Petersen / Mayer | Ende des Aufruhrs | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 170 Seiten

Petersen / Mayer Ende des Aufruhrs

Wie die Deutschen mit sich selbst Frieden schlossen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8288-6874-8
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

Wie die Deutschen mit sich selbst Frieden schlossen

E-Book, Deutsch, 170 Seiten

ISBN: 978-3-8288-6874-8
Verlag: Tectum Wissenschaftsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Seit Jahrhunderten waren die Deutschen bei ihren Nachbarn wegen ihrer Wankelmütigkeit gefürchtet. Besonders aber nach dem Ende des Dritten Reiches entwickelten sie ein gebrochenes, von Selbstzweifeln geprägtes Verhältnis zur eigenen Nationalität. Nicht zufällig hat der Begriff von der German Angst Eingang in die englische Sprache gefunden. Doch wo ist die German Angst geblieben? Rund um Deutschland herum scheint die Welt aus den Fugen zu geraten, doch die Deutschen sind kaum aus der Ruhe zu bringen. Von den alten Selbstzweifeln und der berühmten Wankelmütigkeit ist nur noch wenig übrig. Dieses Buch beschreibt auf der Grundlage der Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach, wie es dazu kam, wie die Menschen sich langsam, aber beharrlich mit ihrer Demokratie, dem anfangs noch neuen Staatswesen und seinen Symbolen anfreundeten, wie sie die Schatten der Vergangenheit abwarfen und mit ihrer eigenen natio nalen Identität Frieden schlossen.
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1.Die „verletzte Nation“ Im Sommer 2016 bekam das Institut für Demoskopie Allensbach Besuch von Hiroshi Tokinoya, emeritierter Professor für Medienwissenschaften an der Tokai-Universität in der Nähe von Tokio und ein langjähriger Freund des Hauses. Erstaunt berichtete er von seinen neu gewonnenen Eindrücken: Seit 15 Jahren sei er zum ersten Mal wieder in Deutschland, und das Land habe sich in dieser Zeit vollkommen verändert: Die Gesichter der Menschen sähen anders aus, viel gelöster, fröhlicher als noch vor eineinhalb Jahrzehnten. Deutschland, so schloss er aus seiner Beobachtung, müsse ein ungeheuer erfolgreiches, glückliches Land sein. Diese Einschätzung mag aus der deutschen Binnensicht erstaunen. Tokinoya machte seine Beobachtungen in einem Land, das nach Auffassung vieler Bürger eine tiefe politische Krise durchgemacht hatte, dessen Bewohner angesichts der großen Zahl von Einwanderern, die im Vorjahr ins Land gekommen waren, erkennbar verunsichert waren und sich wie lange nicht mehr vor Verbrechen und Terroranschlägen fürchteten1 und in dem bei Landtagswahlen eine Protestpartei, die den Zustand des Landes in den schwärzesten Farben malt, bis zu 25 Prozent der Wählerstimmen erhielt. Das sollte ein glückliches und gelöstes Land sein? Manchmal ist der Blick von außen schärfer als jener von Beobachtern, die die eigene Gesellschaft, der sie angehören, analysieren. Diese laufen oft Gefahr, die Veränderungen, die sich hier vollziehen, nicht wahrzunehmen, zumal sie meist nicht über Nacht stattfinden. Es ist ein wenig wie die Alltagserfahrung, dass einen jeden Tag im Spiegel dasselbe Gesicht anschaut – und man doch, nachdem man fünfzehn Jahre lang immer das Gleiche gesehen hat, erstaunt ist, wie sehr sich dieses Gesicht von dem unterscheidet, das auf fünfzehn Jahre alten Fotos zu sehen ist. Nach den Umfrageergebnissen des Instituts für Demoskopie Allensbach spricht tatsächlich einiges dafür, dass Tokinoyas Beobachtung zutrifft, dass also die Deutschen – abseits tagespolitisch bedingter Wellen der Aufregung, die es natürlich immer wieder gibt – in den letzten zwei Jahrzehnten ruhiger und selbstbewusster geworden sind. Von dieser Entwicklung handelt dieses Buch. Selbst die intensive und emotional aufgeladene öffentliche Diskussion um die große Zahl von Flüchtlingen, die in den