Parin | Die Chroniken von Leonsk | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Parin Die Chroniken von Leonsk


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99012-332-4
Verlag: HOLLITZER Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

ISBN: 978-3-99012-332-4
Verlag: HOLLITZER Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit einer klugen Parabel auf das heutige Russland legt der Kritiker und Dichter Alexej Parin seinen ersten Roman vor.

Die russische Stadt Leonsk blickt auf eine eindrucksvolle Geschichte zurück: Einst von venezianischen Adelsfamilien gegründet, entwickelte sie sich zu einer Hochburg der Kunst, Musik und Bildung. Doch noch etwas zeichnet die märchenhafte Stadt und ihre Bewohner aus: Sie haben Zwerglöwen aus Venedig mitgebracht, die in Leonsk heimisch geworden sind. Die sanften und intelligenten Leoncini wurden zum Wahrzeichen der Stadt und ein Symbol ihrer Unabhängigkeit. Doch die Zwerglöwen sind in Gefahr – und mit ihnen die Freiheit von Leonsk. Der undurchsichtige Bürgermeister lässt die Statuen der Löwen in der Stadt demontieren, bald darauf kommt es zu einem folgenreichen Anschlag auf die Tiere und ihre Besitzer und in Leonsk bleibt nichts von der einstigen Größe zurück.

