Pelz Der Fall Natascha Kampusch
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8288-5608-0
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die ersten acht Jahre eines einzigartigen Entführungsfalles im Spiegel der Medien
E-Book, Deutsch, 178 Seiten
ISBN: 978-3-8288-5608-0
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
2. März 1998 - Das scheinbar spurlose Verschwinden der zehnjährigen Natascha Kampusch löst eine Welle der Medienberichterstattung aus. Auch Monate und Jahre später sorgt der Fall immer wieder für ein Rauschen im Blätterwald, obwohl die Nachrichtenlage recht dünn ist und es kaum neue Erkenntnisse gibt. Die Selbstbefreiung von Natascha Kampusch am 23. August 2006 nach 3.096 Tagen Gefangenschaft löst schließlich ein weltweites Medienecho aus, das bis zum heutigen Tag nicht ganz verklungen ist. Martin Pelz beschäftigt sich mit den ersten achteinhalb Jahren des 'Falls Natascha Kampusch'. Er untersucht wie es passieren konnte, dass der Name Natascha Kampusch über den gesamten Zeitraum nicht mehr aus der Medienberichterstattung verschwand. Angelehnt an die Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft bezüglich der Nachrichtenauswahl und der Entstehung von Themen analysiert der Autor Entwicklung und Verlauf der Themenkarriere, sowie Unterschiede zwischen den Tageszeitungen 'Kronen Zeitung', 'Kurier' und 'Die Presse'.
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3 Theorien der Nachrichtenauswahl
Journalisten werden täglich mit einer großen Menge an Informationen konfrontiert. Nur einige dieser Informationen gelangen als Nachricht zu den Rezipienten. Journalisten unterliegen einem Selektionsdruck, der sie zur Nachrichtenauswahl zwingt. Von kommunikationswissenschaftlichem Interesse ist nun die Frage, nach welchen Kriterien Journalisten Nachrichten auswählen und welche Faktoren über den Nachrichtenwert einer Information entscheiden. Warum berichten Massenmedien über dieses und nicht über jenes Ereignis oder publizieren diese und nicht jene Nachricht? Diese einfache Frage stand am Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Nachrichtenselektion. So einfach die Frage klingt, so schwierig ist die Beantwortung auch nach mehreren Jahrzehnten Forschungsarbeit. Die Nachrichtenauswahl der Massenmedien wird seit den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer Vielzahl von empirischen Studien analysiert. Diese kann man hinsichtlich ihrer theoretischen Ansätze, ihrer Untersuchungsanlagen und ihrer methodischen Vorgehensweisen im Wesentlichen zu drei Forschungstraditionen zusammenfassen: • Gatekeeper-Forschung • News-Bias-Forschung • Nachrichtenwert-Theorie34 Diese drei theoretischen Konzepte weisen allerdings Querverbindungen und Überschneidungen auf, sodass eine eindeutige Zuordnung der einzelnen empirischen Untersuchungen nicht immer möglich ist. Die verschiedenen Ansätze schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern sind teilweise komplementär, da sie zur Erklärung der Nachrichtenauswahl jeweils andere Variablen heranziehen.35 So konzentriert sich die Gatekeeper-Forschung auf den Journalisten und das dahinter stehende Medium, die News-Bias-Forschung hingegen auf die individuellen (politischen) Einstellungen der Journalisten und auf die daraus resultierende Berichterstattung. Die Nachrichtenwert-Forschung setzt nicht beim Kommunikator selbst an, sondern untersucht vorrangig die Berichterstattung als Resultat der Auswahlentscheidung; sie ist variablenorientiert.36 Kepplinger unterscheidet zwischen akteursorientierten und variablenorientierten Ansätzen in der Nachrichtenwert-Forschung. Abbildung 1: Einflusskräfte auf die Nachrichtenauswahl (Quelle: Kepplinger, Hans Mathias: Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B15/1989a, S. 8) Beim akteursorientierten Ansatz wird die Nachrichtengebung auf das Handeln verschiedener Personen, Organisationen und Institutionen zurückgeführt. Unter dem variablenorientierten Ansatz fassen Flegel und Chaffee intrinsische und extrinsische Einflussfaktoren zusammen.37 • intrinsische Einflussfaktoren sind von professionellen Berufsnormen bestimmt. Zu den intrinsischen Einflussfaktoren zählen die Eigenschaften von Ereignissen, die objektiv vorhanden sind – wie etwa die geografische Nähe – aber auch Zuschreibungen zu Ereignissen, die erst darüber entscheiden, ob ein Geschehen auch die „Nachrichtenschwelle“ überspringt. Dazu zählen die kulturelle Nähe, die Prominenz der Akteure und der verursachte Schaden. • extrinsische Einflussfaktoren sind subjektive Einstellungen, in erster Linie der Journalisten selbst. Es wirken aber auch externe Faktoren wie gesetzliche Normen oder Vorschriften, die redaktionelle Linie, etc.38 Besonderes Augenmerk wird im Rahmen dieser Arbeit der Nachrichtenwert-Theorie geschenkt, da sie als Grundlage für die folgende inhaltsanalytische Untersuchung zur Berichterstattung im „Fall Natascha Kampusch“ dient. Die akteursorientierten Ansätze der Gatekeeper-Forschung und der News-Bias-Forschung sollen jedoch auch ansatzweise reflektiert werden, um einen umfassenderen Überblick über die Forschungstraditionen der Nachrichtenselektionsforschung zu gewährleisten. 