Overath | Nahe Tage | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Overath Nahe Tage

Roman in einer Nacht
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-26590-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman in einer Nacht

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-641-26590-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie verbringt man die erste Nacht, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist?Mit den letzten Habseligkeiten ihrer Mutter kehrt Johanna zurück in die Wohnung, in der sie aufgewachsen ist. Wie unter Zwang sortiert sie die Wäsche der Mutter nach Temperaturverträglichkeit, und während die Waschmaschine zu laufen beginnt, macht sich Johanna an eine Inventur ihrer Kindheit... Dieser provozierend leise Text erzählt feinfühlig von der Sprachlosigkeit in Familien und ist ein Plädoyer für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Overath Nahe Tage jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


II
In der Straßenbahn war es heiß. Johanna hielt den prall gefüllten Krankenhausplastiksack zwischen den Knien. Das Ende waren neue Schlafanzüge gewesen, neue Unterhosen, ein neuer leichter Morgenmantel mit einem Palmenmotiv, die Kulturtasche mit Kamm, Zahnbürste, Zahnpasta, dem kleinen Spiegel, den Tabletten. Die Straßenhalbschuhe und die Hausschuhe, die zwei neuen Plüschkatzen mit dem Knopf im Ohr, eine schwarz, eine grau; die immer verlegten Brillen, die Taschentücher, die Beinwickel, die Stützstrümpfe, das Venen-Gel, der hellgeblümte, taftgefütterte Sommerrock, das gestrickte rosafarbene Baumwollblüschen, das weiße T-Shirt, das blaue Jäckchen, die cremefarbene Stretchhose, die beige Übergangsjacke. Der Umschlag mit dem Ehering. Das Döschen mit dem Gebiß. Der Geldbeutel mit dem kleinen Schein. Der Schlüsselbund. Höllen müssen vertraute Orte sein. Jede Fremde wäre jetzt harmlos. Johanna hatte den mit Fugensteinen gepflasterten Hinterhof des Mietsblocks durchquert. Ihr Arm schmerzte von dem unförmigen Plastiksack, den sie hochhalten mußte, damit er nicht am Boden schleifte. Sie schloß die Haustür auf, ging an den Briefkästen vorbei und drückte auf den Aufzugsknopf. Sie hörte, wie sich die Kabine in Bewegung setzte und kurz darauf ruckend stoppte. Johanna schob die Falttür auf und stieg in den Kasten. Sie drückte auf den Knopf für den dritten und vierten Stock. Der Aufzug fuhr in das Zwischengeschoß. Im Treppenhaus war es fast kühl. Die gesprenkelten Steinstufen glänzten frischgeputzt. Johanna kannte die Wohnung ihrer Mutter, die einmal, obgleich nur für kurze Zeit, auch ihre Wohnung gewesen war. Falls man das so sagen kann. Der Schlüsselbund lag abgegriffen in ihrer Hand. Sie fühlte den Wohnungsschlüssel mit der alten grünen Gummikappe. Der Bart schloß beinahe selbständig auf in einer über zwanzig Jahre eingespielten Geläufigkeit. Im Flur war es dunkel. Die Jalousien im Wohnzimmer und in der Küche waren heruntergelassen worden, wohl um die Hitze draußenzuhalten. Johanna kurbelte die schweren Vorrichtungen hoch, schob im Wohnzimmer die bodenlangen Gardinen zur Seite und öffnete ein Fenster. Die Hitze schlug ihr entgegen. Sie ging zurück und kippte den Plastiksack in den Flur. Sie griff nach den beiden Plüschkatzen und setzte sie auf die Lehne des schweren Ledersofas. Die schwarze neben die graue, neben die anderen Katzen, in die Phalanx der gestickten Kissen, angeführt von einer Käthe-Kruse-Puppe, deren Lächeln altklug zwischen zwei zu Affenschaukeln hochgebundenen Zöpfen hing. Johanna sah in die Glasaugen der Sofa-Gesellschaft und sah wieder weg. Sie sollte etwas tun; die Krankenhauswäsche