E-Book, Deutsch, 318 Seiten
Niese / Wildermuth / Bindschedler Heilige Nacht in den Bergen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-475-54560-3
Verlag: Rosenheimer Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 318 Seiten
ISBN: 978-3-475-54560-3
Verlag: Rosenheimer Verlagshaus
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Der Orgelpeter
Die meisten können keine Drehorgeln vertragen. Dem einen belästigen sie die Nerven, den anderen machen sie melancholisch, und der dritte ärgert sich über den Orgelspieler selbst. Deshalb hatte auch der Orgelpeter eine schwierige Stellung in der kleinen Eifelstadt. Seine Drehorgel besaß nämlich den denkbar schrecklichsten Ton. Eigentlich war es schon kein Ton mehr, sondern nur ein gurgelndes Gequieke, das geradezu nervig und ohrenbetäubend wirkte und mit einer Melodie keine Ähnlichkeit mehr besaß. Spötter behaupteten, die Orgel spiele überhaupt nicht mehr, es seien nur die Hunderte von Mäusen, welche in ihr hausten, deren Stimmen man vernehme. Jedenfalls war die Stellung des Orgelpeters eine schwierige, denn alles lief fort, sobald er mit seinem elenden Instrument erschien, und nur die kleinen Jungs beachteten ihn so weit, dass sie ihn mit Steinen bewarfen. Spott und Steinwürfe konnte er schon ertragen, an beides war er gewöhnt; aber niemand gab ihm mehr einen Pfennig, und der Hunger tat weh. Früher war es der alten Drehorgel doch gelungen, diesen bösen Feind von Peter fortzuhalten. Viele Jahre hindurch hatte sie mit ihrem Herrn jeden Markt in der Vordereifel besucht, und manch blanker Taler war durch sie verdient worden, nun aber konnte sie nicht mehr, so viel Mühe sie sich auch gab, und Peter musste einsehen, dass es mit ihr nicht mehr ging. Was sollte er aber ohne seine Drehorgel anfangen? Er war alt, lahm, und, wie die Leute sagten, sehr dumm. Da ist es schwer, sich auf eine neue Hantierung zu besinnen. Als er nun eines Tages wieder die Orgel draußen vor der Stadt gespielt und Spott und Hohn geerntet hatte, setzte er sich gar trübselig auf die Schwelle eines Heiligenhäuschens und blickte durch das Gitter nach der lebensgroßen Figur des heiligen Petrus, welcher, den Schlüssel in der Hand, ernsthaft und aufgerichtet in einer Mauernische stand. Vor ihm brannten einige Kerzen und warfen einen flackernden Schein in das hölzerne Gesicht des Heiligen, ihm einen absonderlichen Ausdruck gebend. Der Orgelpeter war zwar ein guter katholischer Christ und beichtete jedes Ostern seine Sünden so gut, wie er’s verstand, aber über die lieben Heiligen im Himmel hatte er selten nachgedacht. Jetzt fiel ihm plötzlich ein, dass Sankt Petrus sein Schutzpatron sei und ihm gewiss helfen würde, wenn er ihn nur bäte, deshalb zog er schnell seine Mütze vom Kopf, faltete die steifen, gichtigen Hände und kniete vor dem Gitter nieder. „Heiliger Petrus!“, sagte er, „bitt für mich, und hilf mir in meiner Not! Darfst es nicht übel vermerken, dass ich dich so lange gar nicht angesprochen hab’, aber ich mag die Leute nicht mehr inkommodieren als nötig. Weißt ja auch, dass ich Peter heiß’ nach dir, und ich mein’, dass du mir daher schon was zu Gefallen tust! Schau her – es ist armselig um mich bestellt, hab’ kein Brot und kein Geld, und die Leute spotten mich aus mit meinem Orgelchen. Sie ist noch gar nicht so übel und für mich lange gut – meine Mutter selig hat schon an ihr gedreht – aber heutzutage soll alles fein sein! Heiliger Petrus, zwei Kerzen will ich dir anzünden, wenn du mir hilfst, und die Kappe will ich jedes Mal ziehen, sobald ich hier vorübergehe, und wenn ich’s auch oft vergessen hab, so war’s nicht bös gemeint!