E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Padura Labyrinth der Masken
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30488-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Havanna-Quartett »Sommer«
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-30488-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Bosque de La Habana wird am 6. August, am Tag der Verklärung Jesu, die Leiche eines Transvestiten gefunden. Als sich herausstellt, dass es sich bei dem Toten um Alexis Arayán, den Sohn eines Diplomaten, handelt, will sich bei der Polizei keiner die Finger an dem Fall verbrennen.
Nur Mario Conde, für sechs Monate zum Erkennungsdienst strafversetzt, ist froh, nicht mehr länger Karteikarten ausfüllen zu müssen, und springt ohne zu zögern ein. Seine Ermittlungen führen ihn zu Marqués, einem exzentrischen und legendären Theaterregisseur, der als Homosexueller geächtet in einem zerfallenden Haus lebt. Kultiviert, intelligent und mit feiner Ironie begabt, führt dieser Conde in eine verborgene Welt ein und treibt gleichzeitig ein listiges Verwirrspiel.
Weitere Infos & Material
1
Die Hitze ist eine schreckliche Plage, die alles und alle heimsucht. Die Hitze senkt sich wie ein weiter Mantel aus roter Seide herab, geschmeidig und zäh umhüllt sie Körper, Bäume und Dinge, um ihnen das böse Gift der Verzweiflung und des langsamen, sicheren Todes einzuflößen. Die Hitze ist ein Urteil, gegen das weder Berufung eingelegt noch mildernde Umstände geltend gemacht werden können. Sie scheint es darauf abgesehen zu haben, das gesamte Universum zu zerstören, auch wenn nur die gottlose Stadt oder das verfluchte Viertel in ihren tödlichen Strudel gerissen werden sollen. Die Hitze ist eine Qual für die räudigen Straßenköter, die in der Wüste herumirren auf der Suche nach einer Wasserpfütze; für die Greise, die sich auf ihren müden Beinen und noch müderen Krücken durch die Hundstage schleppen in ihrem täglichen Kampf ums nackte Weiterleben; für die einst so majestätischen, nun aber von der Geißel ansteigender Temperaturen gebeugten Bäume; für den leblosen Staub an den Bordsteinen, der sich nach dem lange ausbleibenden Regen oder nach einem einsichtigen Wind sehnt, bereit, sich von ihnen wieder zum Leben erwecken zu lassen und sich in Schlamm oder in Staubwolken, in Sturzbäche oder Drecklawinen zu verwandeln. Die Hitze zermalmt alles, sie tyrannisiert die Welt, zerstört das, was noch nicht verloren ist, und erzeugt nichts als Wut und Rachsucht, die teuflischsten Neid- und Hassgefühle, so als wäre ihr einziges Ziel das Ende der Welt, der Geschichte, der Menschheit, der Erinnerungen … Scheiße noch mal, murmelte er, so eine verdammte Hitze. Er nahm die Sonnenbrille ab, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen, und spuckte auf die Straße. Der zähe Speichel rollte über den durstigen Staub, der ihn gierig aufsaugte. Der Schweiß brannte ihm in den Augen. Mario Conde richtete den Blick gen Himmel und flehte darum, eine gnädige Wolke möge sich erbarmen. Plötzlich attackierte lautes Stimmengewirr sein Hirn. Ein mehrstimmiger Chor der Rache oder des Triumphes erfüllte die Luft, so als wäre er jäh aus der Erde hervorgebrochen, um gegen die Nachmittagshitze zu protestieren. Für einen Moment übertönte er den Lärm der Autos und Lastwagen, die über die Calzada röhrten, und setzte sich hartnäckig im Gedächtnis des Teniente fest. Mario ging bis zur nächsten Straßenecke, und erst da sah er sie. Während die einen feierten, sich auf die Schultern klopften und herumgrölten, beschimpften sich die