E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Niehaus / Rehak / Schorm Am Anfang war das Bild
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-949452-16-1
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-949452-16-1
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine phantastische Wechselwirkung zwischen Erzählung und Bild.
Geschichten lassen Bilder entstehen und Bilder Geschichten. Aus diesem Gedanken entstand die Idee, Autor:innen aufzurufen, Erzählungen zu schreiben, die von eigens für diesen Zweck entstandenen Bildern inspiriert sind. Gleichzeitig wollten die Herausgeber:innen Uli Bendick, Aiki Mira und Mario Franke herausfinden, was passiert, wenn ebendiese Geschichten zur Inspirationsquelle werden.
Entstanden ist eine Anthologie, die 18 jeweils von zwei Bildern umrahmte Storys umfasst. Das schön gestaltete gebundene Buch mit Lesebändchen enthält Texte u. a. von Heidrun Jänchen, Achim Stößer, Christian Endres, Isabell Hemmrich.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ONKEL NATE ODER DIE HOHE KUNST, AUS DEM FENSTER ZU SCHAUEN
von Janika Rehak
»Gut so?« Ich rücke den Rollstuhl zurecht. Onkel Nate lächelt. »Bestens. Danke.« Das Licht hier draußen ist etwas Besonderes. Deswegen ist Onkel Nate an diesen Strand gezogen. Geblieben ist er wegen Allison. Es gibt diesen ganz bestimmten Moment, bei einem ganz bestimmten Sonnenstand. Wolken und Meer spielen auch eine Rolle. Die Sonne sinkt auf den Horizont zu und für einen Augenblick haben Wasser und Wolken dieselbe Farbe. Das Licht zerbirst in winzige Sprenkel. Es ist ein lockender Fingerzeig. Eine Verheißung, dass etwas dahinter liegt, dass Wolken, Wasser und Horizont nicht die Grenze sind. Dass es mehr gibt als das. Onkel Nate hat ein komplettes Erwachsenenleben an diesem Strand verbracht. Er ist zum Fischen rausgefahren, noch mit über siebzig. Er weiß, was hinter dem Horizont liegt. Wasser und noch mehr Wasser. Trotzdem sitzt er jeden Abend am Fenster und wartet. Es ist der wichtigste Moment des Tages für ihn. Allison wird zurückkehren. Vielleicht heute. Immer wenn sich die Sonne senkt, flüstert das Licht sein Versprechen. Vielleicht heute. So geht das schon seit fünfzig Jahren. »Junior?!« Onkel Nates Stimme schnarrt durch das Haus. Ich schrecke vom Bildschirm hoch. Sorry, tippe ich in die Eingabezeile. Wichtiger Anruf. Klar, antwortet Erin. Ich haste in Onkel Nates Zimmer. Er hat sich im Bett aufgesetzt, soweit er das selbst kann, sein Körper hängt in 60-Grad-Winkel zwischen den Kissen. Das sieht schrecklich unbequem aus. Ich schiebe meine Arme unter Schultern und Knie und hieve ihn in seinen Sessel. Ich kann jede einzelne Rippe spüren. An seinen Hüftknochen holt man sich blaue Flecken. Seine Stirnfalten glätten sich, als ich den Rollstuhl zum Fenster ausrichte. Er benutzt ihn nur noch selten, das Sitzen strengt ihn an. Sonnenstrahlen beleuchten ihm Kinn und Wangen. Gerade noch rechtzeitig. Eine Minute später wäre der Moment verstrichen gewesen. Da sind Bartstoppeln. Ich war heute Morgen nicht gründlich genug. »Tut mir leid«, sage ich. »Ich habe die Zeit verpasst.« Nate tätschelt meinen Arm. »Wieder dieses Mädchen, hm?« Mein Gesicht wird warm. Das verrät mich. »Triff sie doch mal.« Für Onkel Nate ist immer alles so einfach. Erstens ist Erin kein Mädchen. Sie ist fast dreißig, genau wie ich. Außerdem will sie es langsam angehen lassen. Genau wie ich. Chatten, Nachrichten. Das reicht mir fürs Erste. Erin wohnt gar nicht so furchtbar weit weg. Aber ich kann hier nicht weg. Wegen Onkel Nate. Erin versteht das. Onkel Nate nicht. »Warte nicht zu lange«, sagt er. »Die Liebe ist das Allerwichtigste im Leben.« Ich küsse ihn auf das dünne Haar. »Weiß ich doch.« Dieses Ritual wiederholen wir, jeden Tag. Ein Teil von Onkel Nates Geist lebt immer im Jetzt. Der andere Teil träumt von der Liebe. In dem Moment, wenn sich das Licht auf diese ganz besondere Weise im Meer spiegelt, treffen beide Teile aufeinander und sind für wenige Minuten wieder eins. Onkel Nate wartet auf Allison, auf die Liebe seines Lebens. »Vielleicht heute.« Der Moment verstreicht. Allison kommt nicht. Onkel Nate ist enttäuscht. Man sieht es am Zucken des Augenlids, aber nur wenn man ganz genau hinschaut. »Vielleicht morgen«, tröste ich ihn. Er nickt. »Ja, morgen.