Jahren 2015 und Anfang 2016 nach Deutschland kamen, spricht eher für diese These als gegen sie. Man muss die Situation nur mit der Anfang der 1990er-Jahre vergleichen, als schon einmal binnen eines Jahres Hunderttausende Asylbewerber nach Deutschland kamen, damals vor allem aus den Balkanländern. Auf dem Höhepunkt der seinerzeit „Asylfrage“ genannten Entwicklung gab es durchaus Anzeichen dafür, dass sich eine krisenhafte, von Aggression dominierte Stimmung im Land ausbreitete. Im Herbst 1992 sagten 53 Prozent der Befragten einer Allensbacher Repräsentativumfrage, sie seien sehr darüber besorgt, dass einfach nichts getan werde gegen die Flut von Asylbewerbern. 72 Prozent gaben zu Protokoll, sie hätten zwar nichts gegen Ausländer, es gebe aber in Deutschland „einfach zu viele“. Immerhin 38 Prozent erklärten, dass sie sich an einer Unterschriftenaktion gegen ein Wohnheim für Asylanten beteiligen würden, wenn ein solcher Bau in ihrer Gemeinde geplant würde, und eine nicht ganz unbeträchtliche Minderheit von etwa einem Viertel der Deutschen zeigte sogar ein gewisses Verständnis für Gewalt gegenüber Ausländern.2 Und bei der regelmäßig zur Jahreswende gestellten Frage „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ ließen im Dezember 1992 lediglich 37 Prozent der Befragten positive Erwartungen erkennen. Das war der niedrigste Wert seit der zweiten Ölkrise zur Jahreswende 1979/1980.3 Auch zur Jahreswende 2015/2016 zeigten sich die Deutschen angesichts der Einwanderungswelle sehr beunruhigt: Im Oktober 2015 sagten 53 Prozent der vom Allensbacher Institut befragten Personen, die Entwicklung der Flüchtlingssituation in Deutschland bereite ihnen große Sorgen.4 Das waren also exakt gleich viele wie 24 Jahre zuvor, doch von der Aggression, die aus den Antworten des Jahres 1992 sprach, war nur wenig zu spüren, und dies, obwohl die Zahl der Asylbewerber 2015 mehr als doppelt so groß war wie 1992. So nahm beispielsweise mit den Sorgen angesichts der großen Zahl der Einwanderer auch die Bereitschaft der Deutschen zu, diesen zu helfen. Während sich 1992 noch große Teile der Bevölkerung bereit zeigten, sich an Unterschriftenaktionen gegen Asylbewerberheime in ihrer Nachbarschaft zu beteiligten, sagten 2015 47 Prozent ausdrücklich, sie fänden es gut, wenn in ihrer Nachbarschaft Flüchtlinge aufgenommen würden. Und immerhin 31 Prozent sagten, sie würden sich an Unterschriftenaktionen beteiligen, die den Bau von Asylbewerberheimen in ihrer Region unterstützen.5 Was die Hoffnungen für das neue Jahr betrifft, so sanken die positiven Äußerungen zwar auch zur Jahreswende 2015/2016 gegenüber dem Vorjahr von 56 auf 41 Prozent und damit auf einen im langfristigen Vergleich sehr tiefen Wert,6 sie blieben damit jedoch immer noch auf einem höheren Niveau als 1992, und dies, obwohl die Flüchtlingssituation Ende 2015 objektiv erheblich problematischer war als in den 1990er-Jahren. Es soll an dieser Stelle weder die Besorgnis der Bevölkerung in den Jahren 2015 und 2016 kleingeredet werden, schon gar nicht die Ausschreitungen bei Protesten gegen Einwanderer oder gar die Anschläge auf Asylbewerberheime, die es in dieser Zeit durchaus gab. Doch das gesamtgesellschaftliche Klima war trotz alledem noch immer erstaunlich entspannt. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie es in Deutschland wohl ausgesehen hätte, wenn im Jahr 1992 nicht 430.000 Asylbewerber ins Land gekommen wären, sondern doppelt so viele. Schaut man sich das politische Klima in der Bundesrepublik Deutschland in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts abseits der großen tagesaktuellen Themen an – und dies mag die Perspektive sein, aus der heraus Hiroshi Tokinoya seine Einschätzung abgegeben hat –, kann man sich des Eindrucks einer gewissen Schläfrigkeit nicht erwehren. In der Endphase des Bundestagswahlkampfs 2013, der immerhin ein spannendes Rennen zwischen den politischen Lagern versprach, legte das Institut für Demoskopie Allensbach seinen Befragten in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage eine Liste mit Themen vor und stellte dazu die Frage „Worüber haben Sie sich in letzter Zeit häufiger mal mit anderen unterhalten?