Overath | Sie dreht sich um | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Overath Sie dreht sich um

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-12525-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-12525-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn man kein Ziel hat, muss man sich eines erfinden!Es ist der Klassiker und trotzdem ein Schock: Ihr Mann betrügt sie mit einer jungen Kollegin! Und Anna Michaelis geht. Sie packt etwas Wäsche zusammen und nimmt den erstbesten Flug, nach Edinburgh. Ihr Weg führt sie in die Nationalgalerie. Auf einem Gemälde von Gauguin beginnt eine Frau, als Rückenansicht dargestellt, plötzlich zu sprechen. Es ist der Anfang eines Spiels. Anna reist weiter. Sie steht vor Bildern in aller Welt und entdeckt Komplizinnen, die von Sehnsucht, Ehealltag, Liebe erzählen. In der Beschäftigung mit den Kunstwerken sieht Anna auf ihre eigene Ehe zurück und findet den Mut zu einem neuen Selbstbild.Anna Michaelis, Journalistin, 50 Jahre, nimmt ihre Scheckkarte, ihr Handgepäck und geht. Gerade hat sie erfahren, dass ihr Mann, Altphilologe an einem Münchner Gymnasium, sie mit einer jungen Kollegin betrügt. Anna will retten, was zu retten ist, also sich. Doch wohin jetzt? Der erstmögliche Flug bringt sie nach Edinburgh, eine Stadt, in der sie nie war. Und da sie sich in der Fremde immer unter Bildern heimisch gefühlt hat, stolpert sie in die Schottische Nationalgalerie. Während sie müde und irritiert vor einem Gemälde von Gauguin sitzt, beginnt eines der bretonischen Mädchen, plötzlich zu sprechen. Es erzählt, wie es damals war in Pont Aven, als die Maler kamen. Anna staunt und versteht, dass weibliche Rückenfiguren wie jene Frau auf dem Gemälde Gauguins ihr etwas sagen können. Ihr verraten wollen, wie es wirklich war: als Modell, als Ehefrau eines Malers, als Künstlerin. Von da an begibt sich Anna, frisch verlassen, auf eine Reise zu Rückenfiguren in aller Welt: von Edinburgh nach Kopenhagen, weiter bis Boston und zurück auf den Kontinent nach St. Moritz; von dort nach Paris und noch einmal bis ins dänische Skagen. Anna begegnet Gemälden von Paul Gauguin, Vilhelm Hammershøi, Edward Hopper, Giovanni Segantini, Ingres, Jacobus Vrel und Anna Ancher. Über die Antworten der Bilder lernt Anna Michaelis, sich und ihre lange Ehe anders zu sehen, und am Ende weiß sie, dass sie neu beginnen kann.
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ERSTES BILD, ZWEITER TAG 1 Vor dem Hotel nieselte es. Anna schlug den Kragen ihres Trenchcoats hoch und lief schnell die braunglänzende mittelalterliche Gasse entlang Richtung National Gallery. Erstaunlicherweise hatte sie geschlafen. Traumlos. Zum Frühstück hatte sie ein Glas Orangensaft getrunken und eine Kanne grünen Tee. Essen mochte sie noch nicht. Vom Rand der Altstadt sah sie hinunter auf das Museum, das in einer großzügigen Parkanlage lag, und sie begann, die lange Flucht von Stufen hinunterzugehen. Auf einer Plattform kam sie an einem Bettler vorbei. Offensichtlich hatte er hier die Nacht verbracht, eingewickelt in eine Decke, unter Plastikfolien. Er mochte so alt sein wie sie oder jünger, auch wenn er älter wirkte. Sein Hals war schmal, seine Backenknochen standen mager hervor. Seine tiefliegenden Augen unter den dunklen Brauen erwiderten ihren Blick nicht. Eine kleine Drehung, dachte sie. Nur eine ganz kleine Drehung und man könnte Kontakt aufnehmen zu ihm. Der Gedanke erschreckte und beruhigte sie zugleich. Man könnte ihm Geld geben. Ihn zum Frühstück einladen. Und dann? Sie sah, wie er die Decke enger um sich zog. Auf einmal bemerkte sie an der Höhe seines Oberschenkels etwas, das sich bewegte. Sie verzögerte ihren Schritt. Eine schmale Schnauze schob sich flach über den Boden. Jetzt hob ein zerzauster weiß-grauer Hund seinen Kopf und sah sie mit schwarzen Augen an. Wann war man