E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: metro
Padura Der Nebel von gestern
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30484-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mario Conde ermittelt in Havanna. Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: metro
ISBN: 978-3-293-30484-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2
Was zum Teufel tue ich hier? El Conde stand in der Kirchentür und atmete genüsslich die feuchte Luft ein, die durch das Mittelschiff des schlichten Sandsteingebäudes mit dem Ziegeldach wehte. Vor siebenundvierzig Jahren – in letzter Zeit zählte er die Jahre, und es wurden immer mehr – war er zum ersten Mal hier gewesen, um das Sakrament der Taufe zu empfangen. Vom Hauptaltar, vielleicht etwas zu diskret, schaute ihm das friedvolle Bild des Erzengels Rafael entgegen, mit dem rosig reinen Gesicht eines himmlischen Wesens, das gegen jede Unbill der Welt gefeit ist. Die Reihen der dunklen, zu dieser morgendlichen Stunde leeren Bänke standen im Kontrast zu dem Lärm der Straße und ihrem bunten Treiben, den Ölgebäck- und Kuchenverkäufern, den eiligen Passanten und Zeittotschlägern, den schon morgens grölenden Besoffenen, die in der Eckkneipe herumhingen, und den alten Leuten, die schicksalsergeben darauf warteten, dass die Cafeteria öffnete, um ihre leeren Mägen zu besänftigen. In den letzten zehn, zwölf Jahren hatte El Conde die Kirche seines Viertels verdächtig oft besucht. Obwohl er nie an einer Messe teilnahm und nicht im Traum daran dachte, in einem Beichtstuhl niederzuknien, verschafften ihm die Minuten, in denen er sich in das leere Gotteshaus setzte, um einen klaren Kopf zu bekommen, ein Gefühl von Gelassenheit, das frei war von jeder mystischen Verzückung und jedem spirituellen Bedürfnis nach überirdischen Dingen. Ungeachtet ihrer eigentlichen Funktion, die El Conde nicht in Anspruch nahm – er betete nie, erbat nichts, denn er hatte alle Gebete vergessen und wusste auch nicht, an wen er sie hätte richten sollen –, war die Kirche für ihn so etwas wie ein Refugium geworden, wo die Zeit und das Leben den wilden Rhythmus des täglichen Überlebenskampfes verloren. Und obwohl er nicht an ein Jenseits glaubte, hatte er ein vages Gefühl, das er noch nicht zu deuten wusste und das zwar seinen unerschütterlichen Atheismus nicht beseitigen konnte, ihn aber nach und nach zu durchdringen begann und ihn unaufhaltsam zu jener Welt hinzog. Ihn beschlich die dunkle Ahnung, dass die Jahre mit ihren Enttäuschungen, die seiner Seele zu schaffen machten, ihn vielleicht doch noch in die Herde derjenigen treiben oder, besser gesagt, zurückführen würden, die Trost im Glauben finden. Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit war ihm unbehaglich. Seinem tief verwurzelten Verständnis von Treue erschienen Bekehrte zuweilen so verachtenswert wie Abtrünnige oder Verräter, aber ein Wiederbekehrter kam ihm ganz besonders verabscheuungswürdig vor. An jenem Morgen betrat El Conde die Kirche voller Erwartung. Heute war er nicht auf der Suche nach friedvoller Gelassenheit, sondern nach einer unwahrscheinlichen Antwort, die in keinerlei Zusammenhang mit den Geheimnissen des Überirdischen stand, sondern mit denen seiner eigenen Vergangenheit in der irdischsten aller möglichen Welten. Deswegen setzte er sich nicht unauffällig in eine der Bänke, sondern ging durch den Mittelgang direkt in die Sakristei, wo er wie erwartet die immer noch aufrechte, kräftige Gestalt des achtzigjährigen Pater Mendoza antraf, vor sich die im Buch der Apokalypse aufgeschlagene Bibel. Vielleicht suchte er gerade eine geeignete Stelle für die nächste Predigt. »Guten Morgen, Hochwürden«, sagte El Conde und trat ein. »Und, ist es so weit?«, fragte der Alte, ohne den Blick zu heben. »Noch nicht.« »Warte nicht zu lange«, warnte der Pfarrer. »Worauf wollen wir uns denn nun einigen? Ist die Zeit des Herrn unendlich oder nicht?« »Die des Herrn ja, aber deine nicht und meine auch nicht«, fügte der Alte hinzu und sah Mario lächelnd an. »Warum willst du mich unbedingt bekehren?«, fragte El Conde. »Weil du danach schreist. Du behauptest steif und fest, dass du nicht gläubig bist, dabei gehörst du zu denen, die ohne Glauben nicht leben können. Du musst dir nur ein Herz fassen und den ersten Schritt tun.« Mario konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sollte das wirklich stimmen, oder handelte es sich um eine sibyllinische Argumentation des listigen Pfarrers? »Ich bin noch nicht bereit, wieder an bestimmte Worte zu glauben. Außerdem wirst du dann Dinge von mir verlangen, die ich weder tun kann noch will.« »Zum Beispiel?