E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Paganini Von wegen Heilige Nacht!
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-26339-3
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-641-26339-3
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Ein unter Historiker*innen beliebter, aber weder ganz neuer noch besonders lustiger Witz handelt von einem Archäologen, der auf einer großen internationalen Tagung stolz einen kleinen runden Gegenstand aus Bernstein präsentiert und behauptet, die Münze stamme aus dem Juli des Jahre 857 v. Chr. und sei somit das älteste mit Sicherheit datierbare Geldstück der Menschheitsgeschichte. Während das Gros der anwesenden Kollegen begeistert klatscht und gratuliert, wagt eine Studentin aus der letzten Reihe die Frage aller Fragen zu stellen: »Woher wissen Sie, dass die Münze aus dem Jahre 857 v. Chr. stammt?« Der Archäologe mustert das Fräulein herablassend und antwortet gönnerhaft: »Na schauen Sie, das Datum ist doch eingraviert.« Für Fachleute hat dieser Witz eine dreifache Pointe. Zunächst einmal kann eine Gravur »v. Chr.« selbstverständlich nur eine Fälschung sein, denn wer hätte schon im Vorhinein wissen können, dass ein gewisser Jesus von Nazareth einmal geboren werden und so wichtig werden sollte, dass man sogar die Zeitrechnung nach seinem Geburtsjahr ausrichten würde. Zu der Zeit, die wir heute als 9. Jahrhundert v. Chr. bezeichnen, war außerdem die Vorstellung, Zeit verlaufe linear, den Menschen außerdem noch ganz fremd. Man kannte nur den an der Natur orientierten zyklischen Zeitverlauf im Wechsel der Jahreszeiten oder Sternbilder. Und schließlich lässt auch die Erwähnung des »Juli« den Historiker schmunzeln. Julius Cäsar dem zu Ehren ein Monat den Namen »Juli« bekam, lebte nämlich im 1. Jahrhundert vor Christi Geburt. Es ist daher gar nicht möglich, dass es bereits 857 v. Chr. einen Monat namens »Juli« gegeben haben könnte. Doch was hat es mit der christlichen Jahreszählung eigentlich auf sich? Historisch belegt ist, dass es in den Mythen der antiken Welt viele verschiedene Vorstellungen darüber gab, wie und vor allem wann die Zeit entstanden sei. Die Bibel und ihre Schöpfungserzählungen nehmen da zunächst keinen Sonderstatus ein. Stellt man komplizierte Berechnungen an und kombiniert die Genealogien aus dem Buch Genesis mit den Zeitangaben anderer alttestamentlicher Texte, findet man heraus, dass Gott am 6. Oktober 3761 vor Christi Geburt und zwar, genau genommen, um 23 Uhr 11 das Licht erschaffen haben »muss«. Freilich setzt eine solche Berechnung ein sehr naives Verständnis der biblischen Texte voraus. Man muss sie als Tatsachenberichte begreifen, und auch der Umstand, dass die Sonne, die ja irgendwie als eine entscheidende Voraussetzung für das Vorhandensein von Licht gelten kann, erst am vierten Schöpfungstag vom Schöpfer ans Firmament gehängt wurde, darf einen nicht stören. Unabhängig vom »exakten« Jahr des göttlichen Schöpfungshandelns hat sich in der christlichen Tradition aber bereits im frühen Mittelalter die Vorstellung durchgesetzt, die Zeit sei mit der Erschaffung der Welt (mit)entstanden. Ansonsten orientierte man sich bei der Bestimmung von Zeit(perioden) in den Kulturen der Antike meist an den wechselnden Machthabern. Immer, wenn ein neuer Herrscher übernahm, begann man wieder von vorn zu zählen. Anhand der Beobachtung von regelmäßigen Mondphasen und/oder des Laufs der Sonne bestimmte man zudem eine (unterschiedlich lange) Einheit, für die sich allmählich die Bezeichnung »Jahr« etablierte. In Ägypten waren diese Herrscher die Pharaonen, bei den Assyrern und den Babyloniern waren es die jeweiligen Könige, die so die Zeit immer wieder neu beginnen ließen. Auf das letzte Jahr des Königs X folgte, meistens nach dessen mehr oder weniger natürlichem Tod, das erste Jahr des Königs Y. Die Römer hatten dagegen eine etwas andere Methode, zumindest theoretisch. Sie zählten die Zeit ab urbe condita, also von der legendären Gründung Roms durch Romulus und Remus an. Tatsächlich führten sie aber vor allem Listen von Konsuln, auf deren Basis sie ihre Zeitrechnung organisierten. Die Griechen schließlich berechneten die Zeit anhand der Anzahl der Perioden zwischen den Olympischen Spielen. In den außereuropäischen Kulturen ging es ähnlich zu: So verfügten die zahlreichen indischen Reiche über unterschiedliche Systeme der Zeitrechnung und gingen von jeweils unterschiedlichen Anfängen aus. Im Buddhismus zählt man die Zeit ab dem Tod Buddhas im 6. Jahrhundert v. Chr. und in islamischen Ländern beginnt die Zeit auch heute noch mit dem Jahr der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina. Das Jahr 622 der christlichen Zeitrechnung ist darum das Jahr 1 in der islamischen Welt. Als der Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert n. Chr. mit komplizierten Berechnungen den Termin für das Osterfest ermitteln wollte, legte er das Jahr 754 nach der Gründung Roms als Geburtstermin Jesu fest. Dieses Jahr