zuständig? Sie ging jetzt wieder schneller. Berührbar? Wann suchte man die Nähe zu einem ganz Fremden? Und stolperte in eine spontane Brüderlichkeit? Sie dachte an ihren Mann. Nach der Geburt ihres ersten Kindes hatte er, auf dem Weg von der Klinik zurück, in der Eisenbahnunterführung einem Bettler, der im feuchten Dunkel saß, einen großen Schein zugesteckt. Sie hatten damals kein Geld gehabt, wirklich nicht, Georg aber hatte, so war es ihm wohl erschienen, sein Glück teilen müssen. Damit er es aushalten konnte. Und sei es nur durch diese vermutlich alberne Geste. Als er ihr am Abend, am Bett in der Klinik, verschämt davon erzählte, hatte sie für eine sichere Sekunde gewußt, daß sie ihn liebte, und lachen müssen, ihr kleines Kind im Arm. Vor dem Museum stand ein Dudelsackbläser. Seine bloßen Knie sahen rosa und eckig unter einem karierten Faltenrock hervor. Er hatte unter einem Vordach Platz gefunden. Er blies und drückte. Da es regnete, blieb niemand vor ihm stehen, um ihm zuzuhören. Selbst zum Photographieren schien es zu naß. Im Wind erinnerten seine Töne an Katzen. Anna schob ihre Hände tiefer in die Trenchcoattaschen. Er stimmte hier nicht, er zitierte nur seine Existenz. Und dann dachte sie: immerhin. Das Museum hatte eben erst geöffnet. In den Gängen waren noch Putzfrauen unterwegs. Sie nickte zu den Belehrungen eines Museumswärters in Strickweste, der sie anwies, ihren kleinen Rucksack sorgfältig am Körper zu tragen, damit sie nirgends anstoße. Besser noch, sie würde ihn abgeben. Schnell war sie weitergegangen, den Rucksack wie eine Tasche halb unter die Achsel geklemmt. Sie nahm die Stufen hinauf, immer zwei der mit rosa Teppichboden überzogenen Stufen auf einmal. Und gleich stand sie wieder bei den Impressionisten. Als sie den runden Raum betrat, hörte sie es schon. Das Bild sprach. Hatte es auch in der Nacht gesprochen? Oder hatte es auf sie gewartet? Vorsichtig ging sie näher auf die Hauben, die Helme zu. Sie war allein im Raum, an den beiden Türen standen noch keine Aufseher. Er kannte mein Gesicht, war das erste, was Anna verstand. Aber er hat es nicht gemalt. Anna ging vorsichtig einen Schritt näher. Er kannte mein Gesicht. Und er malte es nicht. Aber so, wie er mich gemalt hat, steht er direkt hinter mir. Wir beide sehen dasselbe, das wir nicht sehen. Vision nach der Predigt! Seine Erfindung. Er steht in meinem Nacken. Ich spüre seinen Atem. Das war keine Erfindung. Auf keinem Bild. Natürlich, es war nicht das ganze Bild, das sprach. Anna blieb still stehen, als könnte sie das Bild erschrecken. Es war eine der Figuren, eine der bretonischen Frauen. Sie horchte. Sie trat wieder einen Schritt zurück und wartete. Nur aus meiner Haube, hörte sie nun leise, nur aus meiner Haube hat er Haare herausschauen lassen. Es mußte das Mädchen vorne sein, das sprach. Das Mädchen mit dem Haubenhelm, unter dem, abgeflacht und weiß wie eine Leinwand, sich einige Locken hervorkringelten. Niemandem wird das auffallen. Außer mir. Hat er es deswegen gemalt? Hat er es gemalt, damit ich es sehe, damit ich ihn sehe, der mein Haar kannte, dieses so schlecht zu bändigende Haar. Hat er es für mich gemalt? Auch wenn er mir mein Gesicht nicht gegeben hat? Florence schon. Florence bekam ein Gesicht. Züge, die ihr ähnlich sehen. Wie konzentriert sie auf diesen Ringkampf schaut, als könne, als müsse ihr Blick ihn beglaubigen. Den Engel, der Jakob niederdrückt, den Jakob um die Taille faßt, an der Wade hält. Florence war die klügste von uns, die schönste. Wir bewunderten Florence, wir liebten sie. Anna sah auf die junge Bretonin vorne im Halbprofil. Wie sie mit Schwung die Wasserkaraffe auf den Tisch setzte, die Weingläser. Wie sie das knusprige Brot schnitt, daß die dünne Kruste absplitterte. Wie sie sich umdrehte in der langen Schürze. Die Hände abstreifte am steifen Stoff. Und er, der