lag im Flur. Sie ging ins Badezimmer, knipste das Licht an, nahm das Frotteedeckchen von der Waschmaschine und öffnete den Deckel. Sie überlegte, ob sie zuerst eine 40 Grad-Wäsche waschen sollte oder eine 60 Grad-Wäsche. Sie ging ins Schlafzimmer, um nach Wäschestücken zu sehen, die in ihrer Temperaturverträglichkeit zu denen aus dem Krankenhaus passen würden. Hinter der Tür stand der graue, abgesteppte Wäschepuff. Er war älter als Johanna. Er war immer im Schlafzimmer der Eltern gestanden. Am Anfang muß er größer gewesen sein als sie. Vielleicht hatte sie an ihm gelernt, sich aufzurichten. Jedenfalls wußte sie sofort, wie er sich anfühlte, als sie ihn jetzt wiedersah. Früher hatte es in seiner Nähe noch eine beigefarbene Waage gegeben mit zwei dunkelnoppigen grünen Flächen für die Füße und einem schwarzen Zeiger, der heftig ausschlug und sich dann zitternd beruhigte. Der Wäschepuff war schwer, auch wenn er nicht gefüllt war. Mit der Zeit aber war Johanna über ihn hinausgewachsen. Er wurde kleiner und unbedeutend. Und doch haftete an ihm noch ein kaum faßbares Unbehagen. Johanna griff in die Mittellasche und hob den kreisrunden Deckel ab wie ein Becken. Noch bevor sie ein Wäschestück berührt hatte, kam der Geruch. Ein blasser, vertrauter Muttergeruch. Johanna wußte, daß ihre Mutter eine peinlich saubere Frau gewesen war. Doch getragene Nylon- oder Perlonstrümpfe riechen, Kittelschürzen mit Flecken von Essensspuren, in den Taschen vergessene Taschentücher. Trevirapullover. Söckchen. Sie sortierte die Kleider auf dem Teppichboden des Flurs. Als sie spürte, daß ihr schwindlig wurde, beschleunigte sie ihre Handgriffe. Es war sehr heiß. Sie war nicht darauf gefaßt gewesen, daß ein toter Mensch noch atmet und daß er riecht, da, wo er gelebt hat. Genaugenommen wußte sie nicht, was sie tat. Es hatte keinerlei Sinn, hier in der Wohnung Wäsche zu sortieren, heute, wenige Stunden nach ihrem Tod, an einem heißen Sonntagnachmittag. Und dazu noch Wäsche, die sie vermutlich wegwerfen würde. Wer brauchte schon über Jahre getragene Kittelschürzen, BHs, Strumpfhalter, Hüftgürtel, Söckchen? Die Schränke ihrer Mutter waren voll davon. Hätte sie nicht wenigstens das Schmutzige gleich in die großen Container vor dem Block werfen können? Doch wenn sie an den Mülleimer dachte, überfiel sie die seltsame Gewißheit, daß es dieses Schmutzige war, das sie band. Konnte sie etwas wegwerfen, in dem sich noch das Warme, das Feuchte, das Gelebte des Körpers hielt? Und so war ihr, als geriete sie in einen eigenartigen Sog dieser zuletzt getragenen Kleider. Der vage, vertraute Geruch packte sie. Der Geruch hatte sich selbständig gemacht, er war monströs geworden, er hatte die tote Mutter überstiegen. Bevor sie es begriff, hatte sie ihn in den Lungen und atmete ihn aus, um ihn wieder einzuatmen. Sie atmete die Mutter. Und die tote Mutter atmend, überkam sie eine haltlose Übelkeit. Wie hatten sie zusammen geatmet! Neun Tage lang war sie mit dem Zug gekommen, zweimal Umsteigen, dann mit der Straßenbahn zur Klinik. Morgens drei Stunden hin, abends drei Stunden zurück. Sie hatte Schreibtischarbeiten, Organisatorisches vorgeschoben, das sie nachts oder frühmorgens unbedingt zu Hause erledigen müsse. Sie hatte sich freinehmen können, unbezahlten Urlaub, wegen der Krankheit der Mutter, sie, als einziges Kind, man hatte das verstanden, aber die Mutter würde nun doch auch verstehen, daß es Dinge gab, die schlecht liegenbleiben konnten. So hatte sie es ihr gesagt, während die Mutter stumm dalag. Immerhin hatte sie nicht zugeben müssen, daß sie auf keinen Fall in der Wohnung der Mutter hatte übernachten wollen. Neun