E-Book, Deutsch, Band 475, 224 Seiten
Reihe: Gulliver Taschenbücher
Nöstlinger Maikäfer, flieg!
Neuausgabe mit neuem Einband 2011
ISBN: 978-3-407-74298-8
Verlag: Beltz, J
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich. Roman
E-Book, Deutsch, Band 475, 224 Seiten
Reihe: Gulliver Taschenbücher
ISBN: 978-3-407-74298-8
Verlag: Beltz, J
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Familiengeschichte aus dem Nachkriegs-Wien, voll Komik und Tragik. Eine Pulverlandgeschichte, die wirklich passiert ist. Sie handelt von sehr verschiedenen Menschen, aber auch von Trümmerbergen, in der Hauptsache aber von der Freundschaft, die ein neunjähriges Mädchen mit einem russischen Koch verbindet. Cohn, der Soldatenkoch aus Leningrad, wird zum Symbol der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit.
Christine Nöstlinger, geb. 1936, lebte in Wien. Sie veröffentlichte Gedichte, Romane, Filme und zahlreiche Kinder- und Jugendbücher die mit vielen, auch internationalen Preisen ausgezeichnet wurden. Für ihr Gesamtwerk wurde sie mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet. Sie starb am 28. Juni 2018.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
Das Haus
Die Großmutter · Der Radiokuckuck
Die Hannitante
Silberne Perlenketten vom Himmel
Ich war acht Jahre alt. Ich wohnte in Hernals. Hernals ist ein Bezirk von Wien. Ich wohnte in einem grauen, zweistöckigen Haus. Im Parterre, die letzte Tür. Hinter dem Haus war ein Hof. Mit Abfallkübeln, mit einer Klopfstange und einem Hackstock2). Und hinten im Hof, an der Klofenstermauer, stand ein Zwetschkenbaum. Aber Zwetschken waren nie auf ihm. 2) Diese Geschichte spielt in Wien. Notwendige Dialektformen, vor allem in der wörtlichen Rede, dürften dem Leser verständlich genug sein, so dass Worterklärungen nicht notwendig sind. Namen oder Begriffe aus der Zeit vor und nach 1945, die jungen Lesern nicht immer geläufig sein können, erklärt jedes Lexikon. Unter unserem Haus war ein Keller. Der größte und beste Keller im ganzen Häuserblock. Gute Keller waren wichtig. Gute Keller waren wichtiger als schöne Wohnzimmer und vornehme Schlafzimmer. Wegen der Bomben. Es war Krieg. Es war schon lange Krieg. Ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern, dass einmal kein Krieg gewesen war. Ich war den Krieg gewohnt und die Bomben auch. Die Bomben kamen oft. Einmal habe ich die Bomben gesehen. Ich war bei meiner Großmutter. Die wohnte auch in unserem Haus. Im Parterre, die erste Tür. Die Großmutter war schwerhörig. Ich saß mit der Großmutter in der Küche. Die Großmutter schälte Erdäpfel und schimpfte auf die Erdäpfel und auf den Krieg. Sie sagte, vor dem Krieg hätte sie der Gemüsefrau solche dreckigen, fleckigen Erdäpfel an den Kopf geschmissen. Die Großmutter zitterte vor Wut über die schwarzfleckigen Erdäpfel. Die Großmutter zitterte oft vor Wut. Sie war eine wilde Frau. Neben der Großmutter, auf der Küchenkredenz, stand das Radio. Das Radio war ein Volksempfänger, ein kleiner schwarzer Kasten mit einem einzigen, roten Knopf. Der war zum Anstellen, Abstellen, zum Leiserdrehen und zum Lauterdrehen. Der Volksempfänger spielte Marschmusik, dann hörte die Marschmusik auf, eine Stimme sagte: »Achtung, Achtung! Feindliche Kampfverbände im Anflug auf Stein am Anger!« Nachher war keine Marschmusik mehr. Die Großmutter schimpfte weiter auf die Erdäpfel und den Krieg; jetzt auch auf den Blockwart. Sie war ja schwerhörig. Sie hatte die Durchsage im Radio nicht verstanden. Ich sagte: »Großmutter, die Flieger kommen.