sie festhielt am Arm. Florence. Ich habe mich nicht gewundert, als ich sie auf dem Bild sah. Sehend. Als einzige von uns. Und Monsieur le Curé schlägt die Augen nieder. Vor allem! Glaubte er wirklich, wir hätten ihn nicht erkannt, da am Bildrand. Hier ist nichts fromm, und am wenigstens dieser Pfarrer, der nur darauf zu warten scheint, daß die mit offenem Blick schauende Florence ihn mit ihren schönen Lippen auf die Stirn küßt. Alle, die dabei waren in diesen Tagen, haben es gesehen: Der Mann unten rechts ist der Maler. Und kein Pfarrer. Es ist der Maler, der sich unter uns geschmuggelt hat. Vor dem Begehren schlägt er die Augen nieder. Nicht vor Gott. Vor Florence. Und Florence ist Florence. Und er war vernarrt in sie. Mit ihr hatte seine Vision zu tun. Also ein wenig auch mit uns. Und auch der geflügelte Kampf ist er. Das haben wir begriffen, bevor er uns malte. Mit sich ringt er! Ein Maler muß er werden. Endlich ein richtiger Maler. Und beugt, wie ein Pfarrer, davor sein Haupt. Vor diesem Ringen. Frau und Kinder hatte er in Paris zurückgelassen. Daß er sie mit uns betrog, hat ihn nicht wirklich irritiert. Aber dieser Engel, dieser Engel, der etwas von ihm wollte. Der schon. Als ich das Bild sah, wußte ich, er würde gehen. Familienvater, Bankangestellter. Das war vorbei. Und jetzt auch Florence. Als ich das sah, wußte ich, auch Florence war vorbei. Pont-Aven war vorbei. Anna sah auf die Haube. Täuschte sie sich oder bewegten sich kaum merklich die breiten Bänder? Ja, und einmal stand er auch hinter mir. Ich war zu jung, die jüngste und die blödeste. Ich war nicht sicher und schön und erfahren wie Florence, die mit den Malern machte, was sie wollte. Gegen jeden Pinselstrich. Auf einmal schüttelte das Mädchen den Kopf, eine Locke rutschte ihr tief zwischen die Schulterflügel auf ihr dunkles Kleid. Ich weiß schon, welche Furt er meinte. Dagelegen bin ich wie ein Strom. Unterm Apfelbaum. Anna blieb ganz still. Sie sah das Helmmädchen jetzt im Halbprofil. Sie war jünger, als sie erwartet hatte. Sie hatte ein weiches Kinn. Und eine Sekunde weiter sah Anna, daß ihre Augen braun waren. Anna sah in die Augen des bretonischen Kindes, das durch Anna hindurchsah. Aber es war ja nicht die Liebe, wie denn auch! Es war nichts, was mit dem Leben zu tun hatte, nur mit der Leinwand. Die Liebe war ihm wie die Farbe. Ein schönes Material, mit dem er etwas machte. Es war – Kinder stürmten herein, eine Schulklasse. Ihre Lehrerin, das schwarze Haar streng zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, ein rotes Moleskine-Notizbuch in der Hand, folgte ihnen. Bei jedem Schritt spannte der enge Rock ihres tintenblauen Deux-Pièces. Sie trug schmale Pumps und anthrazit schimmernde Seidenstrümpfe. Die Schüler hielten Zettel in den Händen, offensichtlich standen darauf Fragen, die sie auszufüllen hatten. Suchend schwärmten sie aus. Sie schienen nicht alle die gleichen Bögen zu haben, denn sie ließen sich vor verschiedenen Bildern nieder. Sie begannen zu diskutieren. Manche schrieben schon oder zeichneten am Boden hockend im Schneidersitz. Die Lehrerin lehnte an der Türöffnung. Als ihre Blicke sich trafen, sah Anna weg und schnell wieder hin zu den hellen, weißen Hauben über den dunklen Kleidern, vor dem lackroten Platz. Auf einmal roch sie einen Hauch von Sommerluft. Warmen Sand, Heu. Aber das Bild hatte sich wieder geschlossen; das Mädchen stand bewegungslos, eine behelmte, flächige Rückenfigur. Anna schien es, als nähme sie noch ein Zittern der Hauben wahr, eine letzte Bewegung im Blattwerk...


Overath, Angelika
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane „Nahe Tage“, „Flughafenfische“, "Sie dreht sich um" und "Ein Winter in Istanbul" geschrieben. "Flughafenfische" wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.



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