Pamuk Schnee
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25231-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 520 Seiten
ISBN: 978-3-446-25231-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1Die Stille des Schnees
DIE FAHRT NACH KARS Die Stille des Schnees, dachte der Mann, der gleich hinter dem Busfahrer saß. Er hätte zu dem, was er in seinem Inneren empfand, »die Stille des Schnees« gesagt, wenn dies der Beginn eines Gedichtes wäre. Er hatte den Bus, der ihn von Erzurum nach Kars bringen sollte, im letzten Augenblick erwischt. Nach einer zweitägigen Fahrt von Istanbul durch Schnee und Sturm hatte er den Busbahnhof von Erzurum erreicht, als er mit seiner Tasche in der Hand auf den schmutzigen und kalten Korridoren versuchte herauszufinden, wo es einen Bus gab, der ihn nach Kars brachte, hatte jemand ihm gesagt, daß gleich einer losfahre. Der Fahrtbegleiter des alten Magirus-Busses hatte zu ihm gesagt: »Wir haben es eilig«, um die Ladeklappe nicht wieder öffnen zu müssen, die er gerade geschlossen hatte. Deswegen hatte er seine große, rotbraune Bally-Reisetasche, die jetzt zwischen seinen Knien stand, an sich genommen. Der Reisende, der da am Fenster saß, trug einen dicken aschgrauen Mantel, den er fünf Jahre zuvor im Frankfurter Kaufhof erworben hatte. Wir wollen vorausschicken, daß dieser schöne flauschige Mantel in den Tagen, die er in Kars verbringen würde, für ihn eine Quelle von Scham und Unbehagen, aber auch von Sicherheit sein sollte. Gleich nachdem der Bus losgefahren war, machte der Reisende am Fenster seine Augen weit auf, in der Hoffnung, vielleicht etwas Neues zu sehen, und betrachtete die winzigen armseligen Krämerläden, die Bäckereien, die verfallenen Teehäuser in den Vierteln an Erzurums Stadtrand. Schon begann der Schnee zu fallen. Er war dichter und großflockiger als der Schnee, der auf dem Weg von Istanbul nach Erzurum gefallen war. Wäre der Reisende am Fenster nicht so müde von der Fahrt gewesen und hätte er etwas mehr auf die wie Flaumfedern vom Himmel fallenden Flocken geachtet, dann hätte er womöglich den starken Schneesturm, der da aufzog, gespürt und gefühlt, daß er sich auf eine Reise machte, die wohl sein ganzes Leben verändern würde, und wäre umgekehrt. Aber umzukehren fiel ihm gar nicht ein. Während die Nacht hereinbrach, hatte er die Augen auf den Himmel gerichtet, der heller schien als die Erde, und betrachtete die immer dichter fallenden Schneeflocken, die der Wind vor sich hertrieb, nicht als Vorboten einer Katastrophe, sondern wie Zeichen einer endlich wiedererschienenen Freude und Reinheit aus seiner Kindheit. Der Reisende am Fenster war nach Istanbul, der Stadt, in der er seine Kindheit und die glücklichsten Jahre erlebt hatte, eine Woche zuvor zum erstenmal seit zwölf Jahren auf den Tod seiner Mutter hin zurückgekehrt, hatte sich dort vier Tage aufgehalten und war dann zu dieser gar nicht eingeplanten Reise nach Kars aufgebrochen. Er fühlte, daß der so wunderschön fallende Schnee ihn glücklicher machte als selbst Istanbul, das er nach so vielen Jahren wiedergesehen hatte. Er war ein Dichter und hatte vor Jahren in einem dem türkischen Leser kaum bekannt gewordenen Gedicht geschrieben, daß der Schnee einmal im Leben auch in unseren Träumen falle. Während der Schnee lange und ruhig fiel, wie er das auch in Träumen tut, erlebte der Reisende am Fenster eine Läuterung; ihn erfüllte ein Gefühl der Reinheit und Unschuld, nach dem er seit Jahren leidenschaftlich gesucht hatte. Dabei glaubte er aufrichtig, daß er sich in dieser Welt zu Hause fühlen könnte. Etwas später tat er etwas, was er schon lange nicht mehr getan und gar nicht vorgehabt hatte: er schlief auf seinem Sitzplatz ein. Wir wollen ausnützen, daß er schläft, und ihn leise ein wenig vorstellen. Er hatte zwölf Jahre lang im Exil in Deutschland gelebt, sich aber nie sehr mit Politik befaßt. Seine wirkliche Leidenschaft, all sein Denken galt der Dichtung. Er war zweiundvierzig Jahre alt und ledig (er hatte nie geheiratet). Man konnte das auf dem Sitz, auf dem er sich zusammengerollt hatte, zwar nicht erkennen, aber er war für einen Türken ziemlich groß gewachsen, seine Haut, die auf der Reise noch blasser werden sollte, war hell und die Farbe seiner Haare dunkelblond. Er war schüchtern und mochte das Alleinsein. Er hätte sich sehr geschämt, hätte er gewußt, daß sein Kopf, bald nachdem er eingeschlafen war, durch das Rütteln des Busses erst auf die Schulter, dann die Brust des Passagiers neben ihm rutschte. Es war ein ehrlicher Mensch mit guten Absichten, dessen Körper da auf den seines Nachbarn rutschte, und wegen dieser Eigenschaften war er melancholisch wie die Helden Tschechows, die stets passiv und erfolglos sind. Auf das Thema der Melancholie werden wir später immer wieder zurückkommen. Ich möchte gleich auch noch sagen, daß der Reisende, von dem mir klar ist, daß er in dieser unbequemen Haltung nicht