Nesser | Kim Novak badete nie im See von Genezareth | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Nesser Kim Novak badete nie im See von Genezareth

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09045-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-09045-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schweden in den 60er Jahren. Ein kleines Sommerhaus an einem der unzähligen Seen. Hier verbringen der 14jährige Erik und sein Freund Edmund die Ferien. Sie schwärmen von der jungen Aushilfslehrerin Ewa, die aussieht wie Kim Novak und sich schon bald beim Dorffest in voller Blüte zeigt. Zwei Tage später findet man die Leiche von Ewas Verlobtem, und Eriks älterer Bruder, der eine Affäre mit Ewa hatte, steht unter Mordverdacht. Der Täter wird jedoch nie gefunden. 25 Jahre später liest der erwachsene Erik zufällig einen Bericht über ungeklärte Verbrechen, und der Sommer von damals bricht mit aller Gewalt über ihn herein. Was ist damals wirklich geschehen?

Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt auf Gotland.

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2
Das Schulgebäude hatte drei Stockwerke. Es war rechteckig wie ein Schuhkarton und aus gelblichweißen Ziegeln gebaut, die im Laufe der Zeit bräunlich geworden waren. Auf der einen Längsseite gab es einen Kiesplatz, auf dem man in den Pausen Fußball spielen konnte  – auf der anderen Seite einen Kiesplatz, auf dem man auch hätte Fußball spielen können, es aber nicht tat. Auf dieser anderen Seite hielten sich die Antifußballer auf; wie die Mädchen, die sich in immer den gleichen Grüppchen zusammenstellten, verschiedene Sachen untereinander tauschten und kicherten. Genau genommen weiß ich gar nicht, ob sie wirklich etwas untereinander tauschten oder was sie da eigentlich taten, da ich mich immer in einem sicheren Abstand von ihnen befand. Ansonsten gehörte ich nämlich zu dem Dutzend Jungs, die nicht Fußball spielten und sich nicht jede Pause einsauten. Die Antifußballer. Im Grunde meines Herzens war ich zweifellos ein Sporthasser. Ich konnte nie begreifen, wie all die Fußballspieler eigentlich in jeder Pause Platz auf dem Feld fanden, es muss sich um mindestens fünfzig Jungs gehandelt haben. Aber vielleicht war es ja auch nur die Elite, die wirklich spielte, während die anderen herumstanden, schrien und sich so gut es ging dreckig machten. Ich weiß es nicht. Ich war nie dabei und habe nie zugeguckt. Ich gehörte auf die Mädchenseite, wie gesagt, das war nichts besonders Ehrenwertes, aber ich versuchte mir einzureden, dass es auf der Welt andere Werte gab. Und ich war keineswegs einsam. Benny war auch dort. Und Snukke. Balthazar Lindblom und Veikko und Arsch-Enok. Sowie noch ein paar. Und Edmund. Als ich über ihn nachdachte – nachdem mein Vater den Vorschlag gemacht hatte, dass wir doch den Sommer zusammen verbringen könnten –, fiel mir auf, dass ich eigentlich überhaupt nichts von ihm wusste. Abgesehen von den üblichen Sachen natürlich. Dass sein Vater Pornoblätter las und dass er mit sechs Zehen an jedem Fuß geboren worden war. Ansonsten war er ein unbeschriebenes Blatt, das wurde mir jetzt klar. Ziemlich groß und ziemlich kräftig – und mit einer Brille, der immer entweder ein Glas oder ein Bügel fehlte. Wir waren nur dieses letzte Jahr in einer Klasse zusammen gewesen, es kursierten irgendwelche Gerüchte, wonach er eine enorm große Modelleisenbahnanlage hatte und eine riesige Sammlung von Westerngroschenromanen, aber ich wusste nicht, wie viel an diesen Behauptungen dran war. Sein Vater war Schließer, da fand