E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Nyhan Wenn das Leben dir Tomaten schenkt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25649-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-25649-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Jahre nach dem Unfalltod ihres Mannes ist Paige Moresco noch immer in ihrer Trauer gefangen. Sie ist kaum fähig, ihr Leben zu bewältigen, und als dann auch noch ihr Arbeitsplatz auf dem Spiel steht, weiß sie, dass sie handeln muss - und beginnt zu ihrer eigenen Überraschung, den verwilderten Rasen hinter ihrem Haus umzugraben. Dank unerwarteter Hilfe an ihrer Seite gelingt es ihr, den kleinen Flecken Erde in ein blühendes Paradies zu verwandeln. Und als Paiges Tomaten erste Früchte tragen, spürt sie, dass nicht nur ihr Garten zu neuem Leben erwacht ...
Loretta Nyhan ist eine amerikanische Romanautorin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Chicago.
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2 Um Viertel vor neun erschien ich am Arbeitsplatz, was einem Wunder glich, da ich kein einziges sauberes Kleidungsstück gefunden hatte. Als ich schon so weit war, irgendwas aus der Schmutzwäsche zu klauben und in den Schnellwaschgang zu feuern, entdeckte ich ganz hinten im Schrank ein altes Kostüm, in der Plastikhülle von der Reinigung. Das hatte ich zwar während der Bush-Regierung gekauft (Vater Bush, nicht der Sohn), aber es war sauber und glatt, und mit einem zarten rosa Tuch kombiniert, sah die leichte graue Wolle hübsch aus. Bisschen warm für Mitte Mai, aber im Frühling kann es morgens in Illinois noch ziemlich frisch sein. Das Kostüm ging klar. Meine Firma, Giacomo Werbung und Design, war unlängst in Gossamer Space eingezogen, einem ehemaligen Fabrikgebäude, das man in weiträumige, lichtdurchflutete Lofts umgewandelt hatte. Die vorherige Adresse war weniger glamourös gewesen. Frank Giacomo hatte mich vor siebzehn Jahren eingestellt, als frischgebackene Werbegrafikerin ohne Erfahrung und frischgebackene Mutter (auch ohne Erfahrung). Das hatte ihn nicht gestört. Frank – klein und kugelrund, mehr Goldketten um den Hals als ein Rapper und die ganze Zeit eine Zigarre im Mund – war insgeheim Feminist und besetzte seine Agentur mit klugen, begabten Frauen. Die Mehrheit unserer Kunden stammte aus der Region, da Frank nicht nach Höherem strebte. Ich mochte ihn, weil er Wert auf Stabilität legte, und die Kunden mochten ihn, weil er sie im alten Stil betreute: Er führte sie in gute Restaurants aus, erkundigte sich nach Ehepartnern, Kindern, Tennismatches, schickte zu Weihnachten Geschenkkörbe und erschien zur Beerdigung, wenn jemand verstarb. Jeder mochte Frank, weil er über eine Eigenschaft verfügte, die ihn unwiderstehlich machte: Er kannte sich selbst und mochte sich trotzdem. Früher hatten sich die Räume der Agentur über einem Zahnlabor in der Wright Street befunden, in einem gesichtslosen beigen Bau. Acht Arbeitskabinen in einer Reihe und ein fensterloser Raum für Frank, aber das spielte keine Rolle. Ich bekam jedes Jahr eine Lohnerhöhung und musste nie um meinen Job fürchten. Wenn ich Urlaub brauchte, nahm ich welchen. Wenn Trey krank war, blieb ich zu Hause. Meist rief Frank mittags an, um sich zu erkundigen, wie es dem Kind ging. Letzte Weihnachten, auf unserer alljährlichen Feier im Hinterraum von Marinetti’s Chop House, ging Frank zur Toilette und kam nie wieder. Man fand ihn in einer Kabine, noch mit brennender Zigarre. Die