“ Peter hatte sehr eifrig und eindringlich gesprochen, ohne die Augen zu erheben – jetzt sah er scheu in das unbewegliche Gesicht des Heiligen, als würde er eine Antwort erwarten. Aber diese blieb aus. Die brennenden Kerzen flackerten unruhig im Winde, und einige Schatten huschten über das Bildwerk – das war alles. Peter aber stand erleichtert auf. Ein so langes Gebet hatte er noch niemals gesprochen, und er fand, dass er seine Worte gut gewählt hatte. Er ging zufrieden in sein dunkles, feuchtes Kämmerlein und würde sich gar nicht gewundert haben, wenn in demselben Augenblick der heilige Petrus ihm dort mit einer neuen Drehorgel auf dem Arm entgegengetreten wäre. Aber es blieb alles beim Alten: seine Orgel ward nicht besser, der Verdienst immer elender, und der Orgelpeter fühlte sich täglich unglücklicher. Zuerst ging er alle Tage an dem Heiligenhäuschen vorüber und nickte dem Sankt Petrus vertraut zu, als wenn er ihn an seine Bitte erinnern wollte. Mehrmals sogar setzte er sich mit seiner Orgel auf die Stufen der kleinen Kapelle und spielte ganz gotteserbärmlich, bis die Polizei ihn fortjagte. Aber der Heilige schien taub für Gebet und Musik. Peter hörte endlich mit beidem auf und nahm es eigentlich übel, dass Petrus ihn so schlecht behandelte. Eines Tages ging er sogar zum Kaplan und verklagte seinen eigenen Schutzheiligen. „Ich weiß gar nicht, was ich dem Herrn Petrus getan hab’!“, sagte er. „Da geh’ ich und bitt’ und bitt’, und er ist ganz taub geworben. Und ich hab’ ihn sonst nie um etwas gebeten – ich meine doch, er könnt’ mir mal einen Gefallen tun. Nun will ich einen andern Herrn bitten, mir ein’ neue Drehorgel zu geben, und Ihr sollt mir sagen, wer’s am ersten tut!“ Der Herr Kaplan suchte den armen, lahmen Peter zu trösten. So leicht, sagte er, ginge es niemals mit der Erfüllung von Wünschen und Gebeten, denn die Heiligen hätten viel zu tun und könnten sich nicht immer um die einzelnen Menschen kümmern. Der junge Geistliche sprach sanft und freundlich mit dem Alten, aber dieser machte ein verdrießliches Gesicht. „Wenn Ihr mir nicht einen andern heiligen Mann sagen könnt, der mir meine Bitten erfüllt, dann geh’ ich zum Herrn Dechanten. Der ist neulich an mir vorübergegangen und hat mir einen Groschen geschenkt!“ Da lächelte der Kaplan unwillkürlich, holte ein Zwanzigpfennigstück aus seiner Tasche und reichte es dem Orgelpeter. Dann blickte er sich in seinem bescheiden eingerichteten Zimmerchen um, nahm ein Bild von der Wand und reichte es Peter. „Dies ist das Bild des Aloysius“, sagte er; „du weißt doch, Peter, dass der heilige Aloysius der Schutzpatron aller ehrsamen Junggesellen ist? Er ist auch eines schrecklichen Todes gestorben, weil er sich nicht verheiraten wollte. Ich will dir das Bild schenken, Peter, vielleicht hilft dir der heilige Aloysius.