« »Das erzähl ich dir, wenn du mir die Beichte abnimmst«, antwortete Mario ausweichend, und um wieder zu weltlichen Dingen zurückzukehren, bot er dem Pfarrer eine Zigarette an, während er sich selbst eine in den Mund steckte. Er gab Feuer, und die beiden Männer verschwanden in einer Rauchwolke. »Ich bin zu dir gekommen, weil ich etwas wissen will, was du mir vielleicht sagen kannst. Seit wann kennst du meine Familie?« »Seit ich in dieser Pfarrei angefangen habe, vor achtundfünfzig Jahren. Da hast du noch gar nicht daran gedacht, auf die Welt zu kommen. Dein Großvater Rufino, ein noch größerer Atheist als du, war mein erster Freund hier im Viertel.« El Conde nickte gedankenverloren und überlegte wieder, ob es eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Der Geistliche, der sich mit delikaten Situationen auskannte, ermunterte ihn: »Also, was willst du wissen?« Mario sah ihn an und spürte wieder das Vertrauen, das der Alte ihm einflößte, der Mann, der ihm einmal das kleine Scheibchen aus ungesäuertem Brot auf die Zunge gelegt hatte, von dem er behauptete, es sei der Körper Christi. »Hast du mal was von einer Frau namens Violeta del Río gehört?« Erstaunt über diese unerwartete Frage hob der Pfarrer den Kopf. Er zog ein paarmal an der Zigarette, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückte, und sah dann seinen Besucher an. »Nein«, sagte er entschieden. »Warum?« »Ich bin gestern auf diesen Namen gestoßen, und ich weiß nicht, wieso, aber ich meine, ich hab ihn schon mal irgendwo gehört. Mir ist so, als hätte er in mir geschlummert und wäre jetzt wieder aufgewacht. Aber ich kann nicht sagen, wo und in welchem Zusammenhang ich ihn gehört habe …« »Wer ist die Frau?«, erkundigte sich der Pfarrer. El Conde erklärte es ihm, wobei er in dieser Geschichte ohne Hand und Fuß zu ergründen versuchte, warum Violeta del Río ihm geheimnisvoll und irgendwie bekannt vorkam. »Wie alt warst du 1958?«, fragte ihn der Geistliche und sah ihm direkt in die Augen. »Drei«, antwortete Mario. »Warum?« Der Alte dachte eine Weile nach. Er schien sich genau zu überlegen, was er sagen wollte und was nicht. »In der Zeit war dein Vater in eine Sängerin verliebt.« »Mein Vater?« Mario war perplex, denn das, was der Pfarrer gesagt hatte, passte nicht zu dem häuslichen, korrekten Bild, das er von seinem Vater hatte. »Verliebt? In Violeta del Río?« »Ich weiß nicht, wie sie hieß, habs nie erfahren. Es kann also sehr wohl sein, dass es Violeta del Río war oder eben irgendeine andere. Soviel ich weiß, war es eine platonische Liebe. Aber immerhin eine Liebe. Er hat sie singen hören und war gleich verrückt nach ihr. Ich glaube, darüber ist es nicht hinausgegangen … Sie lebten in verschiedenen Welten, sie und dein Vater. Er konnte nicht an sie herankommen, und anscheinend wusste er das auch von Anfang an. Deine Mutter hat es nie erfahren. Es hat überhaupt nie jemand davon erfahren, außer mir.« »Und warum kommt mir der Name bekannt vor?« »Hat er dir nie von ihr erzählt?« »Ich glaube, nein, ich weiß nicht … Mein Vater hat mit mir nie über sich selbst gesprochen, du kanntest ihn ja. Nein, von ihm hab ich den Namen bestimmt nicht gehört.« Mario versuchte sich das monolithische Bild seines Vaters zu vergegenwärtigen, des Mannes, zu dem er nie das Verhältnis hatte aufbauen können, das er zu seiner Mutter und seinem Großvater, Rufino Conde, gehabt hatte. Sie hatten einander geliebt, da war sich Mario sicher, aber keiner von beiden war jemals fähig gewesen, es auch zu zeigen oder gar zu sagen, und so hatte Sprachlosigkeit den größten Teil ihres Lebens begleitet. Sich seinen Vater in Bars und Cabarets vorzustellen, auf der Jagd nach einer schönen Bolerosängerin, das passte nicht zu dem Bild, das er von ihm hatte. »Aber es muss so gewesen sein … Vielleicht hat er dir einmal davon erzählt, und du hast die Geschichte vergessen. Ein verliebter Mann erzählt alles Mögliche.« »Ja, das weiß ich. Aber er nicht.« »Wieso bist du dir da so sicher? Er war ein Mann wie alle anderen.« »Wir haben nur sehr wenig miteinander gesprochen.« »Und deinem Großvater? Hat er es ihm vielleicht erzählt?« »Nein.« »Möglicherweise doch. Er hat es dem alten Rufino erzählt, und du hast mitgehört und …« »Aber was muss das für eine Frau gewesen sein, dass mein Vater sich in sie verliebt hat?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Pfarrer lächelnd. »Er hat mir nur erzählt, dass die Sängerin, Violeta oder wie sie auch hieß, sich ganz übel in seinem Kopf festgesetzt hatte. Dein Vater kam zu mir, weil er meinte, er müsste verrückt werden. Hier hat er mir alles erzählt, genau hier … Der Ärmste.« El...