Buch, Deutsch, 395 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 212 mm, Gewicht: 493 g
Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter
Buch, Deutsch, 395 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 212 mm, Gewicht: 493 g
ISBN: 978-3-593-39042-0
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Technische Wissenschaften Technik Allgemein Technologie: Soziale & Ethische Aspekte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wissenssoziologie, Wissenschaftssoziologie, Techniksoziologie
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Technische Wissenschaften Technik Allgemein Technikgeschichte
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung
1. Politische Semantiken
Das Tor in eine neue Dimension? Sputnik, Schock und die Popularität der Naturwissenschaften
Angela Schwarz
Die Mercury Seven: Amerikas Kalte Krieger im Weltraum
Karsten Werth
Anfang - oder Ende des planetarischen Zeitalters? Der Sputnikschock als Realitätseffekt, 1945-1957
Alexander C. T. Geppert
Von Sputniks und Trabis: Die DDR als weltanschauliches Feld
Igor J. Polianski
2. Zeit- und Raumeffekte
Chronos als Fortschrittsheld: Zeitvorstellungen und Zeitverständnis im kommunistischen Zukunftsdiskurs
Martin Sabrow
A house from outer space: Raumfahrt-Effekte in der Architektur des 20. Jahrhunderts
Heike Delitz
Sputnik und die Globalisierung des Weltbildes
Frank Hartmann
3. Ikonographische Spuren
Himmelssturm, Raumfahrt und "kosmische" Symbolik in der visuellen Kultur der Sowjetunion
Julia Richers
Kosmosutopien nach dem Flug von Sputnik: Anmerkungen zur sowjetischen Kunst
Ingo Schauermann
Der sowjetische Raumfahrtmythos als Parodie: Aleksej Fedor?enkos Film Die Ersten auf dem Mond als russisches Mockumentary
Birgit Menzel
4. Literarische Aneignungen
Sputnik, der kleine Gegenstand: Semantisierungen des Satelliten 1957-1961
Tomáš Glanc
Ein glühender Block irdischer Hoffnungen: Das kosmische Gefühl in der sowjetischen Science Fiction nach 1957
Matthias Schwartz
5. Ideengeschichtliche Abenteuer
Der Kosmos als Weltbilderraum: Versuch über natürliche Archive
Luca Di Blasi
Weltanschauung und Weltanschauungsmonopol in der Sowjetunion des "kosmischen Zeitalters": Boris Poršnevs Traktat Über den Ursprung der menschlichen Geschichte
Annett Jubara
"Die Erforschung der Rückseite des Mondes durch reines Denken": Technikphilosophie zwischen Sputnik 1 und Apollo 11
Rüdiger Zill
Anhang
Danksagung
Bibliographie
Autorinnen und Autoren
Personenregister
Einleitung
Igor J. Polianski, Matthias Schwartz
1. Sputnikspuren
Als am 4. Oktober 1957 der erste künstliche Trabant der Erde (russ. Sputnik) in seine Umlaufbahn gestartet war, rechnete man selbst und gerade im Kreml nicht mit der enormen Resonanz, die dieser Flug weltweit auslöste. Vielmehr traf der später so genannte Sputnik-Schock die sowjetische Propagandamaschinerie gänzlich unvorbereitet und offenbarte, wie falsch sie das eigene Bild in der westlichen Wahrnehmung eingeschätzt hatte. Entwickelte man doch mittlerweile ein Selbstbewusstsein der fortschrittlichsten Nation der Welt, für die es eben keine große Kunst gewesen sei, zu Ehren des Internationalen Geophysikalischen Jahrs - wie längst angekündigt - ein Stück Blech in das Weltall zu schießen. In einem New York Times-Interview beschrieb der 1. Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita S. Chruš?ev, seine Reaktion auf den erfolgreichen Start des Satelliten mit den provozierend kühlen Worten: "Nein, ich habe es nicht gesehen. […] Ich gratulierte dem ganzen ingenieurtechnischen Kollektiv zu diesem hervorragenden Erfolge und legte mich ruhig schlafen."
Erst nach und nach wurde im Ostblock der symbolische Mehrwert des Sputnik erkannt, und zwar nicht zuletzt an dessen westlichen Vorposten: "Man hat ein Loch in den Heiligen Himmel geschossen", sagt der Genossenschaftshirte zum Pfarrer in den unter dem Eindruck dieses Ereignisses entstandenen Sputnik-Gesprächen von Erwin Strittmatter, worauf der Pfarrer erwidert: "Das unheilige Raketenloch ist nicht größer als ein Erbsloch in einem Zirkuszelt." Der Rinderhirt belehrt ihn aber: "Trotzdem kann man durch ein Erbsloch sehen, was im Zirkus gespielt wird". Tatsächlich markierte der Sputnikflug eine kulturhistorische Zäsur, die sowohl Kulminationspunkt längerfristiger Entwicklungen als auch Anstoß für neue Veränderungen war, deren Bedeutung weit über die unmittelbare militärtechnische und wissenschaftspolitische Brisanz des "Erbslochs" im Himmel hinausging.
