Padura | Neun Nächte mit Violeta | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Padura Neun Nächte mit Violeta

Erzählungen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30944-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-293-30944-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dreh- und Angelpunkt der Geschichten ist Paduras Havanna. Alles, was wir aus seinen Romanen kennen, ist da: der Bolero, die Hitze, die Bars, in denen am Weihnachtsabend der Rum ausgeht, die zu kleinen Wohnungen mit Wasserflecken an den Decken, der Applaus aus dem Baseballstadion, die Düfte aus all den zur Straße hin offenen Küchen.

Padura macht aus Alltagsszenen dieser turbulenten Stadt kurze, dichte Erzählungen, die oft die Tragik eines ganzen Menschenlebens erfassen. Diese Geschichten sind der erste Carta blanca on the rocks für alle, die Padura noch nicht kennen. Seine Leser entdecken viele neue Facetten eines vertrauten Kosmos.

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Die Puerta de Alcalá
Es beliebte zu geschehen. Marc Aurel (Inschrift auf der Zimmertür von Seymour und Buddy Glass, in: J. D. Salinger, Franny und Zooey) 1
Das Unglück kann man auch herbeireden, hatte er immer sagen hören. Und das Jornal de Angola berichtete wieder einmal von einer bevorstehenden Invasion der Südafrikaner. Diese Nachricht wurde wöchentlich verbreitet, zusammen mit Gewissheiten und angeblich unwiderlegbaren Tatsachen, logistischen Angaben und Regierungserklärungen. Doch obwohl die Buren in den letzten dreiundzwanzig Monaten die Grenze zu Namibia mit bedrohlichen Flugzeugen und schlagkräftigen Panzern wiederholt überschritten hatten, fand die angekündigte Invasion nicht statt. Dennoch fröstelte es ihn immer, wenn er diese Nachricht las. Es war eine dunkle, deutlich spürbare Angst, die vom Magen ausging, seine Beine zu Pudding werden ließ und ihn veranlasste, wen auch immer anzuflehen, das drohend Bevorstehende möge bis nach Februar warten. Dann nämlich würde er bereits weit weg sein von alldem, und sein zweijähriger Einsatz in Angola wäre unwiderruflich Vergangenheit. Allerdings konnte diese Angst unmittelbare Auswirkungen haben. Kaum hatte er die Überschrift und ein paar Zeilen des ersten Absatzes gelesen, musste er sein Bett verlassen und, mit der Zeitung unter dem Arm, so rasch wie möglich das Bad aufsuchen und sich, schon auf dem Weg dorthin, die Hose aufknöpfen. Nach all den Monaten wusste er um Ursache und Wirkung jenes unkontrollierbaren Gefühls, das er in Angola kennengelernt hatte und bei aller Zwiespältigkeit in der beruhigenden Gewissheit, dass seine Angst nicht unbedingt Feigheit war, inzwischen genoss. Wenn er also auf der Kloschüssel saß, begann er, die erste Seite, die seine Ängste heraufbeschworen hatte, sorgfältig abzutrennen, um sich auf die eschatologischste und symbolischste Art, die er kannte, an ihr zu rächen: Er würde sich den Hintern mit der Nachricht abwischen. Während er auf das Ende des unfreiwilligen Reflexes wartete, drehte er die Zeitungsseite um und entdeckte eine kurze Notiz, deren Überschrift von knapp zwanzig Anschlägen lautete: DER GANZE VELÁZQUEZ. Darunter wurde berichtet, dass vom 23. Januar bis zum 30. März im Prado die, wie es hieß, »Ausstellung des Jahrhunderts« stattfinden werde, in der zum ersten und einzigen Mal seit ihrem Entstehen neunundsiebzig Meisterwerke des Künstlers aus Sevilla zu sehen sein würden, zusammengetragen aus allen Teilen der Welt, um in den Bestand des bedeutenden spanischen Museums aufgenommen zu werden. Während er damit beschäftigt war, sich mit der Sportseite den Hintern gründlich abzuwischen, widmete er sich einer weiteren seiner Lieblingsobsessionen: ›Die Welt ist ein großer Scheißhaufen‹, dachte er, ›und ich scheiße auf Angola und die Leute in Madrid, die sich darauf freuen, diese einmalige Ausstellung von Diego Velázquez anzusehen.