anderen in gleicher Lautstärke, allerdings mit entsprechend feindseligen Mienen, wobei sie sich gegenseitig die Schuld daran gaben, dass Erstere sich vor Glück kaum einkriegten. Die einen haben gewonnen, die anderen verloren, schloss Mario messerscharf. Er blieb stehen und sah sich das Spektakel an, das von den Jungen zwischen zwölf und sechzehn Jahren veranstaltet wurde. Alle Hautfarben waren vertreten, und es gab Dicke und Dünne, Große und Kleine unter ihnen. Wenn vor zwanzig Jahren jemand wie ich ein solches Geschrei vernommen hätte und an dieser Straßenecke stehen geblieben wäre, dachte El Conde, dann hätte er genau dasselbe gesehen wie ich jetzt: Jungen aller Hautfarben, Dicke und Dünne, Große und Kleine, und der da, der am lautesten herumschrie vor Ärger oder vor Freude, das wäre bestimmt der kleine Condesito gewesen, der Enkel von Rufino Conde. Den Teniente überkam das Gefühl, dass die Zeit hier stehen geblieben war. Genau diese Seitenstraße hatte nämlich schon damals als Baseballfeld gedient, auch wenn für kurze Zeit mal ein treuloser Fußball gesichtet oder ein abtrünniger Basketballkorb an einen der Strommasten genagelt worden war. Dann hatte jedoch bald wieder der Baseball – mit dem Schlagstock oder mit der Hand, über vier Ecken, mit drei rolling-un-fly oder gegen die Wand – ohne große Diskussion die Herrschaft über jene flüchtigen Modeerscheinungen übernommen. Baseball war eine ansteckende Krankheit, eine chronische Leidenschaft, von der Mario und seine Freunde dauerhaft und heftig befallen gewesen waren. Trotz der Hitze eigneten sich die Augustabende bestens für ein Baseballspiel an der Ecke. Die Sommerferien sorgten dafür, dass sich alle Welt zu jeder Tageszeit auf der Straße herumtrieb. Man hatte nichts Besseres zu tun, und die unermüdliche Sonne erlaubte es, eine richtig spannende Partie auch noch weit nach acht Uhr zu Ende zu spielen. In letzter Zeit jedoch hatte El Conde nur selten Gelegenheit gehabt, solchen Partien zuzuschauen. Offenbar bevorzugten die Jungen aus dem Viertel andere, weniger Kraft raubende und weniger Schweiß treibende Zerstreuungen als die, in der glühenden Sommersonne stundenlang zu rennen, den Ball zu schlagen und herumzuschreien. Mario fragte sich, womit sich die Jungs heutzutage die langen Nachmittage und Abende vertrieben. Wir jedenfalls haben ständig Baseball gespielt, erinnerte er sich. Und dann fiel ihm ein, dass nicht mehr viele von ihnen hier im Viertel wohnten. Während die einen wegen kleinerer oder größerer Delikte im Gefängnis aus- und eingingen, hielten sich andere an so unterschiedlichen Orten wie Alamar, Hialeah, Santiago de las Vegas, Union City, Cojímar oder Stockholm auf. Und einer hatte inzwischen sogar eine Reise ohne Wiederkehr zum Friedhof Colón angetreten. Armer Marquitos … Selbst wenn sie, die von damals, es also wollten, wenn sie noch genügend Kraft in Armen und Beinen hätten, dachte er, selbst dann könnten sie keine ordentliche Baseballpartie dort an der Ecke austragen. Das Leben hatte diese Möglichkeit, wie so viele andere, zunichte gemacht. Freudengeheul und Zähneknirschen waren vergessen, und die Jungen beschlossen, eine weitere Partie zu spielen. Zwei von ihnen, allem Anschein nach die Anführer der Gruppe, stellten die Mannschaften neu zusammen. Diesmal sollte ein ausgewogeneres Kräfteverhältnis dafür sorgen, dass der Kampf um den Sieg unter gerechteren Bedingungen stattfinden konnte. Da hatte Mario eine Idee. Er würde sie bitten, ihn mitspielen zu lassen. Die acht Stunden im Büro des Erkennungsdienstes der Polizeizentrale