Buch, Deutsch, 370 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 463 g
Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert
Buch, Deutsch, 370 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 463 g
ISBN: 978-3-593-38489-4
Verlag: Campus
Atomforschung und Volkskunde, Vitamine und Eugenik sind wissenschaftliche Themen, die durch öffentliche Kommunikation mit konstituiert und geformt wurden. Denn was Wissenschaft ist, wird nicht allein an den Orten der wissenschaftlichen Praxis entschieden, sondern auch in der Öffentlichkeit. In diesem Band wird anhand der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt, welchen Gewinn beide Seiten aus dem wechselseitigen Austausch ziehen.
Die Publikation 'Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander' auf den Seiten des Deutschen Museums
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Vorwort 9
Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als
Beziehungsgeschichte: Historiographische und systematische
Perspektiven
Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher 11
I. Wissenschaftsvermittlung zwischen Push und Pull
Der lange Weg zum neuen Bild des Atoms
Zum Vermittlungssystem der Naturwissenschaften zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik
Arne Schirrmacher 39
"Vitaminfragen - kein Vitaminrummel?"
Die deutsche Vitaminforschung in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit
Ulrike Thoms 75
Neue Wissensofferten, alte Wissensbedürfnisse und verschiedene Transaktionsmodelle: Drei Thesen zum naturwissenschaftlichen
Vermittlungsdiskurs
Arne Schirrmacher/Ulrike Thoms 97
II. Medien der Wissenschaftskommunikation
Künstlerische und technische Propaganda in der Weimarer Republik
Das Atelier der Brüder Botho und Hans von Römer
Anja Casser 113
Wissenschaft - Literatur - Öffentlichkeit
Die Bedeutung der Science-Fiction in den 1970er Jahren
für die öffentliche Debatte zum Klonen
Christina Brandt 137
Populärkultur und Wissenschaft: Science-Fiction und populäres Bild
als Medien der Wissenschaftskommunikation
Christina Brandt/Anja Casser 165
III. Die Öffentlichkeit als Objekt und Adressat von Wissenschaft
"Volkskunde für unser Geld"?
Wissenschaft als Projekt in Zusammenarbeit mit verschiedenen
Öffentlichkeiten
Ina Dietzsch 179
". eine neue, mit dem Volk verbundene Kultur entwickeln"
Laienkunst als Ressource für die Etablierung der Volkskunde
in der frühen DDR
Cornelia Kühn 197
"Bilder vom Volk" - Ressourcen und Karrieren
Wolfgang Kaschuba 217
IV. Können Öffentlichkeiten Wissenschaften machen?
Koalitionen des Nichtwissens?
Welteislehre, akademische Naturwissenschaften und der
Kampf um die öffentliche Meinung, 1895-1945
Christina Wessely 225
Aufklärung durch und mit Beobachtungstatsachen
Otto Neuraths Bildstatistik als Vehikel zur Verbreitung der
wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises
Sybilla Nikolow 245
Öffentlichkeit als epistemologische und politische Ressource
für die Genese umstrittener Wissenschaftskonzepte
Sybilla Nikolow/Christina Wessely 273
V. Werte der Öffentlichkeit, Deutungsangebote der Wissenschaft
"We cannot wait until all doubts are removed"
Eugenische Kriminalitätsdiskurse und die britische Öffentlichkeit,
1900-1935
Sabine Freitag 289
Zwischen Aufklärung und Sittlichkeit
Zum Spannungsverhältnis von Eugenik und Öffentlichkeit im
katholischen Milieu im Österreich der Zwischenkriegszeit
Monika Löscher 319
Vereine als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit
Sabine Freitag/Monika Löscher 339
Ausblick
Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) als Ressourcen füreinander Weiterführende Bemerkungen zur Beziehungsgeschichte
Mitchell G. Ash 349
Autorinnen und Autoren 365
Namensregister 369
Die Frage, was Wissenschaft ist, wird nicht allein an den Orten der wissenschaftlichen Praxis entschieden, sondern auch in der Öffentlichkeit. Das gilt nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Die Wissensproduktion war in unterschiedlichem Maße seit ihrem historischen Ursprung von ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit geprägt. Da die Öffentlichkeit an der Definition und Abgrenzung dessen, was und was nicht als Wissenschaft gelten durfte, immer schon mitbeteiligt war und der Wissenschaft dadurch gesellschaftliche Anerkennung verschaffte oder vorenthielt, haben sich beide Bereiche in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander entwickelt. Auch wenn das, was heute in demokratischen Gesellschaften als Öffentlichkeit bezeichnet wird, sich erst im bürgerlichen Zeitalter herausgebildet hat, ist die Produktion von Wissen von Beginn an durch ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontext geprägt worden, in dem ihre Praxis eingebettet war. Die Betrachtung der Beziehung von Wissenschaft und Öffentlichkeit erlaubt daher auch Einblicke in die Gesellschaft der entsprechenden Epoche. Kontext der Wissenschaft konnten und können für bestimmte Zeiten und Orte Bereiche wie Religion, Politik oder Wirtschaft sein. Von dort schöpften Wissenschaftler Motivationen für ihre Forschung, aus diesen Gesellschaftsbereichen wurden aber auch bestimmte Erwartungen, Nachfragen und Bedürfnisse an sie herangetragen.