« Ich sagte es nicht sehr laut. Ich sagte es so, dass es die Großmutter nicht hörte. Wenn die Flieger erst in Stein am Anger waren, war es nämlich noch gar nicht sicher, ob sie nach Wien flogen. Sie konnten noch woandershin abbiegen. Ich wollte nicht umsonst in den Keller laufen. Die Großmutter rannte immer schon in den Keller, wenn die Flugzeuge in Stein am Anger waren. Sonst, wenn meine Mutter oder meine Schwester oder mein Großvater zu Hause waren und ihr sagten, dass die Flieger kommen. Die Flieger bogen nicht ab. Kreischend kam es jetzt aus dem Volksempfänger: »Kuk kuk kuk kuk kuk kuk ...« Das war das Zeichen, dass die Bombenflugzeuge auf Wien zuflogen. Ich ging zum Fenster. Auf der Gasse lief die Hannitante. Die Hannitante war eine alte Frau. Sie wohnte drei Häuser weiter und der Krieg und die Bomben hatten sie verrückt gemacht. Unter dem einen Arm trug die Hannitante ein hölzernes Klappstockerl, unter dem anderen Arm trug sie eine zusammengerollte karierte Decke. Die Hannitante lief und rief dabei: »Der Kuckuck schreit! Leut, der Kuckuck schreit!« So rannte sie bei jedem Bombenangriff um den Häuserblock, immer wieder rund um den Häuserblock. Sie wollte einen sicheren Keller finden. Aber kein Keller war ihr sicher genug. Sie rannte keuchend, zitternd, »kuckuck« schreiend, bis der Bombenangriff vorüber war. Dann ging sie nach Hause, klappte gleich hinter der Wohnungstür das Klappstockerl auf, setzte sich, legte die karierte Decke auf die Knie und wartete, bis der Radiokuckuck wieder zu schreien anfing Die Hannitante lief also am Küchenfenster der Großmutter vorbei und gleich darauf begannen die Sirenen zu heulen. Die Sirenen waren auf den Häuserdächern und heulten scheußlich. Das Sirenengeheul hieß: Die Flieger sind da! Meine Großmutter war gerade dabei, die wenigen guten Erdäpfel mit dem Riesenhaufen aus Schalen, verfaulten Stücken und schwarzen Brocken zu vergleichen. Nun verfluchte sie nicht mehr die Gemüsefrau und den Blockwart, sondern den Gauleiter, das Schwein, und den Hitler, den Wahnsinnigen, der uns das alles eingebrockt hatte. »Einbrocken tun’s einem die sauberen großkopferten Leut, und auslöffeln können’s wir, die armen Hund! Mit uns kann ja jeder machen, was er will!«, schimpfte die Großmutter. Als die Sirenen zu heulen begannen, hielt die Großmutter an und fragte: »Heulen net die Sirenen?« Ich sagte: »Nein, nein!« Ich musste »nein« sagen. Ich konnte mit der Großmutter nicht in den Keller gehen. Sie war zu wütend, zu zornig. Die Großmutter hätte im Keller weitergeflucht. Auf den Herrn Blockwart, den Hitler, den Goebbels, den Gauleiter und die Gemüsefrau, und das durfte die Großmutter nicht. Die Großmutter hatte schon viel zu oft geschimpft. Und viel zu laut. Das kam davon, weil sie schwerhörig war. Schwerhörige Leute reden oft zu laut. Und die Großmutter grüßte auch nie mit »Heil Hitler«. Unten im Keller aber saß jetzt die Frau Brenner aus dem ersten Stock. Sie grüßte immer mit »Heil Hitler«. Die Frau Brenner hatte schon ein paar Mal gesagt, dass solche Frauen wie meine Großmutter bei der Gestapo angezeigt gehören. Weil sie nicht an den Sieg des deutschen Volkes glauben und weil sie den Krieg nicht gewinnen helfen und weil sie gegen den Führer sind. Ich hatte Angst vor der Frau Brenner. Darum sagte ich nichts von den Sirenen. Die Großmutter stellte die Erdäpfel auf den Gasherd. Sie wurde freundlicher, weil die Gasflamme schön groß und hellblau brannte. Das war seltsam. Das kam davon, weil niemand im ganzen Bezirk kochte. Alle saßen in den Kellern. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Nur weit oben, bei der Kalvarienberggasse, lief die Hannitante. Ganz leise hörte ich ihr »Der Kuckuck schreit! Der Kuckuck schreit!« Ich schaute zum Himmel. Der Himmel war vergissmeinnichtblau. Und dann sah ich die Flieger. Es waren sehr viele. Ein Flugzeug flog an der Spitze. Dann kamen zwei und dahinter drei und dahinter noch viele. Die Flugzeuge waren schön. Sie glitzerten in der Sonne. Dann ließen die Flugzeuge die Bomben fallen. Das hatte ich noch nie gesehen. Sonst war ich ja immer im Keller unten. Im Keller ist das anders. Man sitzt und wartet. Und dann saust es in der Luft und die Leute ziehen die Köpfe ein und dann kracht es und dann ist es wieder still. Und dann sagt einer: »Das war aber nah!«, und die Leute heben die Köpfe wieder und freuen sich, dass die Bombe woanders eingeschlagen hat und dass ihr Haus noch steht und dass sie am Leben geblieben sind. Aber jetzt sah ich die Bomben. Die Flugzeuge ließen so viele Bomben so schnell hintereinander aus ihren Bäuchen, dass es aussah, als hinge aus jedem Flugzeug eine dunkelgraue, glänzende Perlenkette. Und dann zerrissen die Perlenketten, die Bomben zischten herunter. Sie waren sehr laut. Sie waren lauter als alles, was ich bisher gehört hatte. Sie waren auch für die Großmutter laut genug. Die Großmutter packte mich und wollte mich vom Fenster wegziehen. Sie schrie: »G’schwind, renn! In den Keller! G’schwind!« Ich konnte nicht laufen. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich hielt mich ans Fensterbrett geklammert. Die Großmutter zerrte mich vom Fensterbrett weg. Sie schleppte mich durch die Küche, über den Gang, zur Kellertür. Die Bomben fielen noch immer. Der Lärm wurde noch größer. Der Lärm drückte gegen den Kopf. Er sauste in den Ohren. Er brannte in der Nase. Er machte den Hals ganz eng. Die Großmutter stieß mich die Kellerstiege hinunter. Sie stolperte hinter mir her, sie fiel auf mich. Wir rutschten zusammen über die ausgetretenen Kellerstufen. Hinter uns krachte die Kellertür ins Schloss. Wir saßen auf der untersten Kellerstufe. Das Kellerlicht war ausgegangen. Es war finster. Ich lehnte an der Großmutter. Die Großmutter zitterte. Die Großmutter schluchzte. Über uns sauste und krachte es. Die Kellertür schwang auf und fiel wieder zu und ging wieder auf und krachte wieder ins Schloss. Plötzlich war es still. Die Großmutter hörte zu schluchzen und zu zittern auf. Mein Kopf lag auf ihrer dicken, weichen Brust. Die Großmutter streichelte mich. Sie murmelte: »Aber sie fliegen doch schon fort! Sie fliegen doch schon fort!« Dann heulte die Entwarnungssirene. Die Entwarnungssirene hatte einen angenehmen, sanften, lang gezogenen Klang. Hinten, am Ende vom Kellergang, wurde es hell. Das war die große Taschenlampe vom Hausvertrauensmann. Ich hörte seine Stimme: »Leut! Bewahrt s’ Ruhe! Ich geh nachschauen! Nur keine Panik nicht, bitt’ schön!« Die Großmutter und ich stiegen mit dem Hausvertrauensmann die Kellerstiege hinauf. Unser Haus war ganz geblieben. Nur ein paar Fensterscheiben waren zerbrochen. Vom großen Luftdruck, den die Bomben erzeugten, wenn sie herunterfielen. Wir gingen auf die Straße. Aus anderen Haustoren kamen auch Leute. Oben, bei der Kalvarienberggasse, war eine große Staubwolke. Und unten, beim Gürtel, fehlten das große Haus und das kleine Haus daneben. Der Mann von der Hannitante kam zu uns. »Habt s’ die Hanni gesehen?«, fragte er. Er war sehr grau und sehr müde im Gesicht. Er sagte: »Ich such die Hanni schon die ganze Zeit!« Wir hatten die Hannitante nicht gesehen. Und wir sahen sie auch nie mehr....