Otto | Der Tiger im Nacken: Mein Leben mit Angst und Panik | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 179 Seiten

Otto Der Tiger im Nacken: Mein Leben mit Angst und Panik


1. Auflage 2022
ISBN: 978-87-28-38810-5
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 179 Seiten

ISBN: 978-87-28-38810-5
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Martin Otto hat einen Begleiter, er nennt ihn beinahe liebevoll seinen Tiger. Doch handelt es sich dabei nicht um ein Tier. Herzrasen, Atemnot, Schweißausbrüche und das Gefühl zu sterben, das alles ist Martins Tiger: eine Angststörung. 'Der Tiger im Nacken' gibt romanhaft Einblick in das Leben mit einer Angststörung. Der Autor erzählt in einzelnen Episoden, wie sich die Angststörung in seiner Kindheit entwickelte, um ihn fortan zu begleiten. Dabei überspannt er einen Zeitraum von beinahe dreißig Jahren - von 1975 bis 2004. Eindrucksvoll, informativ, geistreich und mit jeder Menge Humor gewährt der Autor dieses autobiografischen Erfahrungsberichts Einblick in sein Leben mit Angst- und Panikattacken. Ein Thema, dass Millionen Menschen betrifft. Dabei nehmen Angststörungen ganz unterschiedliche Ausprägungen an: vom leicht erschwerten Alltag bis hin zur völligen Unfähigkeit sein Leben zu meistern und alles zu verlieren - Freunde, Familie und Beruf. Eine heimtückische Erkrankung, die auch nahestehende Menschen oft nicht erkennen.Martin Otto versteht sein Buch nicht als Ratgeber, sondern möchte vielmehr Angehörigen, Freunden und Interessierten helfen, ein besseres Verständnis für die Lebenswelt Betroffener zu entwickeln.-

Martin Otto (geb. 1966) litt ab seiner Jugend bis Mitte Vierzig unter einer Angststörung. Inzwischen ist er selbstständiger Kunsthändler und Galerist, verheiratet und glücklicher Vater.