« Ich gehe zurück an den PC. Erin ist offline. Dann morgen, denke ich. Ich muss etwa fünf gewesen sein, als Nate mir zum ersten Mal von Allison erzählte. Damals ging ich nahtlos von Märchenbüchern zu Konsolen über, und weil Allison aus einer vollkommen anderen Welt kam, hielt ich sie für eine Art Pixelheldin. Tatsächlich bestand sie in meiner Fantasie aus tausenden kleinen Quadraten. Trotzdem war sie wunderschön, das verstand sich von selbst. Man brauchte nur genug Vorstellungskraft. Jeder in der Familie kannte die Geschichte von Allison und jeder hatte ein eigenes Bild von ihr. Sie war Fantasiefigur, Traumgeschöpf und der offizielle Grund, warum Onkel Nate nie geheiratet hatte. Mein Bild von ihr wandelte sich, sie bekam mehr Kontur, je älter ich wurde und je besser die Graphikkarten meines PCs wurden. Sie beherrschte meine Fantasie mehr als jede Pornoseite, und ich schämte mich ziemlich, weil sie ja zu Onkel Nate gehörte. Aber vielleicht sah man es dort, wo sie herkam, nicht ganz so eng. Damals war Allison für mich jedenfalls genauso real wie die Mädchen in meiner Klasse. Oder vielleicht eher wie die Schauspielerinnen im Fernsehen. Sie existierten, waren aber unerreichbar. So gesehen doch kein wirklicher Unterschied zu den Mädchen um mich herum. Irgendwann hörte ich auf, an sie zu glauben. Jedenfalls daran, dass sie zurückkehren würde. Und ich glaube, das ging auch Onkel Nate so. Doch als er alt wurde, ich meine richtig alt, und sein Verstand langsam zu zerfallen begann, da kam die Mauer der Vernunft nicht mehr gegen die Bilder von damals an. Das Langzeitgedächtnis bleibt am längsten erhalten. Das hat mir Doktor Bowers erklärt. Seither sitzt Onkel Nate am Fenster und wartet. Dass ich für die Pflege von Onkel Nate zuständig bin, hatte sich ganz natürlich ergeben. Wir sind beide ungebunden und die Geeks der Familie, wobei das zu seiner Zeit Sonderling hieß. Uns verbindet der Hang zur Phantasterei und wir sehen uns sogar irgendwie ähnlich. Nebenbei heißen wir gleich, wobei ich für alle nur Junior bin. Sonst wäre die Verwechslungsgefahr zu groß. Ich hatte als Kind jeden Sommer am Meer verbracht, baden, rudern, Fliegenfischen, und nach einem Familienkrach war ich einmal für mehrere Monate bei Onkel Nate eingezogen. Ich kenne das Meer, den Strand und auch Onkel Nates Geschichten besser als jeder andere. Wir konnten uns gemeinsam erinnern. Außerdem haben die anderen Kinder, den Job, den Garten, das Sabbatical, zu wenig Platz. Ich habe zwei abgebrochene Bachelor-Abschlüsse und ein kleines Online-Start-Up. Ich kann von überall arbeiten. Genauer gesagt: Ich kann überall auf Aufträge warten, die nicht kommen. Jetzt wohne ich im selben Zimmer wie damals, mit Blick auf die Dünen. Den Meerblick beansprucht Onkel Nate und das ist okay. Ich habe ein Bett, eine Kommode und ein Regal, das ich nicht benutze. Den Klapptisch habe ich aus dem Keller geholt, er dient jetzt als Schreibtisch. Am liebsten sitze ich aber auf dem Bett, das Notebook auf den Oberschenkeln, und spiele Simulationsspiele. Oder ich chatte mit Erin. Mein Profilbild ist schmeichelhaft. Ihres bestimmt auch. Das Haus riecht wie früher, nach Salzluft und Seetang und ein bisschen nach totem Fisch. Früher lagen immer Zitronen bereit. Damit wusch Onkel Nate sich die Hände. Der süßsaure Duft fehlt mir. Die Möbel passen nicht wirklich zusammen, trotzdem hat jedes Stück seinen Platz. Die Dielen knarren, die Feuchtigkeit hat sich festgesetzt, das Fundament ist aufgequollen. Es müsste eine Menge am Haus gemacht werden. Über die Jahre haben sich viele Kleinigkeiten aufsummiert. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll. Mit Onkel Nate ist es mehr oder weniger dasselbe. Die Demenz bringt ihn nicht um. Doch viele kleine Leiden machen seinen Körper zu einer Großbaustelle. »Lohnt sich nicht mehr.« Er lacht, wenn er das sagt, meint es aber vollkommen ernst. Ich weiß nur nicht immer, wovon er redet. Vom Haus. Oder von sich selbst. Im Schuppen ist der Fischgeruch am stärksten. Dort stehen die Schätze von früher. Das Boot, die Netze, alte Planen, Eimer und Köder, verschiedene Messer zum Ausnehmen. Auf dem Foto an der Wand hält er stolz einen riesigen Barsch in die Kamera. Er sieht zufrieden aus, kraftvoll und drahtig. Dieses Bild dokumentiert unsere angebliche Ähnlichkeit und könnte die Unterschiede nicht deutlicher hervorheben. Die Nase kommt hin, das Kinn auch, und wir haben die gleichen grauen Augen. Onkel Nate strahlt auf dem Bild vor Vitalität. Er geht fischen und wartet auf Allison. Das ist seine gesamte Passion. Und es reicht. Ich bin ein blasses Abziehbild von ihm. Kein Sport, kein Job, kein Plan. So viel zur Ähnlichkeit. »Regen«, sagt Onkel Nate beim Aufstehen. Ich verteile den Rasierschaum sorgfältig auf seinen Wangen. »Vielleicht klart es auf.« »Nee.« Er sieht verdrießlich...