3.1 Gatekeeper-Forschung Eine systematische, empirische Untersuchung der journalistischen Selektionsregeln für Nachrichten begann in den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der so genannten Gatekeeper-For-schung.39 Der Begriff „gatekeeper“ bedeutet soviel wie „Pförtner“. Die Bezeichnung weist auf die Vorstellung hin, dass es im Nachrichten-fluss bestimmte, strategisch wichtige Pforten, Schleusen oder Schaltstellen gibt, an denen unterschieden wird, welche Informationen diese Schleusen passieren und welche nicht.40 Die Gatekeeper-Forschung geht auf einen Ansatz des Sozialpsychologen Kurt Lewin zurück. Lewin untersuchte 1943 die Einkaufs- und Ernährungsgewohnheiten nordamerikanischer Familien und nach welchen Kriterien die Lebensmittelauswahl erfolgte. Er untersuchte den Weg der Lebensmittel durch die verschiedenen Kanäle vom Gemüsegarten, vom kleinen Lebensmittelladen oder vom Supermarkt bis in die Küche und dann auf den Tisch. Dabei fand Lewin heraus, dass es in diesen Kanälen immer wieder kritische Momente gibt, in denen darüber entschieden wird, ob ein Nahrungsmittel den Weg Richtung Küche fortsetzen kann oder nicht. Lewin nannte diejenigen Personen, die an kritischen Stellen über das weitere Schicksal der Ware entscheiden, Gatekeeper.41 Das von Kurt Lewin im Rahmen seiner Feldtheorie entwickelte Konzept des Gatekeepers, mit dem die Schlüsselposition einzelner Gruppen verdeutlicht werden sollte, wurde von David Manning White 1950 weiterentwickelt. White übertrug das Gatekeeper-Konzept auf den Prozess der Nachrichtenauswahl. Über den Zeitraum von einer Woche untersuchte White in einer Fallstudie das Selektionsverhalten des „wire editors“ einer Kleinstadt-Tageszeitung in den USA. Die Aufgabe dieses „wire editors“ – White nannte ihn „Mr. Gates“ – waren die Auswahl, Bearbeitung und Weiterleitung von Agenturmeldungen. In der Untersuchung wurden drei Methoden kombiniert. Mit einer Input-Output-Analyse verglich White die Themenstruktur der von Mr. Gates nicht ausgewählten Agenturmeldungen mit der Themenstruktur der ausgewählten Meldungen und der Themenstruktur des Gesamtangebots. Mit einem Copy-Test wurden die Ursachen der Nachrichtenauswahl untersucht, indem Mr. Gates gebeten wurde, jeden Tag nach Redaktionsschluss die nicht berücksichtigten Agenturmeldungen nochmals durchzusehen und seine Entscheidungsgründe auf der Rückseite zu notieren. Mit einer halb strukturierten Befragung von Mr. Gates wurden schließlich die Ergebnisse des Copy-Tests ergänzt, sowie das Selbstverständnis des „wire editors“ ermittelt. Die Input-Output-Analyse zeigte den Einfluss einer Reihe von subjektiven Dispositionen und Einstellungen auf die Selektionsentscheidungen auf. So wurden etwa politische Themen gegenüber „Human Interest“-Themen und Kriminalitätsmeldungen bevorzugt.42 Die mit Hilfe des Copy-Tests ermittelten Entscheidungsgründe, nach denen Meldungen als nicht berichtenswert eingestuft wurden, fasst White zu zwei Klassen von Aussagen zusammen. Er unterscheidet zwischen subjektiven und objektiven Selektionskriterien.43 Subjektive Selektionskriterien Meldungen wurden als nicht berichtenswert eingestuft, da sie z.B. trivial, uninteressant oder schlecht geschrieben seien oder eine propagandistische Tendenz aufweisen würden. Objektive Selektionskriterien: Die Nachrichtenauswahl wurde auf äußere Faktoren, wie z.B. die Länge einer Meldung, den Zeitpunkt ihrer Übermittlung oder die Entfernung des Ereignisortes zurückgeführt. Die Ergebnisse der Befragung bestätigten den Einfluss subjektiver Dispositionen und Einstellungen auf die Selektionsentscheidungen.44 Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche ähnliche und weiterführende Studien durchgeführt.45 Wichtige Befunde dieser Forschungsrichtung sind: • Die Nachrichtenselektion ist teilweise abhängig von den persönlichen Erfahrungen, Erwartungen und Einstellungen des Journalisten. • Organisatorische und technische Zwänge von Redaktion und Verlag bestimmen die Auswahl. • Der Journalist orientiert sich oftmals an Bezugsgruppen der Kollegen und Vorgesetzten. Von den Bedürfnissen des Publikums haben die Redakteure in der Regel nur eine unvollkommene und kaum auf Tatsachen beruhende Vorstellung. • Ein wichtiges Selektionskriterium ist die „redaktionelle Linie“. Sie ist entweder informell unter den Kollegen bestimmt, oder formell durch den Verleger festgelegt. Der Journalist ist Mitglied einer „Nachrichtenbürokratie“46. • Die Redakteure übernehmen...