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Schon wieder so ein grauer Tag
War es überhaupt schon Tag? Ein heftiger Regen schlug gegen die Scheiben und hüllte wie ein undurchdringliches Spinngewebe das Zimmer ein. Ich hörte Großmutter mit eiligen Schritten durch den Flur laufen. Es roch nach Kaffee, frischen Brötchen und dem abgestandenen Zigarrenrauch meines Großvaters. Ich entschloss mich nur schwer, aufzustehen. Das Gewaltsame meines Traumes erdrückte noch immer meine Gedanken. Mit offenen Augen, suchend, lugte ich unter der Bettdecke hervor. Keine Ungeheuer, keine dunklen Gestalten in Sicht. Die Tür wurde aufgerissen. Erschrocken kniff ich meine Augen zusammen. Großmutter murmelte einen Morgengruß in ihrem besorgten Ton, dann riss sie mir die Bettdecke weg. Ich war es gewohnt, bei Regen nicht draußen zu spielen, den Keller nicht alleine zu durchstöbern und mit dem Fahrrad nur bis zur nächsten Kreuzung fahren zu dürfen. Ich bekam keine Rollschuhe, weil ich fallen, und keine Schlittschuhe, weil ich mit Sicherheit stürzen würde. Ich durfte nicht in den Kindergarten, weil Jungs mich dort verprügeln und Autos mich auf dem Weg dorthin überfahren könnten. Der schreckliche Gedanke, dass ich auch diesen Tag zu Hause verbringen müsste, beschlich mich. »Oma, darf ich ...?«, fragte ich vorsichtig und schielte nach meiner Wollmütze, die an einem Haken hing. Großmutter legte die Hand auf meine schmalen Schultern, neigte ihren Kopf mit dem ergrauten Haar ein wenig zur Seite und blickte mich scharf an. »Es wird bestimmt gleich wieder regnen.« Ich setzte ein harmloses Lächeln auf und betrachtete durch die geöffnete Haustür mit einem mulmigen und gleichzeitig sehnsüchtigen Gefühl den sich verdunkelnden Himmel. »Na gut«, seufzte sie, »aber geh nicht zu weit weg bei diesem Wetter. Nur bis zum ersten Feldweg. Und knöpf deine Jacke zu.« Sie blickte mich noch immer an, doch in ihren durchdringenden Blick hatte sich eine scheue Zärtlichkeit gelegt. Sie nahm meine Mütze und zog sie mir an. »Sonst ergeht es dir wie dem Rotkäppchen mit dem Wolf.« Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen. »Aber das Rotkäppchen ist doch in den Wald gegangen, ich will nur ...« Großmutter zog ihre Augenbrauen in die Höhe. »Du weißt, was mit Kindern passiert, die nicht vorsichtig sind. Das Rotkäppchen wurde vom Wolf gefressen, weil es zu gutgläubig war.« Einen Moment überlegte ich, ob ich nicht lieber zu Hause bleiben und mit Legosteinen spielen sollte. Dann knöpfte ich meine Jacke zu und ging steifbeinig hinaus. Draußen im Garten wehte mir ein lebhafter Wind entgegen. Ich spürte deutlich, wie er zu kleinen Stößen ausholte und mich bald von hinten, bald von der Seite anfiel. Mir hätte das Spiel vielleicht gefallen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass mich Großmutters besorgte Augen unverwandt durch das matte Glas der Sprossenfenster verfolgten. Vor dem Nachbarhaus hörte ich eine schrille, hüpfende Musik. Hanna spielte Mundharmonika. Auf der Mauer saßen ihre beiden Brüder, trommelten den Takt auf den Knien und sangen mit falschen Tönen in den Wind. Hanna setzte für einen Moment ihre Mundharmonika ab und winkte mir zu: »Endlich, wo steckst du denn?« »Der darf doch nix«, rief einer ihrer Brüder. »Der ist doch ein verhätscheltes Oma-Kind.« Der andere lachte und sprang von der Mauer. »Kommt, wir fahren an den Froschteich.« Leichtfüßig sprang er auf sein Rad. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Der Froschteich lag mindestens drei Kilometer entfernt. Hanna sah zu mir hin. »Fürchtest du dich etwa? Wenn es gewittern würde, wäre das doch richtig doll!« »Nein«, antwortete ich kleinlaut, »ich fürchte mich nicht.« Doch die Finsternis braute sich über mir zusammen, und ich war mir sicher, bereits ein entferntes Donnern zu hören. Ich holte mein Kinderfahrrad aus dem Schuppen und fuhr Hanna und ihren Brüdern hinterher. Während ich immer wieder in den Himmel schaute, lauschte ich meinen eigenen quälenden Gedanken: Hatte mich Oma nicht vor dicken großen Wolken gewarnt? Hätte ich nicht schon vorne, am Feldweg, umdrehen und zurückfahren müssen? »Komm, Oma-Kind, komm«, rief eine Jungenstimme, bereits im mannshohen Dickicht versteckt. Hanna wartete am Ufer auf mich. »Hier, zum Fröschefangen.