entspricht »unserem« Jahr 1 nach Christus, das Jahr 0 dagegen wurde als solches, aufgrund mathematischer Berechnungen, erst 1202 eingeführt. In der westlichen Hemisphäre hat sich jedenfalls die christliche Zeitrechnung durchgesetzt, allerdings erst relativ spät: ab dem 8. Jahrhundert nämlich. Beda Venerabilis (672-735) war der erste Historiker, der in seinen Werken konsequent zwischen »vor Christi Geburt« und »nach Christi Geburt« unterschied. Unter Karl dem Großen (747-814) verbreitete sich diese Praxis dann, interessanter Weise entschied sich die katholische Kirche aber erst um das Jahr 965, diese neue Zeitrechnung anzunehmen; in Spanien wurde sie gar erst im 14. Jahrhundert durchgesetzt. Aus praktischen Gründen wird sie heute auch in Ländern gebraucht, die keine christliche Tradition haben, meist parallel zu anderen Systemen. Mittlerweile unüblich ist es allerdings, den ursprünglichen Wortlaut zu gebrauchen, der nämlich lautete: »vor oder nach der Fleischwerdung Christi«. Aber gleichgültig ob mit oder ohne Fleischwerdung setzt eine solche Zeiteinteilung natürlich voraus, dass man weiß, wann Jesus geboren ist. Aber zu bestimmen, wann genau das Jesuskind bei Ochs und Esel in die Krippe gelegt wurde, ist bei näherem Hinsehen gar nicht so einfach. Wann also war das? Die meisten Menschen werden auf diese Frage vielleicht ziemlich freimütig antworten: »Im Jahr 0«. Aber dieses Datum ist weder historisch, noch sonst wie belegt. Die Suche nach dem »Wann« der Geburt Jesu ist nämlich kompliziert, ja geradezu abenteuerlich. Die einzigen Hinweise in nicht-christlichen Schriften, die wir auf den sogenannten historischen Jesus, d.h. den konkreten Menschen, besitzen, stehen bei den römischen Autoren Tacitus, Sueton sowie Plinius dem Jüngeren. Außerdem erwähnt der römisch-jüdische Historiker Josephus Flavius einen Jeshua, wobei aber eine spätere christliche Überarbeitung dieser Quelle nicht ganz ausgeschlossen ist. Wie auch immer: Diese Textzeugen belegen klar, dass Jesus gestorben ist. Wenn er aber gestorben ist, dann – so die erste, zugegebenermaßen recht banale, allerdings nicht unwesentliche Schlussfolgerung für die Frage nach der Geburt – muss er irgendwann auch geboren sein. Die einzigen Angaben zu dieser Geburt stammen nun aus den »kanonischen«, also offiziell von der Kirche anerkannten, Evangelien am Beginn des Neuen Testamentes, zu denen noch eine ganze Reihe von jüngeren, nicht in den biblischen Kanon aufgenommenen »apokryphen« Evangelien hinzukommen. Historisch brauchbare Informationen zum Zeitpunkt der Geburt findet man nur in den Evangelien nach Matthäus und nach Lukas: Jesus wurde demnach geboren, als Kaiser Augustus regierte [? Die Römer, s. S. 49-52]. Zu diesem Augustus nun gibt es glücklicherweise eine Fülle von römischen Quellen. Es handelt sich bei ihm um Gaius Octavius, später (zumindest laut Cicero) Octavianus, den ersten Kaiser des Römischen Reiches, der unter dem Ehrentitel »Augustus« (auf Latein »der Erhabene«) vom Jahr 37 v. Chr. bis zum Jahr 14 n. Chr. regierte. Neben der Nennung des Augustus stimmen die Geburtserzählungen der Evangelien noch darin überein, dass Jesus zu Lebzeiten von König Herodes dem Großen [? König Herodes der Große, s. S. 112-119], als Quirinius Gouverneur der Provinz Syrien war [? Die Römer, s. S. 52-53], zur Welt kam. Tatsächlich lebten die beiden, als Augustus Kaiser war. Dummerweise aber dürfte Herodes anderen antiken Quellen zufolge bereits im Jahr 4 v. Chr. verstorben sein, während Publius Sulpicius Quirinius erst nach 6 n. Chr. als Provinzverwalter eingesetzt wurde. Wir haben es also mit zwei widersprüchlichen Zeitangaben zu tun, denn zum Zeitpunkt der Amtszeit des Quirinius war Herodes bereits seit mindestens zehn Jahren tot. Auch wenn das Lukasevangelium ansonsten sehr um historische Genauigkeit bemüht ist, gehen in diesem Fall die Ereignisse durcheinander. Das ist verheerend, denn immerhin geht es um nichts Unbedeutenderes als um das Geburtsjahr Jesu, an dem sich die künftige Zeitrechnung orientieren sollte. Doch es nützt alles nichts. Der exakte Zeitpunkt der Geburt ist nach dem jetzigen Wissensstand nicht mehr zu ermitteln. Sehr wahrscheinlich fand die Geburt Jesu in den letzten Regierungsjahren des Herodes statt, also in den Jahren 8 bis 6 v. Chr. [? die Heiligen drei Könige, s. S. 129]. Man darf nämlich davon ausgehen, dass die Erinnerung an Herodes, einen für das Judentum sehr bedeutsamen König, zuverlässiger ist als die Erinnerung an Quirinius, einen einfachen römischen Statthalter in einer Provinz an der Grenze des Imperiums. Außerdem wird Quirinius nur im Lukasevangelium erwähnt, während Herodes sowohl im Matthäus-, als auch im Lukasevangelium belegt ist. Auch wenn also gut zwei Jahrtausende später keine Klarheit mehr zum Geburtsjahr zu gewinnen ist, geht die Forschungsgemeinschaft heute davon aus, dass Jesus einige Jahre »vor Christus« geboren worden sein dürfte, d.h. dass das kleine Jesuskind an seinem im Nachhinein festgelegten...