‹ Seit er vor nunmehr fast zwei Jahren von Kuba nach Angola geflogen war, hatte er keinen Augenblick aufgehört, so zu denken. Er dachte es, wenn er zwei Mal wöchentlich seiner Frau diese endlosen und herzzerreißenden Briefe schrieb, in die er all seine Verzweiflung legte. Er dachte es an den Tagen, an denen er vom Fenster seines Zimmers aus das Leben in dem Lager beobachtete, das mehrere Familien in einer 1976 von den Portugiesen aufgegebenen Lagerhalle errichtet hatten, und sah, wie die Männer in der Hocke auf irgendwelchen Kräutern kauend ihrerseits die ausgemergelten Frauen beobachteten, die Yuccawurzeln und Fisch für ihren Maisbrei, den Funche, auf einem Holzfeuer kochten, während sie rotznasigen, apathischen Säuglingen, die vielleicht nie erfahren würden, dass das Wort »Glück« überhaupt existierte, die Brust gaben. Und er dachte es, wenn er durch die Straßen von Luanda ging, wobei er den Müllsammlern an jeder Ecke auswich und das Gesicht abwandte, wenn er den unzähligen Versehrten eines realen und endlosen Krieges begegnete und sich fragte, warum, zum Teufel, es Menschen gab, die dazu verdammt waren, so zu leben, während er, ausgerechnet er, ohne Erwartungen, aber auch ohne Hunger durch diese kaputte, fremde Stadt schlich, die sich ihm nicht erschloss, sich nicht verstehen ließ, und deren endgültiges Schicksal sich vorzustellen ihm ebenso wenig gelang. Seitdem war jeder beginnende Tag ein Kreuz auf einem der drei Kalender, die über seinem Bett hingen und von denen der letzte abrupt endete: Er bestand lediglich aus dem Monat Januar 1990, und jetzt waren es nur noch acht Ziffern, die durchkreuzt werden mussten. »Was hast du dir denn reingepfiffen, als du das geschrieben hast, Kollege? Rum, Marihuana und was noch? Das ist doch nicht normal, bei Gott, wirklich nicht …« Der Chefredakteur der Zeitung schien so überzeugt von seiner Vermutung, dass er zusätzlich noch den Kopf schüttelte und lachte. Er fand fast alles zum Lachen. Aber diesmal hat er nicht ganz unrecht, dachte Mauricio und redete weiter auf ihn ein: »Schau mal, Alcides, ich bin doch nicht blöd, das weißt du. Es gibt eine Menge Leute, die nach Berlin oder Madrid fliegen, und wenn du ein bisschen nachhilfst, kann auch ich nach Madrid fliegen.« »Und wie soll ich das begründen? Dass du dir in Spanien ein paar Bilder ansehen willst? Hör mal, Mauricio, wenn ich das sage, dann ist mein Einsatz hier zu Ende. Sie erklären mich für unzurechnungsfähig und schicken mich nach Hause, wenn nicht Schlimmeres.« Draußen, vor dem offenen Fenster, erhob sich plötzlich ein starker Wind, und der Chefredakteur musste seine Arme schützend auf die Papiere legen, damit sie nicht vom Schreibtisch geweht wurden. Es sah ganz so aus, als würde es in Luanda zum zweiten Mal in diesem Sommer regnen, und Mauricio hoffte, dass es ein verheerender Platzregen werden würde. »Warum? Weil sie glauben werden, dass ich in Spanien bleiben will, ja? Das ist doch bescheuert, Alcides. Da hast du dir zwei Jahre lang in Angola den Arsch aufgerissen, bist von dem Scheißchloroquin halb blind geworden und hast dir den Magen vom Büchsenfleisch verkorkst, und dann kommt irgend so ein Arschloch und unterstellt