Die Besonderheiten des Beziehungsgeflechts aus Wissenschaft und Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft sind kein Sonderfall der Geschichte, sondern kennzeichnen gravierende Veränderungen auf beiden Seiten. Die verbreitete Rede von der Öffentlichkeit erscheint unangemessen, aber auch der bloße Verweis auf sektorale Öffentlichkeiten ist nicht hinreichend, um über das Publikum der Wissenschaft Aufschluss zu gewinnen. Wissenschaft und die aus und parallel zu ihr hervorgegangene Technik waren stets selbst daran beteiligt, den öffentlichen Kommunikationsraum auszuweiten, zu vervielfältigen und zu fragmentieren. Die sich hier formierenden Öffentlichkeiten existieren indes nicht als eigenständige, unverwechselbare und beständig festgelegte Akteure. Sie realisieren sich erst in der Praxis durch Prozesse der Kommunikation. Daher liegt es nahe, den Vermittlungs- und Verbreitungsmedien ein besonderes Gewicht in der historischen Analyse zu geben. In diesem Vorgang gewannen die Wissenschaften im 20. Jahrhundert gerade auch mit Hilfe der Medien an öffentlichem Ansehen. Dieses öffentliche Bild blieb aber auch nicht von negativer Kritik verschont, hatten doch die Wissenschaften gerade in diesem Jahrhundert mit den vielleicht größten Vertrauenskrisen in ihrer Geschichte zu kämpfen.
Der vorliegende Band versucht, sich aus drei Perspektiven dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit zu nähern: Er plädiert erstens für eine konsequente Historisierung und Kontextualisierung der Beziehungsgeschichte zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit mit Hilfe von Fallstudien und vergleichenden Analysen, die das Ziel verfolgen, das komplexe Beziehungsgeflecht herauszuarbeiten. Dabei geht der Blick auf die Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit immer in beide Richtungen. Gesucht wird nach der Mobilisierung von Ressourcen füreinander, einem Prozess, in dem beide Seiten eng miteinander verbunden sind. Betrachtet werden verschiedene Wissenschaftsobjekte (Atome, Vitamine), Wissensfelder (Eugenik, Volkskunde) sowie Konzepte und wissenschaftliche Weltentwürfe, wie sie von den Wissenschaften im Zusammenspiel mit dem jeweiligen adressierten und interessierten Publikum - das durchaus differieren konnte - entwickelt wurden.
Zweitens werden dabei verschiedene Öffentlichkeiten in ihrer Haltung zu ähnlichen wissenschaftlichen Praktiken und Wissensbeständen diachron und regional verglichen. Dies ermöglicht zum Beispiel für die Eugenik einen internationalen Vergleich und für die Volkskunde einen historischen Längsschnitt durch verschiedene politische Systeme des 20. Jahrhunderts. Neben der Frage, welche Wissenschaft jeweils mit welcher Öffentlichkeit im konkreten Fall in Beziehung trat, gilt unser Interesse aber auch den Vermittlungsprozessen selbst, so der Visualisierung und Fiktionalisierung in populären Medien am Beispiel von Abbildungen und Romanen sowie den Vereinen als gesellschaftlichen Räumen, in denen wissenschaftliche Deutungsmuster mit gesellschaftlichen Werten in Beziehung gesetzt wurden.
Drittens soll mit dem Band der regionale Ansatz bisheriger Beziehungsgeschichten gewinnbringend erweitert werden. Die Beiträge konzentrieren sich dabei auf das 20. Jahrhundert und die der wissenschaftlichen Moderne und modernen Gesellschaft vorausgehende Entwicklung. Diese Epoche erscheint besonders aufschlussreich, weil sie allgemein für den Wandel von der vornehmlich bürgerlichen Öffentlichkeit der Wenigen zur demokratischen Öffentlichkeit der Vielen und von einer disziplinär verfassten Wissenschaft zur so genannten postnormalen Wissensordnung der Wissensgesellschaft steht. Da diese Entwicklung bis an die unmittelbare Gegenwart heranreicht, können die Ergebnisse des Bandes auch dabei helfen, den aktuellen Debatten über ein angemesseneres Verhältnis zwischen Wissenschaften und ihren Öffentlichkeiten die relevante historische Grundlage zu geben.