Oberbichler | Autochthone Minderheiten und Migrant*innen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 29, 344 Seiten

Reihe: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte

Oberbichler Autochthone Minderheiten und Migrant*innen

Mediale Argumentationsstrategien von 1990 bis 2015 am Beispiel Südtirols
mit s/w Grafiken
ISBN: 978-3-7065-6107-5
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mediale Argumentationsstrategien von 1990 bis 2015 am Beispiel Südtirols

E-Book, Deutsch, Band 29, 344 Seiten

Reihe: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte

ISBN: 978-3-7065-6107-5
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Freiwillige und unfreiwillige Migrationsbewegungen sind historisch gesehen nicht neu. Damals wie auch heute verändern sie Gesellschaften und bestimmen das Weltgeschehen. Die vorliegende Studie widmet sich der Komplexität des Zusammenlebens alter, also historisch gewachsener, und neuer Minderheiten (Migrant*innen). Wenn in Südtirol von Migrant*innen als neue Minderheiten gesprochen wird, dann deshalb, um diese von den autochthonen deutschen, italienischen und ladinischen Sprachgemeinschaften abzuheben. Die vergleichende Untersuchung der Darstellung der neuen Minderheiten in Bezug auf wirtschaftliche, politische und identitätsstiftende Fragen im Zeitraum von 1990 bis 2015 in der deutsch- und italienischsprachigen Tagespresse Südtirols deckt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Argumentation über Migration und Migrant*innen auf.
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Teil 1
1. Forschungsstand und theoretischer Rahmen
1.1 (Historische) Migrationsforschung
Migration ist in einigen Disziplinen ein gut erforschtes Feld. Der wissenschaftliche Zugang erfolgt jedoch zumeist aus geographischer, politikwissenschaftlicher, ethnologischer, pädagogischer oder soziologischer Perspektive. Solche Arbeiten erforschen das Thema Migration mittels utilitaristischer Ansätze, sie suchen Antworten auf Fragen, die Integration, kulturelle Differenzen oder soziale Unzufriedenheit umfassen sowie Handlungsmöglichkeiten für die Politik aufzeigen. Sie erforschen Migration als gegenwärtiges Phänomen, häufig ohne historische Entwicklungen zu berücksichtigen. Obwohl die historische Migrationsforschung anderen Disziplinen hinterherhinkte, hat sich seit den 1990er-Jahren doch einiges getan. Mittlerweile ist sie zu einem anerkannten Zweig in der Geschichtswissenschaft geworden.21 Diese Entwicklung zeigt sich in der Entstehung von Überblickswerken, Handbüchern oder Enzyklopädien. In diesem Zusammenhang zu nennen sind die Werke von Klaus J. Bade22, die Enzyklopädie von Jochen Oltmer23, Dirk Hoerders globale Geschichte der Migration24 oder das Buch „Migration. Globale Entwicklungen seit 1850“25, herausgegeben von Albert Kraler, Karl Husa, Veronika Bilger und Irene Stracher. Diese migrationshistorischen Arbeiten auf der Makroebene zielen darauf ab, Migration als Normalität und nicht als Sonderfall der Geschichte zu begreifen. Sie verbreiten die Auffassung, dass die Geschichtsschreibung gerade wegen Wanderungsbewegungen über nationale Grenzen hinausgehen müsse.26 Gerade das Verhältnis von Mobilität und Sesshaftigkeit war eine der ersten intensiv diskutierten Fragen der historischen Migrationsforschung, wenn auch die erste Generation von Historiker*innen noch sehr von „sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien“ beeinflusst war und eine Idee der „immobilen Vormoderne“ bei der traditionelle Gesellschaften immobil gewesen seien, verbreitete.27 Ein Beispiel dafür ist Wilbur Zelinsky’s28 Artikel „The Hypothesis of the Mobility Transition“ aus dem Jahr 1971. Klaus. J. Bade und dem von ihm geleiteten Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS)29 ist es jedoch zu verdanken, dass sich der Stellenwert und das Ausmaß der historischen Migrationsforschung in den 1990er-Jahren deutlich verbesserten. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Erforschung der Migrationsgeschichte auch heute noch ein Randphänomen darstellt.30 Historische Migrationsforschung und die Herausforderungen für die Zeitgeschichte Aufbauend auf der Tatsache, dass Hör- und Sichtbarkeit noch lange nicht für alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen gelten und die homogene Vorstellung von Volk, Territorium und Geschichte seit dem 19. Jahrhundert die Geschichtsschreibung über das Andere lange Zeit verdrängt hatte,31 nahm sich das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck mit Dirk Rupnow und Eva Pfanzelter dem vernachlässigtem Thema Migration an. Das Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck öffnete sich somit einem neunen Forschungsschwerpunkt, mit Blick auf die transnationale und globale Geschichte, ohne das Regionale aus den Augen zu verlieren. Wie in Innsbruck üblich, wurde auch die Geschichte des benachbarten Südtirol in das neue Arbeitsfeld aufgenommen. So entstand die vorliegende Arbeit im Rahmen des vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck (in Kooperation mit der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen in Brixen) geleiteten Projektes „(Arbeits-)migration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut“32, das sich die Erforschung der Migrationsgeschichte in Südtirol zur Aufgabe gemacht hat und 2017 erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Die Erschließung von neuen Quellen – im Besonderen Archivmaterial – ist eine der Hauptaufgaben von Zeithistoriker*innen. So haben auch die seit 2013 durchgeführten Migrationsprojekte33 an der Zeitgeschichte in Innsbruck zum Beispiel gezeigt, dass die Geschichte der Migration und Migrant*innen nur unzureichend in den Archiven repräsentiert ist. Zwar kann die Realität der Migrationsgesellschaft nicht mehr geleugnet werden, doch fehlt es häufig an grundlegenden Materialien, da kaum systematisch gesammelt oder vorhandenes Material aus Platzgründen vernichtet wurde.34 Nicht zuletzt bilden Landes- und Staatsarchive in ihren Sammlungen lediglich die hegemoniale Struktur der Gesellschaft ab, während die Geschichten von Migrant*innen ungesehen bleiben.35 Dasselbe trifft auch auf Südtirol zu. Primärmaterialien, mit deren Hilfe sich die Geschichte der modernen Zuwanderung nach Südtirol rekonstruieren ließe, beschränken sich auf Statistiken des Landesinstituts für Statistik, politische Akten des Südtiroler Landtages, Zeitungsberichte oder müssen anhand von Interviews bzw. Umfragen selbst erstellt werden. Migrationsforschung in Südtirol Die Erfassung Südtirols als Einwanderungsland hat sich gerade deshalb in der Südtiroler Geschichtsschreibung noch kaum etabliert und historische Studien zur Südtiroler Einwanderungsgeschichte beschränkten sich bis dato auf die Auswertung statistischer Materialien, wie etwa Rainer Girardis geschichtlicher Abriss zur Migration in Südtirol.36 Dieser ist Teil einer umfassenden Studie37 der European Academy of Bozen/Bolzano (EURAC)38, die 2011 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Migrant*innen in Tirol (ZeMIT)39 herausgegeben wurde und zum ersten Mal das vernachlässigte Thema der Migration in Südtirol und Tirol umfassend aufgegriffen hatte. Dabei fasst das Sammelwerk eine Reihe von Aufsätzen zusammen, die sozial-, politik- sowie rechtswissenschaftliche Zugänge zur Migration in Tirol und Südtirol bieten. Die historische