Overath | Der Blinde und der Elephant | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Overath Der Blinde und der Elephant

Geschichten vom Sehen und Begreifen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-21967-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten vom Sehen und Begreifen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-641-21967-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Für den persischen Dichter Mevlana gleicht der Fromme, der Gott erkennen möchte, einem Blinden, der einen Elefanten abtastet – je nachdem, wohin er greift, spürt er etwas anderes. Auch die Reportagen, Portraits und Prosastücke von Angelika Overath wagen die Bewegung ins Ungewisse, erkunden das exotische Terrain unserer Wirklichkeit: Sie erzählen von fremden Heimaten, nomadischen Existenzen und flüchtigen Gemeinschaften, entdecken den geheimen Alltag der Derwische, ein Orchester in den vom Terror aufgewühlten Gassen Istanbuls oder einen winzigen verräterischen Farbtupfer in einem Gemälde von Rubens. Sie sind eine Schule des Wahrnehmens und Begreifens mit den Mitteln der Sprache, der Imagination und der Empathie.
Overath Der Blinde und der Elephant jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Bei den Derwischen in Konya »This is your captain speaking«, sagt eine junge Frauenstimme, und die Maschine fliegt durch die Winternacht von Istanbul nach Konya. Konya, früher Ikonium, gelegen auf einer von Schneebergen umkränzten Hochebene in Mittelanatolien, war ein Ort des Frühchristentums und nach den Schriften des Apostel Paulus der Geburtsort der Heiligen Thekla. Heute ist Konya eine islamische Metropole und die konservativste Stadt der Türkei. Ihr Wahrzeichen ist der Turm über dem Mausoleum des persischen Mystikers und Dichters Dschalal ad-Din ar-Rumi, im Orient bekannt als Mevlana (Meister), im Okzident schlicht als Rumi. Nach dem Topkapi-Palast in Istanbul ist diese Grabstätte der am häufigsten besuchte Ort der Türkei. Am 17. Dezember begehen Muslime – und mit ihnen Christen, Juden, Heiden – hier den Todestag Mevlanas. Unter dem Motto »Birlik vakti« (»It’s time to unite«, sagen die englischen Plakate) finden zwischen dem 7. und dem 17. Dezember über 150 Veranstaltungen statt, darunter allabendlich das Tanzen von 40 Derwischen im fast 3000 Menschen fassenden Saal des Mevlana-Kulturzentrums. Kemal Atatürk, der Vater einer modernen, am Westen ausgerichteten Türkei, hatte im Zug der Säkularisierung 1923 die Bruderschaft der tanzenden Derwische verbieten lassen. Die Tekke (Klöster, besser Rückzugsorte) der Sufis wurden in Museen umgewandelt. Seit 1954 dürfen Derwischtänze vor Touristen wieder stattfinden. 2005 wurden sie in die UNESCO-Liste der »Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit« aufgenommen. Aber es gibt neben den offiziell gezeigten Derwischtänzen eine geheime Alltagsrealität islamischer Mystiker. Ein Taxi ist ein Faradayscher Käfig. Schnell entdeckt sich der Fahrer als einer der 300 Professoren der Selcuk-Universität Konya, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli verhaftet worden waren. Immerhin gehöre er jetzt nicht zu den 150, die noch im Gefängnis sitzen. Wir sind, er schaltet einen Gang hoch, eine religiöse Diktatur. Europa kenne Atatürk nicht, der erklärt habe, die Türkei sei kein islamisches Land. Als Türken, sagt er, haben wir den Geschmack der Demokratie erlebt, aber der Feind der Regierung jetzt sei der Laizismus. Vor der Windschutzscheibe wirbelt der Schnee. Der Koran ist kein weltliches Gesetzbuch! In der arabischen Welt interpretiere man ihn anders als in Iran. Der Verkehr staut sich, wir sind im Stadtzentrum. Ob er einen Derwisch kenne? Er schüttelt den