dir, dass du dich absetzen willst. Find ich ja ganz reizend …« Der Chefredakteur ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte aufgehört zu lachen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, so als wollte er mit dieser Geste die Müdigkeit und die Falten der letzten Monate vertreiben. In Kuba hatte er es nur zum stellvertretenden Leiter einer Regionalzeitung gebracht, aber er war auch ein vertrauenswürdiger Kader, und darum hatten sie ihn nach Angola geschickt, um die Zeitung für die freiwilligen kubanischen Kämpfer zu leiten, eine Arbeit, die er mit der größten Zuverlässigkeit erledigte. Auf jeden Fall aber war er ein umgänglicher und auch intelligenter Mann. »Schau mal, Mauricio, ich glaube, ich kenne dich sehr gut«, sagte er schließlich, jetzt ohne zu lachen, »und ich glaube, dass man die Menschen hier in Afrika noch besser kennenlernt. Aber du musst nicht meinen, dass die anderen so denken wie ich. Du hast einen Haufen Scheiße in deiner Akte, und das weiß hier jeder, sogar der Bekloppte, der nackt über den Kinaxixi-Platz spaziert. Und du wärst nicht der Erste, der in Spanien bleibt, das weißt du. Außerdem ist da noch das Problem mit dem Flugticket …« »Du meinst also, man wird mir wieder mit dem alten Scheiß kommen, ja? Verdammt komisch nur, dass es bei den anderen keine Probleme gibt. Zumindest bei denen, die dann geblieben sind …« Der Chefredakteur lachte wieder, beinahe wider Willen, und warf die Zigarettenkippe von seinem Schreibtischstuhl aus durchs offene Fenster. »Erpress mich nicht, du Klugscheißer … Eine Ausstellung von Velázquez also … Na gut, mal sehen, was ich machen kann. Aber vergiss nicht, wenn du Scheiße baust, reißt man mir die Eier ab.« »Wär nicht der schlechteste Grund«, erwiderte Mauricio. Manchmal ist das Leben eben doch nicht nur Scheiße, dachte er. Für Velázquez zumindest war das Leben nicht Scheiße gewesen. So etwas Ähnliches versuchte Emma Micheletti, in dem Büchlein über den Maler zu zeigen, das Mauricio in einer der drei Buchhandlungen von Luanda gefunden hatte, als er während der ersten drei Monate seines Angola-Einsatzes noch in Museen und Buchhandlungen gegangen war. Das Bändchen Velázquez stand, verstaubt und fleckig, in einem der hinteren Regale, zusammen mit anderen Büchern, die man hier nicht erwartet hätte – Der Staat von Platon, auf Deutsch, die Gesammelten Werke von Erasmus, auf Italienisch, und einige Broschüren über Fußball, auf Portugiesisch –, und obwohl man es ihm als neu verkaufte, hatte es bereits eine Besitzerin gehabt: María Fernanda hatte es nicht nur mit Namen und Datum (9. 7. 1974) versehen, sondern auch einige Passagen und einzelne Sätze unterstrichen, die ihr aus verschiedenen Gründen – oder aus einem bestimmten – wichtig erschienen waren. Vielleicht wegen seiner Unfähigkeit, sich für mehr als das Anekdotische zu interessieren, oder auch wegen seines völligen Unvermögens, zwei gerade Striche hintereinander hinzukriegen, hatte sich Mauricio nie groß für Malerei interessiert. Doch seit er die Markierungen von María Fernanda bemerkt hatte, war der Band Nr. 26 der Serie...


Padura, Leonardo
Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

Hartstein, Hans-Joachim
Hans-Joachim Hartstein, geboren 1949, übersetzt seit 1980 französisch- und spanischsprachige Literatur. Er hat u. a. Werke von Georges Simenon, Léo Malet, Luis Goytisolo, Juan Madrid, Marina Mayoral, Leonardo Padura und Ernesto Che Guevara ins Deutsche übertragen.



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