Overath Flughafenfische
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-641-02631-8
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-641-02631-8
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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I TOBIAS
Es war einer jener langen, unbedeutenden Nachmittage, und es sollte doch der letzte seiner Art sein. Und auch als es später Nachmittag, wohl Abend geworden war in dieser Halle ohne Zeit, und als die Nacht begann mit all den gleißend weißen und bunten Lichtern draußen vor dem Glas und als der Nebel zu einer Wand gewachsen war und die Rollfelder, die Start- und Landebahnen und die Flugzeuge einfach weggenommen hatte, selbst dann noch, als manche, wider jede Notwendigkeit, schon auf das Morgenlicht warteten (warum sollte die Sonne denn nicht aufgehen über den silbernen Betonbändern und dem tintigen Gras?), da gehörte dies alles immer noch zu jenem langsamen Nachmittag, der damit begonnen hatte, daß Tobias’ Augen auf der Bauchhaut des Rochen lagen.
Er stand vor dem Aquarium.
Der Rochen klebte flach mit ausgebreiteten Seitenflossen am Glas. Seine Unterseite war milchig weiß. Und Tobias spielte gerne mit diesem Blick, bei dem er sich selbst sah (nur ein wenig, nur als Schemen mit blaßdunklen Gesichtszügen) und zugleich denken konnte, er sähe einen andern. Einen Mann, einen Fremden, der interessanter war als er, einen Reisenden im Staubmantel vielleicht und mit Hut, einen, den er gerne kennenlernen würde. Manchmal kam er dann einen Schritt näher und starrte in die zwei dunklen Öffnungen über dem Mund des Tieres, die so aussahen, als könne der Rochen mit ihnen sehen. Ein Gespenst, kreischte es, schau, ein Gespenst! Er drehte sich weg. (Immer wenn der Rochen so dahing, kreischte bald irgendein Kind.) Ein Mädchen in rosageringelter Filzweste streckte jetzt seinen Zeigefinger gegen die dicke Scheibe und zog ihn schnell, in erschrockener Lust, wieder zurück. Nun sah es sich um, als suche es nach einem Echo seiner Begeisterung. Der Rochen klebte weiter an der Scheibe. Sein geschwungener schwarzer Mund stand offen wie ein kleines Lächeln. Seine Nasenlöcher gaben ihm ein täuschendes Angesicht. Mit den flachen Flossen bot er sich an wie ein Gekreuzigter. Tobias sagte nichts. Das Mädchen wippte vor dem Glas. Es trug einen kurzen, dunkelblauen Faltenrock, der sein Hüpfen optisch verstärkte. Wie eine beschleunigte Qualle, dachte Tobias. Ein Rochen, sagte müde ein Mann. Langsam trat er von hinten an das Kind und legte ihm die Hand auf die Schulter, das ist ein Rochen.Von unten gesehen. Schau, das da ist der Mund, und da, die zwei Öffnungen, die Kiemen. Auch falsch, dachte Tobias, die Kiemen liegen tiefer. Einst hatten Seefahrer Rochen mitgebracht, auf den Schiffen getrocknete Rochen, die sie an Land als Wasserfrauen verkauften. Nur ein wenig zurechtgeschnitten, da und dort etwas abgebunden, und schon hatten diese Fische weibliche Körper, etwas Engelhaftes auch. Geigenrochen, dachte Tobias, bewiesen die Existenz von Nixen. Jeder konnte sie anfassen. Und mit den Fingerspitzen über die spröden Falten ihrer nun fast gläsernen Haut fahren.
Ein Gespenst, schrie das Kind, mit Gespensteraugen! Schau doch, schau doch mal. Tobias senkte den Blick. Er kannte diese Szene in ihren täglichen Varianten. Sie gehörte zum Rochen wie seine weiße Bauchmaske, wie seine geöffneten Seitenflossensegel. Vater und Tochter standen an der Scheibe. Willst du etwas trinken, fragte der Vater, als müsse er das Kind ablenken.Das Mädchen nickte.Der Vater nahm seinen Rucksack von der Schulter und dirigierte die Tochter zu der Reihe von Plastiksesseln, die in einem geringen Abstand vor dem Aquarium standen. Bald saßen beide nebeneinander und sahen auf das kleine Meer, das hier im Flight Connection Centre die fensterlosen Fluchten der Einkaufsareale abteilte vom Oval einer Ruhezone, deren Glasfront einen weiten Panoramablick auf die Flugzeuge bot. (Unter anderem ist es ein Raumteiler, dachte Tobias, unter anderem.) Es war ein buntbewegter Glaskörper, ein Segment Lagune, wie aus einem Ozean herausgeschnitten. Eine professionell arrangierte, bemessene Portion Korallenriff. Das Mädchen sog selbstvergessen an einem gebogenen Trinkhalm und schaukelte mit den Beinen. Tobias sah seine mageren Waden und darüber die Knie, die aus den Gummistiefeln stiegen wie feine Gliedmaßen einer Gelenkpuppe. Der Vater hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Tobias war nie in Siena gewesen. Aber vieles kannte er aus Filmen. Das war leichter. Er mußte nicht reisen, er mußte nicht reagieren. Er konnte sehen, blieb aber selbst unsichtbar. Filme sahen nicht zurück. Wenn er Filme sah, gaben andere Augen den seinen Halt. Die alten Bäder von Bagno Vignoni zum Beispiel, er sah sie, wie Tarkowski sie gesehen hatte. (Er mochte seine verzögerten Blicke.) Und dort gab es am Ende so ein Mädchen, ein Mädchen, das unvermittelt dasitzt in den verlassenen Becken. Überall steht das Wasser, alles tropft, und der schweifende, der unsichere, ja, der wohl haltlose Dichter – es war doch ein Dichter? -, er weiß nicht wohin mit seinem Leben, und da sitzt das Mädchen mit seinen Gummistiefeln. Sitzt einfach da.Wie ein Beweis. Und Tobias wußte nicht mehr, ob das Mädchen nun lachte oder nur gerade so mit den Beinen wippte. Aber wie es dasaß und ihn ansah (ohne ihn zu sehen, er wußte das schon), war das Leben entschieden. Zum Guten entschieden. Auf einmal war klar, daß es weiterging. Ohne Grund. Oder nur aus diesem einen nicht stichhaltigen Grund, daß da das Mädchen saß und mit den Beinen schaukelte. Die Füße in den großen Gummistiefeln.Weiter konnte man das nicht erklären. Diese Gummistiefel waren ja auch komisch.Was sollten denn Gummistiefel noch retten, angenommen – und der Dichter sah es wohl so – die Welt würde untergehen? Jedenfalls, erinnerte Tobias sich, war der Film nach diesem Bild zu Ende.