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WER ICH BIN Nun ist es an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Ich sitze auf der Terrasse meines Hauses im Schwarzwald, bei Freiburg, und betrachte die Lärchen, die unmittelbar vor mir auf der Wiese stehen. Ich weiß nicht, ob sie von einem früheren Besitzer gepflanzt wurden oder von allein gewachsen sind, aber sie bilden eine schnurgerade Linie. Hoch wie Küstentannen. Und jedes Mal, wenn ich sie anschaue, möchte ich wissen, warum sie so unterschiedlich sind. Da, die eine: Neben dem eigentlichen Stamm hat sie einen zweiten, viel dünneren, wobei sich die Stämme direkt bei den Wurzeln entzweien. Bis zur Hälfte seiner Höhe hat der dünne Stamm keine Äste, die sind alle abgefallen, und erst ganz weit oben (ich kann es kaum erkennen, weil es mir schwer fällt, längere Zeit nach oben zu sehen) hat er vollwertige, lange Äste mit langem Nadelkleid, die alle in dieselbe Richtung wachsen. Zwei andere Lärchen, die zweite und die dritte, wenn man von der Terrasse aus zählt, haben jeweils nur einen Stamm; sie sind gleich alt, und dennoch ist die zweite spindeldürr und die dritte vollschlank, man möchte sagen – üppig, sinnlich, wie eine Rubensfrau. Am Ende kommt eine vierte, die aus irgendwelchen Gründen gleich drei Stämme hat; sie teilt sich auf circa zehn Meter Höhe in zwei ebenmäßige Zylinder von gleicher Breite auf, von denen sich einer etwa fünf Meter weiter oben nochmals entzweit. Und es ist offensichtlich, dass sich alle drei Stämme ganz prächtig vertragen. Ich habe eine Tendenz zur Alltagsphilosophie, und wenn ich diese Lärchen anschaue, muss ich jedes Mal darüber nachdenken, dass sie wie Menschen sind und dass auch ihr Leben trotz gleicher Wurzeln völlig unterschiedlich verläuft. Ich bin Deutscher und neunzig Jahre alt. Geboren wurde ich 1923 als Heinrich Lenroth, mein Kosename ist Hanny. Ich habe diesen Kosenamen von zwei russischen Mädchen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft bekommen und sollte ihn auch später in Deutschland behalten, und es war kein Zufall, wie Sie erfahren werden. Ich muss bei dieser Gelegenheit zugeben, dass ich auf Deutsch schreibe, weil ich trotz meiner fast zwanzig Jahre in Leonsk nicht sehr gut Russisch kann. Was Sie hier lesen, ist eine Stegreifübersetzung. Sobald ich ein Kapitel fertig geschrieben habe, gebe ich es an einen Freund weiter, der aus Leonsk geflüchtet ist, nachdem dort die ganze schreckliche Geschichte passiert war – so wie ich auch. Er ist Russe, spricht aber Deutsch wie ein Muttersprachler, und ich vertraue ihm voll und ganz. Er heißt Mitja – Dimitrij Bibikow. Er ist Komponist, hat aber eine ausgeprägte literarische Ader. Mir ist bewusst, dass ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin, weil ich seine Übersetzung nicht überprüfen kann, aber er versprach mir, nichts an meiner Erzählung zu verändern oder zu korrigieren, obwohl er alles vom Anfang bis zum Ende selbst erlebt hat. Sollten Sie aber dennoch etwas Verdächtiges oder Unpassendes feststellen, behalten Sie bitte stets im Hinterkopf, dass der Text, den Sie da lesen, nicht von mir stammt, sondern von Mitja. In meinem Alter ist es schwierig, jemanden zu finden, der die Übersetzung mit dem Original abgleichen könnte. Das wird erst nach meinem Tod geschehen, und dann hat Mitja gegebenenfalls das Nachsehen. Warum ich Ende der 1980er-Jahre nach Leonsk gezogen bin? Ihre Frage ist vollkommen berechtigt. Deshalb unterbreche ich meinen Bericht ja auch schon zum zweiten Mal: damit Sie erfahren, wer Ihnen diese wahre Geschichte erzählt und warum keiner sie, wie ich schon sagte, besser erzählen könnte. Die ‚wahre Geschichte‘ ist ein abgewandeltes Zitat: So lautet der Titel eines Versromans des mittelalterlichen Dichters Guillaume de Machaut, der von der Liebe eines alten Mannes zu einem jungen Mädchen handelt, Le Livre du Voir-Dit („Das Buch von der wahren Dichtung“). Es bleibt bis heute unbekannt, ob der alternde Dichter im fernen 14. Jahrhundert diese wundersame Geschichte erfunden – oder aber ein Abenteuer, das er tatsächlich erlebt hatte, kunstvoll in Verse gekleidet hat. Ich bin technischer Übersetzer und habe mein Geld hauptsächlich damit verdient, Geschäftsberichte verschiedener Großfirmen ins Englische zu übertragen. Es war gutes Geld, denn ich konnte sehr präzise und außerordentlich schnell übersetzen, und Ende der 80er-Jahre hatte ich mir eine gute Rente verdient. Meine Leidenschaft gilt jedoch der Literatur. Ich schreibe mein Leben lang Gedichte und verstaue sie in meiner Schreibtischschublade; kaum jemand weiß davon. Eine wahre Geschichte kann aber nur jemand schreiben, der alles über Literatur weiß. Alte Menschen wollen am Ende ihres Lebens oft Memoiren verfassen. Es kommt aber nichts Gutes dabei heraus, lediglich Zeitdokumente, wenn man so will. Es genügt nämlich nicht, ein Gespür für das Wort zu haben: Man muss die Wörter auch noch aneinanderreihen können. Mitja und ich haben uns oft genug literarisch auf den Zahn gefühlt und herausgefunden, dass wir vom gleichen Blute sind. Deshalb habe ich Mitja ausgesucht, um mir zu helfen. Hier in Deutschland kann niemand meinen Text brauchen. In Russland aber warten die Menschen immer noch darauf, die Wahrheit über