Kopf. Hier in Konya gebe es vor allem alevitische Sufis; Mevlana kam aus Balch, heute Afghanistan, er ist vom schiitischen, vom alevitischen Denken beeinflußt. Aber die Regierung wolle den Mystiker zu einem guten sunnitischen Moslem machen! Von der Ferne leuchtet der türkis gekachelte Turm des Mausoleums. Ich bin alt, sagt er, aber ich denke an meinen Sohn. Ich gehe nicht in die Moschee, also geht er auch nicht in die Moschee. Welche Zukunft hat er? An der Rezeption des Hich-Hotels geht die große Uhr rückwärts, weil Derwische sich im Gegenuhrzeigersinn drehen. Und dann folgen Zifferblätter mit der aktuellen Ortszeit religiöser Zentren: Mekka, Vatikan, Jerusalem, Varanasi, Samarkand, Sarnath. Eines der bekanntesten Gleichnisse von Mevlana sagt, daß Fromme, die Gott erkennen wollen, Blinden gleichen, die einen Elefanten abtasten. Je nachdem, wohin ihre vagen Finger irren, spürt jeder etwas anderes. Die Zimmer des Hotels tragen keine Nummern, sondern türkische Namen, die sich von vorn wie von hinten lesen lassen: NAMAZ (Gebet) – ZAMAN (Zeit); KAYA (Felsen) – AYAK (Fluß); KARO (Karo) – ORAK (Sichel); METOT (Methode) – TOTEM (Totem); ASI (Rebell) – ISA (Jesus). Mehtap, 44 Jahre, serviert Tee. Sie ist in Duisburg als Tochter türkischer Gastarbeiter geboren, hat sich mit 18 in den Ferien in Konya verliebt und geheiratet. Deutschland ist grün, sagt sie, aber das Grün ist grau. Sie hat große melancholische Augen. Sie liebt diese Dezembertage um Seb-i Aruz herum, die Hochzeitsnacht, wie Mevlana seinen Todestag nannte. Denn sterbend würde er eins werden mit Gott und seinem Freund Schams. Ich lebe das jetzt auch, sagt Mehtap. Diese besondere Atmosphäre. Die Frauen kommen her, um zu weinen. Zu weinen? Ja, hier können sie sich besinnen, und sie dürfen weinen. Konya, 1244. Dschalal ad-Din ar-Rumi ist mit 38 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere, ein geachteter und beliebter Islamwissenschaftler und Theologe, Ehegatte, Vater. Vor einer Karawanserei lernt er den Wanderderwisch Schams kennen. Ein Blickwechsel genügt. Er sei von den Lanzen seiner Wimpern getroffen worden, wird er später schreiben. Schams hat die Aura von göttlichem Licht. Für sechs Monate ziehen sich die beiden zurück, leben in frommer Askese und Liebes-Ekstase. Doch als sie wieder auftauchen, scheint Rumi verloren für jede bürgerliche Existenz. Zunehmend betrachtet die Gesellschaft von Konya seinen dahergelaufenen Freund mit Argwohn; der verläßt die Stadt. Endlich kommt Nachricht aus Syrien. Der Freund war in Damaskus. In »Dimaschq«, wo sonst! Reimt sich das Wort doch auf »aschq«: Liebe. Er kann Schams zurückholen. Doch bald bleibt der endgültig verschwunden. Vermutlich wurde er von Rumis Schülern ermordet. In der Sehnsucht nach dem Freund beginnt Dschalal ad-Din ar-Rumi zu schreiben. Und er entwickelt das Drehen, ja er soll, um sich kreisend, Verse seiner Liebeslyrik diktiert haben: Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns. In den 30 Jahren bis zu seinem Tod entstehen etwa 60000 Verse. Rumi wurde populär durch seine Texte, sein Tanzen; den Orden seiner Nachfolger, der Mevlevi, hat sein Sohn Sultan Veled gegründet. Vor dem Eingang in den verschneiten Rosengarten steht Sicherheitspolizei. Taschen und Rucksäcke passieren eine Röntgenschleuse. Eine Gruppe asiatischer Jugendlicher macht Selfies vor dem türkisfarbenen Turm. Drei farbig gekleidete Mongolinnen photographieren sich wechselseitig; eine Seminaristengruppe in schwarz lauscht einer Frau mit auberginefarbenem Kopftuch. Auf dem ganzen Gelände ist aus Lautsprechern die Ney-Flöte zu hören. Um den Innenraum des Mausoleums zu betreten, muß man blaue Plastiktüten über die Schuhe ziehen. Vor dem