sich das Bindeglied. Er hatte das ganze letzte Jahr mit meinem Vater zusammengearbeitet, und da hatten sie wohl über den Sommer gesprochen. Und über das eine und andere mehr. Ich hatte eigentlich keine festeren Freundschaften – abgesehen von Benny möglicherweise, aber der fiel ja für den Sommer aus –, deshalb streckte ich meine Fühler aus, nachdem ich ein paar Pausen um ihn herumgeschlichen war. »Hallo, Edmund«, sagte ich. »Hallo«, sagte Edmund. Wir standen an der Ecke des Fahrradständers mit dem Wellblechdach und traten ohne großen Ehrgeiz Kieselsteine gegen ein paar Mädchenräder. »Mein Vater hat mir was gesagt«, sagte ich. »Ich habe es gehört«, sagte Edmund. »Aha, ja«, sagte ich. »So ist es«, sagte Edmund. Dann klingelte es zur Stunde, und mehrere Tage lang sprachen wir nicht mehr drüber. Aber ich fand, es war eine vielversprechende Einleitung gewesen. Genezareth war kein See. Es war ein Haus, das an einem See lag, und der hieß Möckeln. So heißt er noch heute. Fünfundzwanzig Kilometer außerhalb der Stadt. Gut zwei Stunden mit dem Fahrrad hin. Gut eineinhalb zurück. Der Zeitunterschied ergab sich durch den Klevabuckel, einem fürchterlichen Muskelfresser von ungefähr dreihundert Metern Länge genau auf halber Strecke. Es lagen einige Häuser am Möckeln – einem relativ großen und fast kreisrunden See mit braunem Wasser –, aber meistens waren es bewaldete Strände. Genezareth lag auf einer Kiefernlandzunge in ziemlich einsamer, majestätischer Lage und kam von mütterlicher Seite in unsere Familie. Eine baufällige, zweigeschossige Holzhütte ohne jeden größeren Komfort außer einem Dach über dem Kopf und frischem Seewasser in zehn Metern Entfernung. Jeden Winter zerbrach das Eis den Steg, und für den Kahn gab es einen Außenbordmotor, der eigentlich seit meiner Geburt auseinander genommen in einem Schuppen lag. Meiner sterbenden Mutter gehörte das Haus nicht allein. Es gab noch eine Tante Rigmor, ihr gehörte die Hälfte davon, aber sie war nicht zurechnungsfähig und konnte keine Ansprüche stellen. Der Grund für Rigmors traurigen Zustand lag in einem traumatischen Unglück während einem der ersten Kriegssommer. Der ging in unsere Familiengeschichte mit der gleichen Selbstverständlichkeit ein wie der Sündenfall in die biblische – sie war mit einem Elch zusammengestoßen, und die Tatsache, dass sie mit einem Fahrrad gefahren war, warf einen starken, fast mythologischen Schein auf das Geschehen. Gemeinsam mit einer Freundin war sie in den Ferien mit dem Fahrrad unterwegs in Småland gewesen, und von irgendeinem Hügel im Hochland war sie zuerst direkt in einen prächtigen Zwölfender gerast und anschließend ins allgemein bekannte Dingle-Irrenhaus an der Westküste gekommen. Lebenslänglich, wie es schien. Ich hatte sie nur einmal kurz gesehen und fand, sie ähnelte meiner Mutter in keiner Weise. Eher erinnerte sie mich an einen Seehund. Mit Brille statt Schnauzbart, aber ich nahm an, dass man genau so aussehen sollte, wenn man im Dingle saß. Es ist zwar nicht ganz sicher, dass meine Eltern versucht hätten, Genezareth zu verkaufen, wenn es nicht diese tragische Tante gegeben hätte, aber ich nehme es stark an. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie sich dort draußen wirklich wohl fühlten. Vielleicht, weil es so unbequem war. Vielleicht, weil meine Mutter nie schwimmen gelernt hatte. Es war ein tiefer See. Zumindest an bestimmten Stellen. Zumindest vor unserer Landzunge. Wie es sich mit dem ein oder anderen nun auch verhielt, jedenfalls hatte ich an diesem Tag im Mai Probleme, mir vorzustellen, wie der Sommer sich wohl gestalten würde. Mit Henry und Emmy. Ich konnte nicht an Emmy denken, ohne ihren Busen vor mir zu sehen. Vollkommen bedeckt, aber trotzdem. Und ich konnte ihren Busen nicht vor mir sehen, ohne einen Steifen zu kriegen. So war es nun mal. Und der Gedanke daran, was mein Bruder wohl mit Emmy Kaskel vorhatte, war ebenfalls nicht so leicht zu bewältigen, oh nein. Genezareth war kein großes Haus. Und dann noch das mit Edmund. Ich wusste ganz einfach nicht, wie es werden würde. Obwohl, scheiß drauf, dachte ich. Kommt Zeit, kommt Rat. Es war ein Donnerstag, als Ewa Kaludis ihre Stelle in der Stavaschule antrat. Wir hatten gerade eine Doppelstunde in der Holzwerkstatt gehabt, und ich hatte letztendlich den Zeitungsständer demoliert, an dem ich seit sieben Monaten gearbeitet hatte. Holz-Gustav war nicht begeistert gewesen, aber ich hatte ein gutes Gefühl. Ich mochte das Werken nicht, weder Nähen noch Holzarbeiten, irgendwie wurde es nie so, wie ich es mir gedacht hatte, und es dauerte immer so verdammt lange. Wie üblich hing ich mit Benny und Arsch-Enok unter dem Fahrradständerdach herum, wir warteten darauf, dass die Pause zu Ende ging, da tauchte sie auf der Straße auf. Ich würde ja behaupten, dass ich sie zuerst gesehen habe, aber Benny und Arsch-Enok waren sich genauso sicher, sie wären es jeweils gewesen. Eigentlich spielt das auch keine Rolle, die Hauptsache war, dass sie kam. Auf jeden Fall musste sie zuerst am Fußballplatz vorbeigekommen sein, denn innerhalb weniger Sekunden war die Mädchenseite proppevoll mit Leuten, die glotzend herumstanden. Schmutzige Fußballspieler massenweise. »Ich glaube, ich bepiss mich«, sagte Benny und sperrte den Mund auf, als säße er beim Zahnarzt Slaktarsson und warte auf den Bohrer. »Ja, ja, aber ...«, stotterte Arsch-Enok. »Das ist Kim Novak.« Ich selbst sagte nichts. Zum einen, weil ich normalerweise nicht unnötig den Mund aufmachte, zum anderen, weil es mir die Sprache verschlagen hatte. Es war wie in einem Film. Nur noch besser. Die Biene, die da auf ihrem Moped direkt auf den Schulhof geknattert kam, sah wirklich aus wie Kim Novak. Dickes, weizenblondes Haar, schick hochgesteckt mit einem roten Tuch. Eine dunkle, elegante Sonnenbrille und ein Mund, der so groß und atemberaubend war, dass mir die Knie weich wurden. Schwarze, enge Stretchhose und ein schwarz-rot-kariertes Hemd, das im Wind flatterte. »Verflucht, ist die scharf«, sagte Balthazar Lindblom. »Das ist ein Puch«, sagte Arsch-Enok. »Meine Fresse, Kim Novak fegt auf einem Puch auf unseren Schulhof. Küss mich da, wo ich schön bin.« Dann wurde Arsch-Enok bewusstlos. Er hatte so eine Art leichte Epilepsie und fiel ab und zu um. Es wäre eher merkwürdig gewesen, wenn er dem hier gewachsen gewesen wäre, dachte ich. Kim Novak stellte ihren Puch aus. Sie stand einen Augenblick breitbeinig über ihm, die Füße im Kies, während sie lächelnd die hundertacht erstarrten Figuren auf dem Schulhof betrachtete. Dann stieg sie ab, schob das Moped elegant auf den Ständer, zog die flache Aktentasche vom Gepäckträger und marschierte quer durch das Wachsfigurenkabinett ins Schulgebäude hinein. Als sie verschwunden war, drehte ich den Kopf und stellte fest, dass Edmund neben mir stand. Fast Schulter an Schulter, obwohl er etwas größer war. »Die da«, sagte er mit belegter Stimme. »Die würde ich eine reife Frau nennen.« Ich nickte. Dachte an die Pornoblätter seines Vaters und nahm...


Nesser, Håkan
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt auf Gotland.



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