Tage stand, lehnte sie an ihrem Bett auf der Intensivstation, später in den Räumen der Dialyse. Besuche waren nicht erwünscht, deshalb gab es keine Stühle. Am siebten Tag hatte man ihr einen Tee angeboten. Einen Beuteltee, aufgebrüht mit heißem Wasser aus der Thermoskanne. Sie erinnerte sich an den wunderbaren Geschmack von Pfefferminz. Sie hatte das gerne getrunken. Doch jetzt erst im nachhinein begriff sie, daß diese milde Geste der Tochter gegenüber das endgültige Zeichen dafür gewesen war, daß man die Mutter aufgegeben hatte. Auf der Intensivstation im Bett neben der Mutter lag ein italienischer Junge im Koma, ein Medizinstudent, fast noch ein Abiturient. Es sei eigentlich ein harmloser Unfall gewesen, auf dem Rückweg von den Ferien in Holland. Der Freund am Steuer habe ein gebrochenes Nasenbein. Die beiden Mädchen auf der Rückbank seien unverletzt. Er aber war vorne gesessen, nicht angeschnallt. Seine schmale Mutter, eine mädchenhafte Norditalienerin, war über Nacht eine alte Frau geworden. Come si vive male, sagte sie vor sich hin. Ihr blondes kurzes Haar hatte nun die Farbe von Asche. Sie konnte kein Deutsch. Sie verstand die Ärzte nicht, nicht die Pfleger. Die muntere Übersetzerin, die manchmal vorbeikam, verhinderte, daß sie verstand. Sie schenkte ihr Zeit. Johanna hatte begriffen, daß der Junge, sollte er je nochmals aufwachen, blind sein würde. Seine Augen zeigten, wenn der Pfleger die geschlossenen Lider anhob und den direkten Strahl der Taschenlampe erst in das eine, dann in das andere richtete, keine Reflexe mehr. »L’inverno è passato, l’aprile non c’è più«, sang die Übersetzerin, »è ritornato il maggio al canto del cucù.« Dann zwitscherte sie etwas vom Lebensfrühling, der, ach, in unseren Jahren, dabei blinzelte sie von Frau zu Frau, nun vorbei sei, der Sommer sei angebrochen. Und als die Mutter des Jungen nur abwesend vor sich hinsah, war sie schon summend weitergesegelt. Von wegen Sommer, hatte Johanna gedacht und ihr nachgesehen. In unseren Jahren begann der Herbst. Die Mutter des Jungen hatte wieder angefangen, ihren Sohn zu besprechen. Topolino, sagte sie, weißt du noch, wie ich dir immer Topolino gekauft habe, weißt du noch. Unter sein Kopfkissen hatte sie ein geweihtes Kräuterkissen aus einem Wallfahrtsort gesteckt. Johanna betrieb ihren eigenen Voodoo-Zauber. Johanna atmete. Johanna atmete, damit ihre Mutter atmete. Sie atmeten zusammen. Sie schnauften. Über dem Bett der Mutter liefen Kurven, die manchmal piepten. Johanna verwechselte sie dauernd, vielleicht weil sie dauernd wechselten. Aber die eine Kurve erkannte sie, es war die Kurve, die den Sauerstoff maß, den die Mutter atmend aufnahm. Die Kurve fiel immer wieder so ab, daß man der Mutter ein Röhrchen in ein Nasenloch stecken mußte. Auch dann blieb die Kurve schlecht. Obwohl die Kurve schlecht blieb, glaubte Johanna jeden Morgen, wenn sie kam, daß es besserginge. Jeden Tag etwas besser. Bis es bald wieder ganz gut sein würde. Topolino, sagte die andere Mutter am anderen Bett. Ihre Mutter schwieg. Entspann dich, sagte Johanna, entspann dich und dann ganz tief, sagte Johanna und atmete, sich selbst entspannend, der Mutter vor, damit die Mutter mit ihr atme. Und sie atmete so tief, bis ihr schwindlig wurde, weil sie selbst nun zuviel Sauerstoff abbekam. Hecheln, dachte Johanna. Wenn das eine Geburt wäre, müßtest du hecheln. Johanna hatte...


Overath, Angelika
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane „Nahe Tage“, „Flughafenfische“, "Sie dreht sich um" und "Ein Winter in Istanbul" geschrieben. "Flughafenfische" wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.