“. Bei Fragen dieses Musters ist es stets wichtig, das Wetter mit in die Auswahl aufzunehmen (bzw. die Weihnachtsgeschenke, wenn die Umfrage zum Jahreswechsel stattfindet), denn damit erhält man einen guten Vergleichsmaßstab: Themen, die die Bevölkerung wirklich beschäftigen, erkennt man leicht daran, dass über sie mindestens ebenso häufig gesprochen wird wie über Sonne und Regen. Als nun die Frage im Spätsommer 2013 den Befragten vorgelegt wurde, war die Bundestagswahl weit davon entfernt, dem Wetter als Gesprächsthema Konkurrenz zu machen: 78 Prozent gaben an, sich über die Witterung unterhalten zu haben. An zweiter Stelle, genannt von 64 Prozent, folgten Urlaub und Reisen, was verständlich ist angesichts des Umstandes, dass die Umfrage gegen Ende der Sommerferien stattfand. Auf Platz 3 und 4 folgten die ebenfalls als klassisch zu betrachtenden Gesprächsthemen Familie, Beziehung sowie Gesundheit. Dann erst, mit einem erheblichen Abstand zu den vorher aufgelisteten Punkten, folgte mit der Internet-Überwachung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA das erste politische Thema – gerade einmal 46 Prozent hatten sich in den Wochen zuvor über diesen Gegenstand mit anderen unterhalten, obwohl er gleichzeitig sehr großen Raum in der Medienberichterstattung einnahm. Die näherrückende Bundestagswahl war sogar nur für 29 Prozent der Deutschen ein Gesprächsthema.7 Anders als oft angenommen, ist die Abwendung vieler Bürger von der Parteipolitik kein Kennzeichen für eine wachsende Resignation der Bevölkerung. Wie noch ausführlich zu betrachten sein wird, ist die Identifikation der Deutschen mit ihrem Staatswesen eher gewachsen als zurückgegangen. Und wie man leicht zeigen kann, ist es nicht Politikverdrossenheit, sondern in vielen Fällen eine Art satter Zufriedenheit, die dazu führt, dass viele Menschen sich weit weniger als früher über die Fragen der „großen Politik“ aufregen.8 Man kann das als problematisch betrachten: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sprach im Mai 2015 von einer „Wohlfühlstagnation“,9 die im Land herrsche, und im Bundestagswahlkampf 2013 tauchte in den Reihen der Anhänger der damaligen Oppositionsparteien der neue Begriff der „asymmetrischen Demobilisierung“ auf, mit dem unterstellt wurde, die Bundesregierung versuche die Bevölkerung mit einer Atmosphäre der behäbigen Zufriedenheit gleichsam einzuschläfern, damit die Gegner der Regierungsparteien der Wahl fernblieben.10 Gleich, wie man diese Entwicklung aus politikwissenschaftlicher oder staatsbürgerlicher Perspektive bewertet, es ist bemerkenswert, dass man sich in dieser Situation Sorgen um die Ruhe, nicht die Unruhe der Bevölkerung machte. Dabei soll hier nur am Rande auf die Skurrilität verwiesen werden, die darin liegt, dass es die deutsche öffentliche Diskussion fertigbringt, sich auch noch über eine Zufriedenheit signalisierende Ruhe aufzuregen – eine erstaunliche Fähigkeit, die mit der...


Tilman Mayer ist Professor für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Nach seinem Studium und der Promotion leitete er ein zeitgeschichtliches Deutschlandforschungsprojekt in der Jakob-Kaiser-Stiftung in Königswinter bei Bonn. 1993-1995 war Tilman Mayer Leiter des Bonner Büros des Instituts für Demoskopie Allensbach. Von 2010-2016 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie (DGD), seit 2007 ist er Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD).



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