hatten ihn zwar ziemlich mitgenommen, aber es war erst sechs Uhr nachmittags und er verspürte noch keine Lust, in die Hitze seines einsamen Heimes zurückzukehren. Das Beste würde es sein, sich bei einem spannenden Baseballspiel zu entspannen. Wenn sie ihn ließen. Er ging zu dem Holzbrett, das ihnen als home-plate diente, und sprach Felicios Sohn an. Der schwarze Felicio war einer von denen, die früher immer mit ihm gespielt hatten. El Conde hatte ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, und so nahm er an, dass er wieder mal im Knast gelandet war. Der Sohn war genauso schwarz wie sein Vater und hatte auch jenen durchdringenden, säuerlichen Schweißgeruch geerbt, an den Mario sich noch so gut erinnerte. Zu oft war er ihm in die Nase gestiegen, wenn er mit Felicio unterwegs gewesen war. »Rubén«, sagte er zu dem Jungen, der ihn überrascht ansah, »was meinst du, kann ich wohl ein bisschen bei euch mitspielen?« Der Junge starrte ihn an, als hätte er ihn nicht richtig verstanden. Dann sah er zu seinen Freunden hinüber. El Conde hielt eine Erklärung für angebracht. »Hab schon lange nicht mehr gespielt, und jetzt hätte ich Lust, mal wieder ein paar Bälle zu fangen …« Rubén wandte sich den anderen zu, um die Verantwortung für diese folgenschwere Entscheidung nicht alleine tragen zu müssen. In diesem Land ist es besser, alles mit allen zu besprechen, dachte Mario, während er auf den Urteilsspruch wartete. Die Gruppe war offenbar geteilter Meinung, und die Entscheidung ließ lange auf sich warten. »Okay«, sagte Rubén schließlich in seiner Funktion als Vermittler. Doch weder er noch die anderen Jungen schienen begeistert von der erteilten Spielerlaubnis. Während noch über die Zusammenstellung der beiden Mannschaften diskutiert wurde, zog Mario das Hemd aus und krempelte die Hosenbeine zweimal um. Zum Glück hatte er heute seine Dienstpistole nicht dabei. Er legte das Hemd über das Mäuerchen vor dem Haus, in dem Enrique gewohnt hatte. El Gallego. Wie lange war der jetzt schon tot? Zehn Jahre, zwanzig, tausend? Mario wurde Rubéns Mannschaft zugeteilt. Als er sich dann aber mitten unter den Halbwüchsigen wiederfand, mit freiem Oberkörper wie sie, merkte er, wie absurd und widernatürlich das alles war. Er spürte die ironischen Blicke der Jungen auf seiner Haut und dachte, dass er ihnen wohl wie der erste Missionar vorkommen musste, der auf einen abgeschieden lebenden Indianerstamm gestoßen war. Ein Fremder mit fremder Sprache und fremden Gewohnheiten, für den es nicht leicht sein würde, sich in der verschworenen Gemeinschaft zurechtzufinden, die ihn weder gerufen noch gewollt hatte und ihn nicht verstehen konnte. Außerdem wussten bestimmt alle, dass er Polizist war, und bei dem uralten Verhaltenskodex in diesem Viertel war es ihnen sicher nicht gerade angenehm, von anderen beim gemeinsamen Baseballspiel mit einem Bullen gesehen zu werden, auch wenn der ein noch so guter Freund ihrer Väter oder älteren Brüder war. Ja, bestimmte Dinge änderten sich nicht an dieser Ecke. Seine Mitspieler gingen bereits auf ihre Plätze. Mario nahm sein Hemd vom Mäuerchen und näherte sich Rubén. Er wollte ihm den Arm um die Schultern legen, hielt sich dann aber zurück, als er an die Schweißschicht dachte, die die Haut des Jungen überzog. »Entschuldige, Rubén, aber mir ist eben eingefallen, dass ich gleich angerufen werde. Ich spiel ein andermal mit …«, sagte er. Und entfernte sich in Richtung Calzada. Er fühlte, wie ihm die inzwischen tief stehende rote Sonne unbarmherzig Haut und Seele verbrannte. Über...