mussten ihm den Kiefer ausrenken, um sie rauszukriegen. Franks großes Herz hatte sich überarbeitet. Damals war Jesse gerade ein Jahr tot. Einen Vater hatte ich nie zu betrauern, da mein eigener schon früh in meiner Kindheit verschwunden war. Doch Franks Tod war eine Katastrophe für mich, und ich spürte Jesses Abwesenheit noch deutlicher. Die meisten Angestellten sprangen ab, als nun die Zukunft der Agentur ungewiss schien, aber ich blieb, weil selbst die Überreste von Franks Firma mir noch ein wenig Halt gaben. Und sie überlebte, weitergeführt von Franks einzigem Nachkommen, Frank junior, der an einer kleinen Privatuni an der Ostküste studiert und danach eine Reihe von Praktika in New York gemacht hatte. Zwei Wochen nach Big Franks Tod kam er ins Büro spaziert, von Kopf bis Fuß New York: Skinny Jeans, schwarze Lederjacke, Designer-Sonnenbrille, blasierter Gesichtsausdruck. Und sichtlich bemüht, die Gene seines Vaters zu kaschieren: die Haare sorgfältig zerzaust, um den Beginn der Glatze zu verbergen, die Finger mit Silberringen gespickt, damit die sizilianischen Arbeiterhände nicht auffielen. Nur das Lachen, viel zu herzhaft für seinen schmalen Körper, ließ sich nicht mäßigen. Dass er Big Frank so ähnelte, veranlasste mich dann auch zu nicken, als Frank junior enthusiastisch verkündete, er werde jetzt alle Veränderungen einführen, von denen sein Vater nur geträumt habe. Big Frank war mir allerdings nie wie ein Träumer erschienen, er war ein Macher gewesen. Aber wenn sein Sohn beides in sich trug, konnte die Agentur überleben. Über die Jahre hatte ich Frank junior gelegentlich gesehen. Er war immer Franks Kind für mich gewesen, bis zur ersten Sitzung mit seinen nervösen Angestellten: mir, der Webdesignerin Jackie, die mit Vorliebe acid-washed Jeans wie in den Achtzigern trug und noch länger in der Firma war als ich, und einer Handvoll junger Leute, die Big Frank eingestellt hatte, als er nach einer Erfolgssträhne beschloss, die Agentur auszubauen: Rhiannon, Seth, Byron und der schüchterne Neuzugang Glynnis. An Frank juniors erstem Arbeitstag hatten wir uns im Büro seines Vaters versammelt, wo es noch nach Zigarrenrauch roch. Frank junior faltete die Hände wie zum Namaste-Gruß und wusste offenbar nicht, was er sagen sollte. Schließlich winkte er uns näher zu sich. »Du wirst das super hinkriegen, Frank«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er beäugte indigniert meine Hand. »Ich ziehe Lukas vor.« »Wie bitte?« »Das ist mein zweiter Vorname«, sagte er rasch. Sein zweiter Vorname lautete George, wie auch bei Big Frank, aber ich widersprach nicht. »Okay, Lukas. Ich denke, ich spreche im Namen aller hier, wenn ich sage, dass wir das Beste für die Agentur erreichen wollen und genauso engagiert wie für Big Frank arbeiten werden. Noch engagierter sogar.« Frank junior alias Lukas beugte sich vor und zog uns alle in eine Gruppenumarmung, für die wir uns fast den Hals verrenkten. »Ihr seid hier, weil ihr an mich glaubt. Ich bin dankbar für euer Vertrauen und verspreche euch«, sagte er mit bewegter, feierlicher Stimme, »nicht nur das Vermächtnis meines Vaters zu bewahren, sondern es weiter auszubauen und unseren alten und neuen Kundenstamm ebenso exzellent zu betreuen, wie er es getan hat.« Jackie schniefte, und auch mir stiegen Tränen in die Augen. Wir lösten die Gruppenumarmung auf, und Lukas schickte uns, beruhigt und beflügelt, zurück an die Arbeit. Nach dieser Rede konnte er sich von mir aus nennen, wie er wollte. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass Big Frank im Universum an seiner Zigarre kaute und knurrte: »Einem alten Hasen kann man nichts vormachen.« Mein Gelaber-Detektor, auf dessen Funktionstüchtigkeit mein ehemaliger Boss größten Wert legte, lief jedenfalls heiß. Doch Lukas startete sofort durch und mietete optimistisch die neuen Räume, mitsamt Konferenzraum und Parkplatz, in der Hoffnung, damit hochkarätige Kunden zu gewinnen. Was tatsächlich funktionierte. Wir konnten sogar eine italienische Gelato-Firma an Land ziehen, die den amerikanischen Markt erobern wollte, einen überregional bekannten Hersteller von Karamell-Käse-Popcorn, einen Betrieb für biologisch abbaubare Wandfarbe und ein Traditionsunternehmen für gusseiserne Kochtöpfe, das sein biederes Image aufpolieren wollte. Big Frank wäre stolz gewesen. Erst ein paar Wochen später wurde mir klar, warum mein Gelaber-Detektor angeschlagen hatte. Jackie und ich saßen auf der Feuertreppe, futterten schweigend eine Tüte Minztaler, und ich dachte zurück an Lukas’ erste Rede. Bei seinen großen Worten über Big Frank, seine Vision und die Kundenpflege hatte Lukas mit keinem Wort erwähnt, dass er auch seine Angestellten exzellent betreuen wolle. Als ich in der Agentur ankam, schwitzend in meinem grauen Wollkostüm, war das erste Zeichen für beunruhigende Vorgänge das Firmenschild. Ich war dabei gewesen, als man unser bisheriges Schild mit der Aufschrift Giacomo Werbung und Design über der Tür angebracht hatte. Jetzt jedoch hing dort ein Schild, auf dem lediglich ein schiefes grelloranges G abgebildet war. »Ist das Schild kaputtgegangen?«, murmelte ich vor mich hin und öffnete die Tür. Das große Loft war erfüllt vom funkelnden Licht eines riesigen Kristalllüsters. Unsere Arbeitskabinen, kürzlich mühsam hierhertransportiert, waren verschwunden. An den Backsteinwänden des großen Raums standen breite, weiß glänzende Tische mit gigantischen Computermonitoren. Unsere bequemen Bürostühle waren durch orange Gummisitzbälle ersetzt worden, sechs an der Zahl. Das Ganze wirkte wie eine Kunstinstallation mit der Überschrift Porträt des modernen Büros. Nirgendwo war auch nur ein einziger persönlicher Gegenstand zu sehen. Wo war mein Foto vom elfjährigen Trey mit Zahnspange? Der Sanddollar, den ich bei unserer letzten Familienreise, einem Spontanausflug nach Florida, an einem Strand in Naples gefunden hatte? Alles Persönliche war aus dem Raum verschwunden. Nur Jackie, wie üblich mit Sneakers, Jeansjacke und heftiger Kriegsbemalung, stand da und starrte mich an wie eine erschrockene Eule. »Wo sind die ganzen Sachen? Und wo sind die ganzen Leute?« Unsere Panik steigerte sich noch, als wir plötzlich Applaus hörten. »Konferenzraum«, sagte ich, packte Jackie an der Hand, und wir hasteten den Flur entlang. Die Tür war zu, aber ich hörte, wie Lukas die Sitzung beendete. »Sollen wir reingehen?«, flüsterte Jackie. Bevor ich antworten konnte, wurde die Tür so abrupt aufgerissen, dass wir fast auf dem Hintern landeten, und heraus kamen unsere Kollegen. Alle hielten einen Karton im Arm, auf dem mit schwarzem Marker ihr Name stand. »Oh Gott, ist die Agentur bankrott?«, sagte Jackie mit zitternder Stimme. »Sind wir alle gefeuert?« Doch die anderen lächelten und unterhielten sich lebhaft. Einige nickten uns zu, waren aber so ins Gespräch vertieft, dass sie uns keines weiteren Blickes würdigten. Die frischen jungen Gesichter strahlten Aufbruchsstimmung aus....