die Löwen von Leonsk zu erfahren. Es war die Liebe, die mich nach Leonsk führen sollte. Ich bin verheiratet, meine Frau ist Engländerin, sie heißt Betsy und ist eine wunderbare Frau. Sie ist sieben Jahre jünger als ich. Ich habe zwei erwachsene Söhne – der eine ist ein bekannter Musiker, der andere ein erfolgreicher Architekt – und sechs Enkelkinder. Außerdem hatte ich eine Geliebte, Trudi, eine recht einfältige Person, Ehefrau eines langweiligen Geschäftsmannes (in Russland nennt man so etwas einen „guten Wirtschafter“), die sich an mich klammerte, wie der missratene dünne Stamm an die erste Lärche in meinem Garten. Und so lebten wir in unserem Würzburg friedlich vor uns hin, besuchten einander gegenseitig, ich las meinen Shakespeare auf Englisch und auf Deutsch, schrieb meine armseligen Gedichte, und das Leben ging seinen öden, geregelten Gang. Und dann kam meine Beatrice. Sie wissen hoffentlich, dass ich damit nicht sagen will, ich wäre Dante. Aber sie konnte durchaus als Muse und als Schutzengel durchgehen. Beatrice war erst acht Jahre alt, als der neunjährige Dante sie zum ersten Mal erblickte. Sonja dagegen war zweiundvierzig, als sie mir erschien. Sie mochte ihren eigentlichen Namen Swanhilde nicht, war eine der besten deutschen Dostojewskij-Forscherinnen und fühlte sich mit Sonja aus Schuld und Sühne aufs Engste verbunden. Wenn man Tschechows Onkel Wanja als Referenzpunkt nehmen will, so glich sie viel eher Jelena Andrejewna als Sonja. In Deutschland klang dieser Name aber trotz allem sehr überzeugend. Sie als Persönlichkeit war genauso überzeugend. Ich sah sie zum ersten Mal bei einem Seminar in der Katholischen Akademie Freiburg, wo sie einen Vortrag über Dostojewskijs philosophische Ansichten hielt. Nach meiner Zeit als Gefangener in Russland steckte das Russische tief in mir drin wie ein Holzsplitter. An den kläglichen Alltag der Russen dachte ich mit Unmut, ja mit Ekel zurück, aber die Menschen, die ich näher kennengelernt hatte, hatten etwas so Faszinierendes an sich, dass es mir keine Ruhe ließ. Ich verbot mir, darüber nachzudenken. Aber kaum hatte ich eine Buchhandlung betreten, streckten sich meine Hände wie von selbst nach russischen Büchern aus. Ich kam mir vor wie verhext. Ich fing an, Puschkin zu lesen; die Übersetzung war schön, der deutsche Text klang flüssig, und dennoch begriff ich nicht, warum das ein so großes Meisterwerk sein sollte, als das es in Russland galt. Deswegen besuchte ich auch diese ganzen Seminare und sogar universitäre Vorlesungen, aber in menschlicher Hinsicht konnte nichts davon meinen ‚Holzsplitter‘ lösen. Und dann kam Sonja. Zehn Minuten nach Beginn ihres Vortrags hörte ich auf, zuzuhören. Sie sagte durchaus schlüssige Dinge, mir gefiel alles, was sie sagte. Darum ging es nicht. Sie sang wie eine Sirene – darum ging es. Groß, stämmig, mit noblen Gesichtszügen und klaren, glänzenden Augen, in einem seltsam aristokratischen Kleid, das an das Fin de Siècle erinnerte, hatte sie auf mich eine hypnotisierende Wirkung. Zu alledem sprach sie die russischen Namen und Vornamen authentisch aus, so, wie sie in Russland ausgesprochen werden, ohne Akzent; sie las zwei Originalzitate aus Dostojewskij – sie sagte: Da-sta-jewskij – vor, so wunderschön, dass mir das Russische auf einmal wohlklingender erschien als Italienisch. Sie strahlte eine solche Liebe zum russischen Wort, zum russischen Denken und zum russischen Charakter aus, dass sich mein Holzsplitter endlich löste und herauszukommen begann. Ich hatte mich in sie verliebt, keine Frage, aber der Schlüssel dazu schien in meiner verbotenen Liebe zum russischen Wort zu liegen. Ich werde nicht darauf eingehen, wie unsere Beziehung zustande kam, aber bald schon war Sonja in unserem Würzburger Kreis ganz heimisch geworden. Mit einer Ausnahme: Sie weigerte sich, Trudi zu treffen. Dafür freundete sie sich mit Betsy und mit meinen Söhnen an. Ihre wissenschaftliche Karriere in Deutschland gestaltete sich holprig. Ich möchte nicht auf Sonjas durchaus nicht einfache Lebensgeschichte eingehen; wichtig ist, dass sie mit ihren Bewerbungen auf Professuren kein Glück hatte. Sie wurde zum Opfer solch unfairer Spielchen und akademischer Intrigen, dass man es kaum glaubt. Da kamen die Perestrojka-bedingten Umwälzungen in Russland genau richtig. Die Universität Leonsk lebte auf. Plötzlich hatte sie Geld und konnte sich einiges leisten. Europas beste Köpfe schlugen den Weg nach Leonsk ein – manche nur für eine Vortragsreihe, andere für feste...


Alexej Parin, geboren 1944 in Moskau, arbeitet international als Librettist, Opernkritiker, Dramaturg und Dichter. In seiner Übersetzung erschienen Werke europäischer Dichter von der Antike bis zur Gegenwart, von Sappho und Ovid bis Paul Celan und Jacques Roubaud. Die Anthologie Der verliebte Wanderer. Westeuropäische Lyrik in Nachdichtungen von Alexej Parin (2004) versammelt Parins Lyrik-Übersetzungen. Seit 20 Jahren gestaltet er Musik-Features für die Radiostationen Echo Moskwy und Orpheus.
Zuletzt veröffentlichte er im Hollitzer Verlag den Band "Paradigmen der russischen Oper" und die Essaysammlung "Die Brille
des Coppelius". "Die Chroniken von Leonsk" ist sein erster Roman.



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