mehr lange wird schlafen können, den Namen Kerim Alakusoglu führte, diesen aber nicht mochte und es deswegen vorzog, nach seinen Initialen Ka genannt zu werden, woran auch ich mich in diesem Buch halten werde. Schon in seiner Schulzeit setzte unser Held hartnäckig unter seine Hausaufgaben und Klassenarbeiten den Namen Ka, unterzeichnete auf der Universität die Anwesenheitslisten mit Ka und nahm deswegen jedesmal Streit mit Lehrern und Beamten in Kauf. Weil er auch seine Gedichtbände unter diesem Namen, den er bei seiner Mutter, seiner Familie und seinen Freunden durchgesetzt hatte, veröffentlichte, verband sich mit dem Namen Ka in der Türkei und unter den Türken in Deutschland eine gewisse Bekanntheit und etwas Mysteriöses. Wie der Fahrer, der nach Verlassen des Busbahnhofs von Erzurum den Passagieren eine gute Reise gewünscht hat, möchte ich jetzt noch hinzufügen: »Glückliche Fahrt, lieber Ka!« Aber ich möchte Ihnen nichts vormachen: Ich bin ein alter Freund von ihm und weiß schon, was ihm in Kars begegnen wird, bevor ich überhaupt zu erzählen beginne. Hinter Horasan bog der Bus nordwärts nach Kars ab. Als auf einer der sich in Serpentinen hochwindenden Steigungen plötzlich ein Pferdefuhrwerk auftauchte und der Fahrer hart bremste, wachte Ka auf. Es dauerte nicht lange, bis er von der Stimmung brüderlicher Einheit erfaßt wurde, die sich im Bus ausbreitete. Wenn der Bus in den Serpentinen, am Rande des Felsabgrundes, langsamer wurde, stand er, wo er doch direkt hinter dem Fahrer saß, wie die Passagiere weiter hinten auf, um die Straße besser überblicken zu können, versuchte, mit dem Finger auf eine Stelle hinzuweisen, die ein Reisender übersehen hatte, der die stets aufs neue beschlagene Scheibe abwischte, um dem Fahrer zu helfen (seine Hilfeleistung wurde nicht bemerkt), und als der Schneesturm zunahm und die Scheibenwischer für die plötzlich ganz weiße Frontscheibe nicht mehr ausreichten, da versuchte auch er, wie der Fahrer, herauszubekommen, wohin sich der überhaupt nicht mehr sichtbare Asphalt erstreckte. Die Verkehrsschilder waren schneebedeckt und nicht mehr lesbar. Als der Schneesturm noch heftiger wurde, machte der Fahrer das Fernlicht aus und löschte die Beleuchtung im Inneren des Busses, damit die Straße im Halbdunkel besser zu sehen war. Die Reisenden betrachteten furchtsam und ohne miteinander zu sprechen die Gassen der ärmlichen, schneebedeckten Siedlungen, die matten Lichter verfallener einstöckiger Häuser, die bereits unpassierbaren Straßen in ferne Dörfer und die von den Scheinwerfern undeutlich beleuchteten Abgründe. Wenn sie miteinander sprachen, dann flüsternd. Kas Sitznachbar, dem er schlafend auf den Schoß gerutscht war, fragte ihn mit einem solchen Flüstern, wozu er nach Kars fahre. Es war leicht zu erkennen, daß Ka nicht aus Kars stammte. »Ich bin Journalist«, flüsterte Ka. Das stimmte nicht. »Ich fahre wegen der Lokalwahlen und der Frauen, die Selbstmord begehen.« Das stimmte. »Alle Zeitungen in Istanbul haben geschrieben, daß in Kars der Bürgermeister umgebracht worden ist und die Frauen Selbstmord begehen«, sagte der Nachbar, und Ka wußte nicht, ob der andere eher stolz darauf war oder ob er sich schämte. Dieser schlanke, gutaussehende Dörfler, dem Ka drei Tage später mit tränenüberströmtem Gesicht auf der schneebedeckten Halit-Pasa-Straße wiederbegegnen sollte, sprach mit ihm die Fahrt über in Abständen immer wieder. Ka erfuhr, daß er seine Mutter nach Erzurum gebracht hatte, weil das Krankenhaus in Kars unzureichend sei, daß er in seinem Dorf in der Nähe von Kars Vieh züchtete, daß sie Mühe hatten, durchzukommen, aber nicht aufbegehrten, daß es ihm – aus geheimnisvollen Gründen, die er Ka nicht darlegte – nicht für sich selbst, sondern für sein Land leid tue und daß er froh sei, daß ein gebildeter Mensch wie Ka wegen der Probleme von Kars den ganzen Weg von Istanbul herkomme. Es lag etwas Edles in seinen einfachen Worten und der stolzen Art, was bei Ka Achtung erweckte. Ka war aufgefallen, daß die Anwesenheit des Mannes ihm angenehm war. Er erinnerte sich an dieses Behagen, das er in Deutschland zwölf Jahre lang nicht verspürt hatte, aus den Zeiten, in denen es ihn gefreut hatte, jemanden, der schwächer war als er selbst, zu verstehen und ihm Anteilnahme entgegenzubringen. In diesen Zeiten hatte er sich bemüht, die Welt mit den Augen eines Mannes zu betrachten, der für sie Mitleid und Liebe empfand. Das tat er nun wieder, und er begriff, daß er sich vor dem Schneesturm weniger fürchtete, daß sie in keinen Abgrund stürzen, sondern, wenn auch zu später Stunde, in Kars ankommen würden. Als der Bus mit drei Stunden Verspätung um zehn Uhr abends in die schneebedeckten Straßen von Kars einbog, erkannte Ka die Stadt überhaupt nicht wieder. Er konnte auch nicht feststellen, wo das Bahnhofsgebäude war, das zwanzig Jahre zuvor an einem Frühlingstag vor ihm aufgetaucht war, als er mit einem von einer...