Dimension bleibt aber auch hier ein Randthema. Gleiches gilt für das im Jahr 2013 herausgegebene Buch „Migrationspolitik und Territoriale Autonomie. Neue Minderheiten, Identität und Staatsbürgerschaft in Südtirol und Katalonien“40, herausgegeben von Roberta Medda-Windischer und Andrea Carlà, sowie die Studie „Standbild und Integrationsaussichten der ausländischen Bevölkerung Südtirols. Gesellschaftsleben, Sprache, Religion und Wertehaltung“41, alles Forschungen der EURAC. Diese Publikationen stellen die Migrationspolitik, rechtliche Grundlagen, das Verhältnis zu den autochthonen Minderheiten in Südtirol, sozialwissenschaftliche Studien sowie grenzübergreifende Vergleiche in den Vordergrund, der historische Blick auf das Thema Migration und Südtirol wird jedoch trotz der erstaunlichen Vielfalt an Studien und Untersuchungen weitgehend unberücksichtigt gelassen. Eine Langzeitstudie (1992–2012) und darüber hinaus grenzübergreifende Vergleiche bietet hingegen die 2016 an der University of Leicester erschienene Dissertation von Verena Wisthaler42, ebenfalls Mitarbeiterin des Instituts für Minderheitenrechte der EURAC. In ihrer Arbeit untersucht Wisthaler die Identitätskonstruktion regionaler und nationalistischer Parteien in Korsika, Südtirol, Schottland, des Baskenlandes und Wales und fragt nach der Auswirkung von Zuwanderung auf die Bildung von kollektiven Identitäten in Minderheitengebieten. Als Basis dienten der Autorin Parteiprogramme, Parlamentsdebatten, thematische Dokumente zur Einwanderung, Integrationspolitiken sowie Gesetze. Der lange Untersuchungszeitraum erlaubte es Wisthaler, auf Veränderungen des politischen Diskurses im Laufe der Zeit einzugehen und somit historische Entwicklungen aufzuzeigen. Auch mit Identitätsbildungen, internationalen Vergleichen sowie der Frage nach Abgrenzung und Inklusion von Migrant*innen in Minderheitengebieten (Südtirol und Katalonien; Südtirol und Québec) beschäftigen sich Christina Isabel Zuber43 sowie Lorenzo Piccoli.44 Die Befunde internationaler Vergleiche können wie folgt zusammengefasst werden: Während in Südtirol und Korsika Migration als ein überwiegend negatives Phänomen wahrgenommen wird, überwiegen im Baskenland, in Wales und Schottland positive Diskurse. Zuwanderung wird dort – berücksichtigt werden müssen allerdings die Publikationsdaten der Untersuchungen, die vor der letzten Massenmigration 2015 liegen – als Chance und Bereicherung erkannt, während in Südtirol und Korsika Migrant*innen problematisiert sowie als Belastung und Gefahr für die öffentliche Sicherheit, das Sozialsystem und die nationale Identität wahrgenommen werden.45 Der Vergleich mit Katalonien hat darüber hinaus gezeigt, dass Migrant*innen dort als eine Chance für Unabhängigkeitsprojekte wahrgenommen werden, während dies in Südtirol nicht der Fall ist.46 In Québec und Südtirol überwiegt die Sorge um die nationale Identität, womit die Anpassung von Migrant*innen an die eigene Minderheitengruppe – besonders durch das Erlernen der Sprache – als überlebenswichtig erachtet wird.47 Keine dieser Studien vergleicht jedoch die Wahrnehmung von Migration der verschiedenen Sprachgruppen innerhalb Südtirols. Gerade dieser Vergleich ist jedoch von Bedeutung,...


Sarah Oberbichler, geboren 1987 in Bruneck, studierte Geschichte und Germanistik an der Universität in Innsbruck, der University of Gothenburg (Schweden) und der University of Minnesota (USA). Sie promovierte 2019 an der Universität Innsbruck. Für ihre Arbeit zur Wahrnehmung von Migration in Südtirol (1990 bis 2015) wurde sie mit dem Marianne-Barcal-Preis der Stadt Innsbruck ausgezeichnet.



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