« Sie hielt mir ein schmutziges Einmachglas hin. Ich ließ mein Rad fallen und nahm das Glas. Die Jungs kämpften gegen den Wind, sie überschrien sich und fielen einander ins Wort. Hanna rannte ihnen hinterher. »Wer die meisten Frösche fängt, der bekommt ...« Ihre Worte gingen im Lachen der Brüder unter. Ich stand unschlüssig da, das Glas in der Hand, konnte kaum einen Ton von mir geben, geschweige denn sprechen. Tränen ängstlichen Zorns traten in meine Augen. Ich schaute in den Himmel. Gleich würden sich die dunklen Regenwolken entladen. Und musste man bei Regen nicht zu Hause sein, an einem schützenden Ort? Hanna wisperte mir zu, dass ich mich nicht so anstellen soll. Sie hatte einen Frosch gefangen, den sie mir vor die Nase hielt. »Ich hab heute keine Lust«, zischte ich hitzig, ließ das Glas fallen und fuhr mit dem Fahrrad davon. Auf halber Strecke begann es zu regnen, und die Angst würgte mich wie ein Schmerz. Gleich würde es blitzen und donnern, gleich würde die Wolke über mir ihre Arme nach mir ausstrecken. Gleich würde ... Der Wind wirbelte stoßweise um mich herum. Die Wolke, dachte ich panisch, die Wolke. Meine Augen stachen vor Tränen, und ich schrie laut vor Angst. Warum sah ich Omas Haus nicht? Warum war das Haus so weit entfernt? Der Regen wurde heftiger, und immer wieder war mir, als würde die Wolke nach mir greifen, als würden nur noch Millimeter fehlen, bis sie mich als ihre Beute fing. Endlich das Haus. Tränennass, nach Luft ringend und panisch schreiend rettete ich mich in die Diele. Großmutter kam aus dem Wohnzimmer gestürzt: »Hab ich dir nicht gesagt, dass die Geister in der Wolke nach kleinen Jungs greifen, wenn sie bei so einem Wetter nicht zu Hause bleiben?« Ich zitterte, schluchzte, ich konnte nichts sagen. Tante Irmgard, die mit Onkel Walter zu Besuch war, kam lachend auf mich zu. Sie stellte sich in den Türrahmen, und ihr Lachen steigerte sich zu einer hysterischen Freude. »Walter«, rief sie nach hinten, »guck dir mal den Kleinen an.« Sie prustete, während sie das sagte, amüsierte sich über so viel Angst. Ich geriet innerlich außer Rand und Band, meine Gefühle spielten verrückt. Die Angst noch immer in mir, und furchtbar wütend, rannte ich ins Wohnzimmer, schmiss mich auf einen Hocker. »Gott sei Dank ist der Junge jetzt da«, hörte ich Großmutters Stimme, während ich mein Gesicht in das raue Polster grub. »Ich hab’s nicht gern, wenn er draußen ist, und dann noch bei so einem Wetter.« Die Dunkelheit des nahenden Gewitters hatte sich wie eine dicke kratzige Decke über das kalte Wohnzimmer gelegt. Noch immer weinerlich, setzte ich mich aufrecht hin, suchte nach einem Taschentuch und schnäuzte meine Nase. Ich schniefte noch ein-, zweimal, dann wurde ich ruhiger. Plötzlich richteten sich Tante Irmgards Augen auf mich und bekamen einen gespielt aggressiven Ausdruck, als wäre sie ein reißendes Tier, das im finsteren Wald, im modrigen Keller oder in einer Gewitterwolke auf mich lauerte. Ich konnte mich vor dem furchtbaren Gefühl, das diese Augen in mir auslösten, nur retten, indem ich weinend in den Schoß meiner Großmutter kroch. Dort hoffte ich auf eine tröstende Hand, ein Streicheln. Großmutter rückte steif und unbeholfen von mir ab, nahm meinen Kopf aus ihrem Schoß. Tante Irmgard tat weiter so, als wäre sie ein reißendes Tier. Ich starrte sie mit tränennassen Augen an. »Oh, mein kleiner Martin«, säuselte sie. Nur das Zucken ihres blassen Mundes zeigte, wie amüsiert sie war. Draußen regnete es noch immer, ein dichter, strammer Regen, der einen dunkelgrauen Vorhang vor das Fenster zog. Großvaters Zigarrenrauch schlängelte sich durchs Zimmer. Tante Irmgard erzählte flüsternd, was wie ein andauerndes Zischen klang. Nur manchmal warf Onkel Walter mit seiner tiefen Stimme etwas ein. Das Interesse an mir war versiegt. Ich fühlte mich beschämt. Einsam. Alleingelassen. Tante Irmgard und Onkel Walter diskutierten jetzt mit einer seltsamen Freude. Sie meinten, dass Willy Brandt bei der nächsten Wahl ganz sicher Kanzler werden würde, und Opa zählte akribisch die Punkte auf, die seiner Meinung nach gegen Brandt sprachen. Großmutter zuckte zusammen....



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