Dieser aus einer Tagung zum 50. Jahrestag des Sputnikfluges hervorgegangene Band erinnert sich des zitierten Rinderhirtenspruchs, um durch das "Erbsloch" des Erdtrabanten die durch ihn markierten oder angestoßenen Verschiebungen auf der historischen Zirkusbühne des 20. Jahrhunderts interdisziplinär unter ausgewählten Aspekten näher zu betrachten. Dies scheint angebracht zu sein, weil die bisherige westliche Literatur zum "Sputnik-Schock" und die entsprechende sowjetische und postsowjetische zur "kosmischen Ära" vor allem den Ost-West-Konflikt unter politikgeschichtlicher Perspektive in den Vordergrund gestellt haben. Der kulturgeschichtliche Paradigmenwechsel ist hingegen bislang kaum aufgearbeitet worden, obwohl er eine vielfache (kulturelle, mediale, aisthetische, ästhetische, ideengeschichtliche, weltanschauliche) Neuordnung der Verhältnisse und Beziehungen von "Weltall - Erde - Mensch" (so der Titel eines populärwissenschaftlichen Geschenkbandes zur Jugendweihe in der DDR) mit sich brachte.
Für die Zeitgenossen hatte der Sputnikflug ganz unterschiedliche Bedeutungen, je nach dem, auf welchem Kontinent und in welchem politischen System man lebte. Und auch heute lassen sich je nach Perspektive äußerst konträr akzentuierte Geschichten über den Erdtrabanten erzählen. Die dominierende Geschichte des "most famous word of the world" (Isaac Asimov) ist aber diejenige des "Schocks": Die Sowjetunion hat mit ihrem Vorstoß ins All die führende Industrienation der Welt überrascht und damit die prinzipielle Überlegenheit des westlichen Systems nicht nur symbolisch, sondern in einem Kernbereich - der wissenschaftlich-industriellen Entwicklung - infrage gestellt. Der Fehlstart der amerikanischen Vanguard-Rakete im Dezember 1957 (der ihr die Spottnamen "Flopnik", "Kaputnik" oder auch "Dudnik" einbrachte), die darauf erfolgte Gründung der NASA Anfang 1958 und schließlich 1962 John F. Kennedys Ankündigung, die Amerikaner würden noch in diesem Jahrzehnt auf dem Mond landen, markierten auf amerikanischer Seite den Beginn eines in der Geschichte der Menschheit bislang einmaligen Wettkampfs um einen technisch-wissenschaftlichen Vorsprung, der als Space Race oder Wettlauf zum Mond in die Geschichtsbücher des Kalten Krieges eingegangen ist.
Das Szenario könnte aus der Feder eines Jules Verne stammen: Die zwei mächtigsten Staaten der Erde investieren in den Wettstreit um die Realisierung eines wissenschaftlich-technischen Großprojekts in noch nie gekanntem Ausmaß materielle und intellektuelle Ressourcen. Und anfangs ist die kommunistische Diktatur hierbei sogar erfolgreicher. Sie landet mit ihren Sputniks sowie bemannten Weltraumflügen spektakuläre Erfolge und platziert sich unter den eingängigen Parolen "Družba" und "Mir" als globaler Hoffnungsträger. Doch irgendwann wendet sich das Blatt, amerikanischer Pioniergeist und eine innovative Forschungspolitik siegen über die schwerfällige und stagnierende Planwirtschaft. Der Wettlauf ins All lässt sich so gesehen auch als letztes utopisches Großprojekt der Wissenschaftsgläubigkeit und des Fortschrittsoptimismus der historischen Moderne interpretieren, mit dem die Menschheit kein Vierteljahrhundert nach Auschwitz ihr "progressives" Potenzial offenbart. Denn der "Schock" betraf neben diesem zukunftszugewandten Ringen zweier Systeme um die Semantik des Aufbruchs, des Fortschritts und der Modernität auch diese zweite, rückwärtsgewandte Dimension. Aufgrund der Einsicht, dass die den Globus umkreisende piepsende Blechkugel eine tickende Atombombe sein könnte, reaktivierte er zugleich technik- und zivilisationskritische Ressentiments. Und dieses Wissen einer die Menschheit bedrohenden ungeheuren Destruktionskraft war es auch, das in Anschluss unter anderem an Jules Verne ein eigenes Literaturgenre hervorgebracht hat: die Science Fiction, deren zentrales Thema insbesondere seit dem Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart ungekannte Kriegszenarien in galaktischen Ausmaßen sind.