Gitter, hinter dem Mevlanas Sarg und weitere Särge mit Scheich-Hüten stehen, knien Frauen. Andere hocken auf Absätzen und lesen in seinen Schriften. Zwei Frauen umarmen sich. Eine lehnt mit geschlossenen Augen an einer Wand. Eine andere schaut in ihr Handy. Wieder eine weint. Die Frauen tragen die langen Kuttenmäntel der frommen Musliminnen oder kurze Röcke, Schaftstiefel mit hohen Absätzen. Zwei Männer in Pelzmützen und langen Locken diskutieren die kalligraphischen Schrifttafeln: Das Geheimnis des Ich ist in mir. Gott ist in mir. Ein Ehepaar betet vor einer Wand wie an einer Klagemauer. Als die Frau sich umdreht, ist ihr Gesicht tränenüberströmt. Warum Mevlana? Man kann sich seine Liebe nicht aussuchen, flüstert Marek, Anwalt aus Prag. Ich lese jeden Tag ein Gedicht von Mevlana, sagt Farid. Er ist in Afghanistan geboren, hat Pharmareferent gelernt, arbeitet jetzt als Taxifahrer in Hamburg. Das Universum dreht sich, die Atome drehen sich, im Drehen findet der Mensch zu Gott, sagt Nesrine, Ärztin aus Iran. In Nischen meditieren Menschen; eine Gruppe, Männer und Frauen, dicht an dicht, die Schultern berühren sich, hören einem Prediger zu. Eine Mutter in Jeans stillt. Wenige Schritte weiter im Bereich der Moschee beten Männer und Frauen getrennt. In einer Vitrine liegt die kalkgraue, löchrige Kutte Mevlanas, sein grünes Schultertuch. Illuminierte Koranhandschriften sind ausgestellt. Ein winziges Exemplar, gemalt mit einem Haar, daneben eines aus dem 9. Jahrhundert, geschrieben auf Gazellenhaut. Die Ney-Flöte verzögert die Zeit. Sie ist Mevlanas Sehnsuchtston, der Ruf nach Schams, nach Gott, nach der Unio mystica. Oder nur nach einem in der Moderne verlorenen Ich. Unter einem Himmel von gefilzten Tüchern sitzt Celalettin auf Bodenkissen und flirtet. Es gibt türkischen Kaffee und safrangelbe weiche Kuchen. An den Wänden Bilder mit persischen Tulpenmotiven und tanzenden Derwischen, Perlenschnüre, die Schmuck sein können oder Gebetsketten. Celalettin ist Scheich und Kunsthandwerker und Geschäftsmann. Er umarmt die Neuseeländerin, die sich verabschiedet, und spricht weiter mit der Frau aus Saudi-Arabien. Eiman, Humangenetikerin, in Mekka geborene Muslimin, wirft ihr offenes blondes Haar zurück. Sie hat in Boston studiert. Sie kommt jedes Jahr. »Allah is love«, sagt sie. Und dann, als müsse sie sich entschuldigen: »We call it love. Allah is mercy.« Diesmal hat sie ihre Nichte mitgebracht, Hiba, 30. Deren schönes Gesicht, streng in ein Kopftuch gefaßt, liegt auf den angezogenen Knien. Wir wollten in Bursa Skifahren gehen, sagt Eiman, aber Hiba will hierbleiben. Celalettin ist ein lebensfreundlicher Weiser. Er hat mit seinen Derwischen die halbe Welt bereist. Sein Haus ist offen für alle Pilger. Nimm eine Dattel, sagt er. Im Nebenraum stellt seine Frau Derwischhüte her. Sie breitet die gerupfte Wolle aus, besprengt sie mit Seifenlauge, bringt sie in eine ovale Form, walkt und walkt. Sie stülpt das Oval wie einen Strumpf ineinander, spannt es auf zwei Holzformen. Eine neue Gruppe kommt die schmale Treppe herauf. Zwei Mädchen schütten Tüten mit Zwiebeln und Okra auf den langen Tisch in der Filzwerkstatt und beginnen zu kochen. Konya im Dezember 2016, das ist das Drehritual der Derwische im riesigen Mevlana-Kulturzentrum. Eintritt frei. Die Programmhefte auf Türkisch, Farsi, Englisch. Es musiziert ein Sufiorchester von höchster Qualität, und die Dreh-Gebete sind ästhetisch wie ein Ballett....


Overath, Angelika
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane „Nahe Tage“, „Flughafenfische“, "Sie dreht sich um" und "Ein Winter in Istanbul" geschrieben. "Flughafenfische" wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.