Tobias sah den reisenden Vater an. Er hatte die Hände in seine Jacke gesteckt, eine Allwetterjacke mit vielen Taschen, wie sie Photographen oft anhaben, und den Kopf nach hinten gelegt. Fast schien es, als wolle er Kraft schöpfen während kostbarer Sekunden heimlicher Abwesenheit. (Aber er war ja da.) DieserVater würde nicht einschlafen, auf keinen Fall, aber er nahm sich diesen einen Moment, den das Kind ihm gab. Das Kind sog an seinem Trinkhalm, schaukelte mit den Beinen, sah zu den Fischen, die aus den Felsen herausschwammen und wieder verschwanden in einem Gewoge, bunt wie zuckrige Süßigkeiten aller synthetischen Geschmacksrichtungen. Es glaubt vermutlich, dachte Tobias, man kann das alles lutschen. So wie es saugend hinsieht, schmeckt es die Blumentiere schon. Tobias fuhr langsam das Gesicht des Vaters ab. Er weiß nicht, dachte er dann, daß ich Spezialist bin. Er weiß nicht, daß ich sammle.
Tobias Winter war Aquarist. Er war verantwortlich für das 200 000-Liter Meerwasserbecken hier in einem der größten Flughäfen der Welt. Vor sieben Jahren hatte er dieses Aquarium mit aufgebaut. Kein Plastik, keine toten Kalkskelette. Der Sponsor hatte darauf bestanden, daß es ein ganz und gar natürliches Aquarium sein solle, nur lebende Steine, Korallen, Anemonen, Schwämme, Algen, Muscheln, Krebse, Fische. Es handelte sich bei dem Auftraggeber, das hatte er erst später erfahren, um eine Gesellschaft, die auf futuristische Innenräume spezialisiert war. In Dubai etwa bauten sie Hallen, in denen man Ski fahren konnte, auf künstlichem Schnee, mit Schweizer Liftanlagen in einer Alpenklangkulisse unter Sonnenlicht aus Speziallampen. Tobias vermutete, daß es sich bei seinem Riffaquarium um ein Pilotprojekt handelte. Er hatte gehört, daß man auch an vollklimatisierten Hotels unter Wasser arbeitete. In gläsernen Aufzügen fuhren die Reisenden in die Tiefe, trockene Taucher, die dann hinter den bruchsicheren Panoramafenstern ihrer Unterwasser-Appartements lebten. Draußen schwammen Haie vorbei, Riesenkraken, Schildkröten tauchten. Kelpwälder wogten. So schien Tobias der teure Riffaufwand im Flughafen zwar groß, aber doch nur Teil eines größeren Denkens zu sein. Er selbst war nur ein unscheinbares Glied ganz anderer Vorhaben.
Und doch war er,Tobias Winter, gelernter Schreiner, später Verkäufer in einem internationalen Tierfachhandel, gefunden worden, um für diesen Unterwasserkosmos im Flughafen zu arbeiten. Einer der Manager hatte ihn angesprochen, als er in seiner blauen, durchnäßten Schürze vor einem Quarantänebecken stand und dabei war, Fische umzusetzen. Man hatte sich dann eine Weile unterhalten.Tobias Winter hatte sofort zugesagt. Er glaubte nicht an Zufälle.
Für den Aufbau und die Installationen hatten sie ihm Handwerker und Techniker zur Seite gegeben, aber er hatte das Becken dann alleine eingefahren. Eine behutsame Arbeit von Monaten. Allein bis die Ionenzusammensetzung stimmte und das Wasser richtig reifte! Kein Mensch, der die Fische hier schwimmen sah, so imVorübergehen, wußte ja, was das hieß. Und nun wartete er sein Ozeanriff im Flughafen. Er fütterte die Fische (die Seepferdchen von Hand, sie waren zu langsam), kontrollierte den Algenbewuchs, putzte die Scheiben, saugte die Korallen ab. Er prüfte die Komponenten der verschiedenen Filter und reinigte sie, er sah nach den Umwälzanlagen, er wechselte die Halogenleuchten aus. Er war der Hausmeister seines Meeres. Fast alle Fische kannte er persönlich. (Bei den Schwarmfischen war er sich nicht immer ganz sicher.) Manche kannten wiederum ihn, glaubte er, oder sie erkannten zumindest die Geste, wenn er von oben kleingeschnittenes Muschelfleisch streute, winzige Krebse, Bananenstückchen, Salat. Dann näherten sie sich, kamen hoch an die...