“ Der Orgelpeter nickte zufrieden, brummte nur einen unverständlichen Dank, nahm das eingerahmte Bild unter den Arm, steckte das Zwanzigpfennigstück in die Tasche und ging nach Hause. Dort schlug er in seinem armseligen Zimmerchen einen Nagel in die Wand, über dem Platze, wo die alte Drehorgel stand, und hing den heiligen Aloysius daran auf. Er war sehr stolz auf seinen neuen Heiligen, und sein Freund Fridolin musste gleich kommen und den neuen Zimmerschmuck bewundern. Fridolin war ein kleiner achtjähriger Junge, der mit seiner Mutter in demselben Häuschen wie Peter wohnte. Er hatte noch niemals über Peter gelacht, oder über die arme Orgel gespottet, und deshalb empfand der alte Mann soviel Zuneigung zu dem Knaben, wie überhaupt Platz in seinem alten, vertrockneten Herzen war. Fridolin betrachtete also ehrfürchtig das Bild des guten Heiligen, aber er war in Hunger und Kummer groß geworden und daher für sein Alter altklug und misstrauisch. „Der Aloysius hat viel zu tun in der Welt!“, meinte er, nachdem er sich eine Zeitlang besonnen hatte. „Ich hab schon von ihm gehört, aber die Mutter sagt, das Heiraten kommt aus der Mode, denn alle Männer wollen Junggesellen bleiben! Pass nur auf, Peterchen, dass du deine Worte schön stellst, sonst hört dich der Aloysius nicht!“ Aber Peter war überzeugt, dass der Heilige nur auf eine Gelegenheit wartete, um ihm einen Gefallen zu tun, und dass er in den nächsten Tagen eine neue Drehorgel erhalten werde. Daher brummte er nur in den Bart, dass der Fridolin ein dummer Bub sei und von dem heiligen Aloysius durchaus nichts wissen könne. In demselben Augenblick rief die Mutter des Knaben von unten her, und Fridolin, welcher nicht allein zur Schule ging, sondern auch Lumpen und Knochen sammelte, verließ den alten Peter, um seinem Gewerbe nachzugehen. In den Straßen der kleinen Stadt spielten täglich viele Kinder, so dass man unwillkürlich denkt, alle Knaben und Mädchen hätten nichts anderes zu tun, als zu kreiseln, Versteck zu spielen, oder mit Steinen das Obst von den Bäumen herabzuwerfen. Aber Fridolin spielte niemals. Er musste seiner Mutter bei allen häuslichen Hantierungen helfen, und wenn sie ausging, um Lumpen und Knochen zu verkaufen, dann hütete er sein jüngstes Schwesterchen. Manchmal leistete der Orgelpeter ihm dabei Gesellschaft, aber seitdem er das Bild des heiligen Aloysius bekommen hatte, bekümmerte er sich nicht mehr um Fridolin und erwartete täglich seine neue Orgel. Aber der Heilige musste wirklich viel zu tun haben, denn obgleich Peter ihn seit dem Frühjahr inständig um die Gewährung seines Wunsches bat, so verging doch der ganze Sommer, ohne dass er sich auch nur das Geringste merken ließ. Es wurde Herbst, und an den Bergabhängen brannten schon die Feuer vom Kartoffelkraut, aber Peter wartete noch immer auf seine neue Orgel. Er wurde recht ungeduldig und mürrisch, und als er eines Tages wieder vor dem Heiligenhäuschen am Tor saß und bitterlich weinte, da sammelte sich eine ganze Menschenschar um ihn und hörte, halb mitleidig, halb lachend, seine traurige Geschichte. Das Bild des heiligen Aloysius war von der Wand auf seine Drehorgel gefallen, Rahmen und Glas waren zersplittert, und auch das Angesicht des Heiligen hatte Schaden genommen. Nun war es klar: die Heiligen im Himmel bekümmerten sich nicht um den Orgelpeter und wollten von seiner Bitte nichts wissen. Der Alte schluchzte laut, als er an diesen Satz kam, und man merkte es ihm an, wie sehr ihm die Sache zu Herzen ging. Er wollte sich auch nicht trösten lassen, als ihm eine oder die andere mitleidige Seele ein kleines...