehen und infolgedessen vernachlässigt oder gar abgewehrt. Die Metapher des Feldes ist für diese Prozesse angemessen: Ein Feld wird von Grenzsteinen und Grenzlinien entlang dieser Marken definiert. Was im Landbau durch Steine und Geodäten geschieht, passiert analog im Geistigen und Sozialen durch das Forschungsobjekt und die Methoden bestimmende Lehrsätze; bestimmte Positionen und Ansichten sind unhinterfragbar - ihre Infragestellung kommt dem Grenzübertritt gleich. Jenseits dieser Linien ist nicht "Niemandsland", dahinter sind andere Felder, andere Disziplinen.
Der Begriff des Feldes ist als einfache Metapher und als funktional differenziertes Konzept eingeführt. Hier wird er nur als Metapher genutzt; die kritische Diskussion der jüngeren Bourdieu-Exegese wäre daher wenig ergiebig. Bourdieus Felder konstituieren sich als autonom, das heißt, sie entstehen durch Abgrenzung von anderen Feldern durch Ausdifferenzierung. Über Art und Herkunft der Ausdifferenzierung aus den vielgestaltigen Phänomenen sozialen Zusammenlebens äußert Bourdieu sich nicht; diese Bestimmung steht dem Forscher, seinem Erkenntnisinteresse und seiner Perspektive zu.
Die Interessen und Perspektiven dieser Arbeit seien daher konkretisiert. Ihr liegt die einfache Feststellung zugrunde, dass Soziologiegeschichtsschreibung nicht den Anforderungen historischer Arbeit gerecht wird: Sie verkürzt sich auf professorale Vertreter und Vordenker, thematisiert deren Theorien und verweist auf Beziehungen dieses engen Zirkels zueinander. Dass und wie dieses Verfahren den legitimatorischen Interessen der Disziplin, dem "Abstecken ihres Feldes", gerecht wird, wird im Teil "Disziplin- versus Fachgeschichte" umfassend dargestellt. In den historisch verkürzten soziologiegeschichtlichen Arbeiten geriet der Umstand aus dem Blick, dass wissenschaftliche Disziplinen gerade im Moment ihres Entstehens als solche weder aus dem Nichts hervortreten noch als reine ideelle Gebilde umfassend beschrieben werden können. Die Soziologie - wie alle akademischen Disziplinen, deren Entstehung in das Ende des langen 19. Jahrhunderts fällt (Psychologie, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft) - entstand aus dem Versprechen, Gesellschaft wissenschaftlich erforschen zu können, ganz gleich ob der methodologische Zugang und Zweck des Unterfangens das Erklären oder das Verstehen war.
Entstehung und Bestand dieses gesellschaftlichen Erwartungshorizonts beachtet die Soziologiegeschichtsschreibung nicht; doch zeigt sich gerade hier, wie vielgestaltig und universitätsfern die Entstehung einer akademischen Disziplin sein kann. Das ist zu zeigen: Gesellschaftswissenschaft interessierte viele Menschen. Verschiedenste Milieus stellten um 1900 Ansprüche an eine solche Wissenschaft und formulierten theoretische oder politische Programme. Eine gesamtgesellschaftliche Rekonstruktion der Erwartungshaltung an die Soziologie zu geben, würde den Rahmen sprengen: Zu viele Lager, Vereine, Strömungen und Denker wären zu erfassen und zu groß wäre der zeitliche Bogen, selbst wenn es sich im Kern um weniger als zehn Jahre (1905-1914) handelt.
Die Soziologie ist so das Produkt eines vor 1914 offenen intellektuellen und nicht universitär beschränkten Diskursfeldes und es genügt daher zur Darstellung dieser Entstehung nicht, den vermeintlichen Kern zu rekonstruieren. Vielmehr ist es unumgänglich, gerade die Peripherie mit ihren Übergängen in die Sozialpolitik, Sozialreform und Technologie aufzuzeigen. Für den Beleg der These - die Soziologiegeschichte kann nicht nur aus akademischen Milieus und Debatten heraus geschrieben werden - ist die Rekonstruktion des Gesamtbildes letztlich nicht notwendig. Stellvertretend für die Vielzahl von Ideen zur Soziologie um 1900 wurde das positivistische Programm ausgewählt, das sich besonders eignet. So ist der Positivismus geradezu eine Negativfolie zum maßgeblich rezipierten werturteilsneutralen Soziologieverständnis: Ihn tragen ein anderes Wissenschaftsverständnis, Erkenntnisinteresse und andere Akteure. Ferner ist die Trägerschicht des Positivismus distinkt, sie beschränkt sich auf sozialreformerische, freidenkerische Vereine und Zirkel. Diese habitualisierten geradezu Publizität und ein selbstreflexives Bekenntnis. Ihre Vertreter waren meist akademisch gebildet und partizipierten als Bildungsbürger an den kommunikativen Foren der Zeit. Gleichzeitig befanden sich viele von ihnen in prekären beruflichen Verhältnissen und mussten sich vielfältiger Medien bedienen: Sie waren Buchautoren, Zeitschriften- und Zeitungsmitarbeiter, Redner und ›Vereinsmeier‹.