E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Nickel Hysteria
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99257-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-492-99257-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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3 Baumschule Die Wanderer näherten sich dem Parkplatz mit großer Geschwindigkeit. Bergheim entdeckte sie, weil er auf einmal marschartige Schrittgeräusche vernommen hatte. Was in seinen Ohren klang wie eine kleine Armee, erwies sich bald als Gruppe von drei Paaren, die hintereinander herliefen. Vorneweg ein tiefbraun gebrannter älterer Herr mit markantem, schartigen Gesicht, der über einem groß karierten Hemd einen hellen Anorak mit weit ausladendem Kragen trug. In der rechten Hand schwenkte er einen Spazierstock, mit dem er unentwegt knapp aus dem Takt den Stechschritt kontrapunktierte. Seine beige Hose mit scharfen Bügelfalten gab beim Laufen den Blick frei auf die roten Schnürsenkel seiner soliden Wanderschuhe. Die wollenen Kniebundhosen der Frau, die neben ihm ging, reichten ihr bis über die Hüften, und unter ihrer olivfarbenen Militärbluse trug sie ein weißes Unterhemd. Am auffälligsten fand Bergheim jedoch das Rautenmuster ihrer Kniestrümpfe, das ihn an die geometrischen Figuren der Testbildschirme seiner Jugend erinnerte. Er war damals nachts extra lang aufgeblieben, nur um zu sehen, wie sich irgendwann mitten in der Nacht die Senderfrequenz änderte und das bis zum Morgen unterbrochene Fernsehprogramm plötzlich von einer anderen Funkstation ausgestrahlt wurde. Doch bevor er länger darüber nachdenken konnte, was genau ihn daran so fasziniert hatte, war die Gruppe schon fast bei ihm. Bergheim kam der Verdacht, dass sie gar keine wirklichen Wanderer seien, sondern eine getarnt arbeitende Spezialeinheit der Tierzüchter vom Markt, die auf der Suche nach ihm war, weil er zufällig etwas gesehen hatte, das niemand jemals zu Gesicht bekommen hätte sollen. Er stand rasch auf, drehte sich von ihnen weg und rückte dabei seine Krawatte zurecht, um direkt in einen Laufschritt zu verfallen, erst langsam, dann, Schritt um Schritt, immer schneller, wobei die Wanderer, wenn er sich nach ihnen umsah, seinem gesteigerten Tempo unmittelbar zu folgen schienen. Der Gesichtsausdruck des Mannes, der den anderen Pärchen vorauslief, war dabei gelöst und entspannt trotz der sichtbar sportlichen Anstrengung. Er und die Frau neben ihm lächelten einander zu, seine Brauen zogen sich schmal, den Konturen des Schädels folgend, direkt über den tiefen Augenhöhlen zusammen, als seien sie es, mit denen er die Gegend überblickte und gedanklich durchmaß. Bergheim versuchte, sie zu verwirren, indem er absichtlich seinen Gang so stark verlangsamte, dass er fast stehen blieb, und dann aus dem Nichts wieder einen kleinen Trab begann, aber immer war es das Gleiche, am Abstand von den Verfolgern änderte sich kein Jota. Die Frau neben dem Anführer zeigte nun direkt auf ihn, winkte mit den Händen hin und her und zog dazu die Augenbrauen hoch, als ob sie ihn vor irgendetwas warnen wollte. Auf der Straße näherte sich ein Bus, der mit metallenen Bügeln an der Oberleitung hing, beim Hin- und Herschwenken blitzte es gefährlich laut auf, weil die Leitung im Zickzack verlief. In Fahrtrichtung des Busses war in einiger Entfernung eine Haltestelle zu sehen, an der sich eine Menschenmenge versammelt hatte, und Bergheim nutzte den Moment, da der Bus ihn passierte und dabei die Blätterhaufen am Straßenrand aufwirbelte, für einen Endspurt. Als er völlig außer Atem den Bus erreichte und sich unter die gerade einsteigenden Passagiere mischte, fühlte er, wie ihm der Boden unter den Füßen wegzusacken drohte und er kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen. Bevor ihm vollends schwarz vor Augen wurde, half er sich mit einem Trick, den er als Kind in einem Pfadfinder-Handbuch gelesen hatte: Kneife in schneller Abfolge die Augen erst zusammen, dann auseinander und bewege dazu den gespitzten Mund abwechselnd nach links und nach rechts. Das sah nun für die Menschen, die in der Menge um ihn herum standen, seltsam aus, zumal er gleichzeitig nervös von einem Bein auf das andere trat und nicht von der Stelle kam. Inzwischen waren auch die Wanderer am Bus angekommen. »Was ist denn da los?«, fragte die Frau mit den Kniebundhosen, die sich nach vorne zu drängeln versuchte. »Lassen Sie mich durch, ich kenne den Mann.« Bergheim schob sich weiter in den völlig überfüllten Bus hinein, und eine automatische Ansagestimme ertönte von vorne: »Bitte Türen freimachen, dieser Bus ist voll, der nächste folgt in Kürze.« Erleichtert sah Bergheim, wie sich mit einem schrillen Fiepen die pneumatischen Bustüren schlossen und die Wanderer draußen zurückblieben. Die Frau wandte sich ihren Leuten zu und signalisierte mit Handzeichen ein großes T, während sie mit dem Kopf zur Seite dem Bus hinterherdeutete. Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass es sich bei den Mitfahrern um eine asiatische Reisegruppe handelte, die alle ungefähr einen Kopf kleiner waren als er. Sie sahen still und ehrfürchtig zu ihm auf, und er verbeugte sich im Gegenzug lächelnd in alle Richtungen hin, als wolle er sich für ihre Anwesenheit im Bus bedanken, die sein Entkommen ermöglicht hatte. Als er das Schild auf dem Revers des Gruppenleiters inspizierte, der mit einer Fahne direkt neben ihm stand, las er »Organischer Weltkongress, Sektion 808S, Osaka-Siedlung Düsseldorf«. Anscheinend besuchten sie im Rahmen der gerade stattfindenden Konferenz ausgewählte deutsche Vorzeigebetriebe, um sich mit den allerneuesten Entwicklungen der naturgemäßen Landwirtschaft vertraut machen zu können. Bergheim fiel ein, dass er sich ja auch für den Kongress angemeldet hatte, um am Nachmittag einen Vortrag seines besten Freundes aus Studienzeiten an der Hochschule für Kulinarik zu hören. Das war nun zu spät, über den Besuch bei der Kooperative hatte er Ansgar völlig vergessen, was ihn mit großer Ratlosigkeit erfüllte. Seine letzten Treffen mit ihm waren nicht gut verlaufen, wieder und wieder hatte sich Ansgar über Bergheims ungehörige Bemerkungen empört, was ihn schließlich zu der Frage verleitete, ob mit ihm oder Ansgar etwas nicht in Ordnung war. Seit Bergheim nicht mehr viel unter Menschen war, schien er in völlig normalen Unterhaltungen oft missverstanden zu werden, was ihm ziemlich unangenehm war. Und das, obwohl ihm nichts Besonderes an seinem Verhalten auffiel. Im Gegenteil: Weil es so aussah, als ob er seine Gesprächspartner womit auch immer provozierte, hatte er beschlossen, sein seit jeher höfliches diplomatisches Wesen noch mehr als sonst zu betonen, indem er sich nachgerade überfreundlich verhielt. Weil es keine einfache Erklärung für die abweisenden Reaktionen gab, fragte er sich, ob eine Veränderung stattfand mit dem, was er sagen wollte, bevor es bei den Menschen ankam. Und das, ohne dass er etwas davon bemerken konnte. Er war sich nicht sicher, ob ihm überhaupt noch jemand helfen konnte, herauszufinden, was die Ursache für die feindliche Stimmung sein konnte, die ihm nahezu überall entgegenschlug. Die automatische Ansage, ein dünnes, nur unschwer als Sprachcomputer zu erkennendes Stimmchen aus dem Nichts, klang so überdreht, als ob der Haltestellenname in viel zu hoher Geschwindigkeit eingespielt worden war. »Kulinarisches Institut/Baumschule« plärrte es in den Nachmittag, und Bergheim schreckte jäh aus seinen trüben Gedanken hoch. Er betätigte die Stopptaste zwei Mal hintereinander, um dem Wunsch Nachdruck zu verleihen, gleich beide Ziele besuchen zu wollen. Der Ausstieg war direkt an einem Waldrand, und während die Reisegruppe ihrem Führer nach links zum Institut zu folgen schien, ging er rechts in Richtung der von Frau Asche erwähnten Baumschule. Weil das erste Stück des Weges direkt an der Ausfallstraße entlangführte, lief er eine Weile neben der Oberleitung, die, obwohl kein Bus mehr zu sehen war, ein gleichmäßig an- und abschwellendes helles Singen von sich gab, wie man es von Bahngleisen kannte, wenn sich ein Zug näherte oder entfernte. Die Abzweigung zur Baumschule führte in einen mit sehr hohen Kiefern und Fichten bestellten Wald hinein, und erst nachdem Bergheim eine Weile in die immer umfassender werdende Dunkelheit gelaufen war, fiel ihm auf, dass keine Wegweiser mehr kamen und auch das Tageslicht unerwartet früh am Nachmittag geschwunden war. Ein Blick auf seine Solararmbanduhr zeigte vier Uhr an und er bemerkte irritiert, dass der Batteriestand gegen null ging. Er versäumte bewusst, der Betriebsanleitung zu folgen und die Uhr im Freien immer über der Manschette zu tragen, weil er es immer noch für unwürdig hielt, seine Armbanduhr wie ein lächerlicher Sonnenanbeter dem Licht entgegenzudrehen. Indem er es absichtlich nicht tat, rebellierte er insgeheim auch gegen alle anderen Vorschriften des »Spurenlosen Lebens«. Der Katalog an Dingen, die zu tun oder zu lassen waren, wuchs in letzter Zeit wirklich über jegliches Maß hinaus, fand Bergheim. Es hatte in seiner Jugend ganz harmlos mit der Abfalltrennung begonnen, war aber spätestens seit der letzten Neuerung, dem Verbot des Fleischverzehrs an allen Wochentagen, die kein oder nur ein N in ihrer Buchstabenfolge führen, um so die Treibhausgase halbwegs unter Kontrolle zu bringen, endgültig ins Alberne gedriftet. Nun war ihm nicht ganz wohl bei der Vorstellung, in einen dunklen Wald zu wandern, ohne die genaue Uhrzeit zu wissen, weil es ihm vorkam, als sei die Tageszeit einer der wenigen verlässlichen Parameter zur Einschätzung der Lage, in der er sich befand. Denn ein sonderbares Phänomen hatte seine Aufmerksamkeit erregt: Obwohl es nach wie vor zwischen Fichten und Kiefern entlangging, entströmte dem Waldboden und den Bäumen ein starker Kampfer- und Eukalyptusduft. Doch nicht der aus synthetischen Ölen, an denen er sich früher regelmäßig mit seinen Studienfreunden an den Wochenenden in der Aromabar berauscht hatte, sondern der überwältigende Geruch frisch...