E-Book, Deutsch, Band 25, 136 Seiten
Pollich / Stewen / Erdmann Sexuelle Gewalt gegen Frauen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8011-0858-8
Verlag: Verlag Deutsche Polizeiliteratur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 25, 136 Seiten
Reihe: Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie
ISBN: 978-3-8011-0858-8
Verlag: Verlag Deutsche Polizeiliteratur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch befasst sich mit sexueller Gewalt durch strafmündige männliche Täter, die diese gegen weibliche Opfer ausüben. Nicht zuletzt infolge einzelner herausragender sexueller Gewalttaten sowie spezifischer deliktischer Phänomene, die insbesondere mit dem Zuzug von Flüchtlingen und Migranten in Verbindung gebracht werden, ist dieses Themenfeld in den allgemeinen gesellschaftlichen Fokus gerückt. Bei der Darstellung konzentrieren sich die Autoren ausschließlich auf Delikte, bei denen sich Täter und Opfer vor der Tat nicht oder nur flüchtig kannten. Den Schwerpunkt legen sie dabei auf Fälle sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Im Einzelnen behandeln sie: Thematische Eingrenzung und Definitionen, Erklärungsansätze für sexuelle Gewalt, Kriminalitätslage- und entwicklung, Phänomenologie, Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten, Polizeilicher Opferschutz sowie Präventionsansätze. Die komplexen wissenschaftlichen sowie polizeilichen Wissensbestände zum Thema zusammenzufassen und praxistauglich darzustellen, ist dabei das erklärte Ziel der Autoren. Kompakt vermitteln sie so den Akteuren der praktischen Kriminalitätskontrolle die erforderlichen Kenntnisse für einen sachgerechten polizeilichen Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen und geben gleichzeitig Studierenden im Bereich Polizeivollzugsdienst ein wertvolles Arbeitsmittel an die Hand.
Julia Erdmann Polizeihauptkommissarin Julia Erdmann M.A., Dozentin für Kriminologie und Kriminalistik an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Abteilung Duisburg - Außenstelle Mülheim an der Ruhr; 2002 bis 2005 Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (Laufbahnprüfung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst), 2010 bis 2012 Masterstudiengang 'Kriminologie und Polizeiwissenschaft' an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Corinna Mahle Kriminaloberkommissarin Corinna Mahle M.Sc., Sachbearbeiterin Stabsdienststelle des Landeskriminalamts NRW; 2007 bis 2010 Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (Laufbahnprüfung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst), 2011 bis 2014 Masterstudiengang 'Forensic Psychology and Criminal Investigation' im Fernstudium an der University of Liverpool, UK. Maike Meyer Dr. Maike Meyer, Leiterin der Kriminalistisch-Kriminologischen Forschungsstelle des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen; 2008 bis 2011 Bachelorstudium der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Devianz an der Fachhochschule Münster, 2011 Akademiestudium Wissenschaftstheorie und quantitative Methoden empirischer Sozialforschung an der Fernuniversität Hagen, 2011 bis 2013 Masterstudium der Soziologie mit den Schwerpunkten Differenzierung, Ungleichheit und Lebenslauf sowie Methoden an der Universität Bielefeld, 2017 Promotion zur Dr. phil. an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Titel der Arbeit: 'Korruption in kommunalen Verwaltungen. Ein kriminologischer Beitrag zur Verwaltungswissenschaft'). Daniela Pollich Dr. Daniela Pollich, Professorin für Polizeiwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Abteilung Köln; 1999 bis 2004 Diplom-Studium der Soziologie mit den Schwerpunkten Strafrecht, Sozialpsychologie und empirische Sozialforschung an der KU Eichstätt und der Universität Trier, 2009 Promotion zur Dr. phil. an der Universität Bielefeld (Titel der Arbeit: 'Problembelastung und Gewalt - Eine soziologische Analyse des Handelns jugendlicher Intensivtäter'). Marcus Stewen Kriminalhauptkommissar Marcus Stewen, Verantwortlicher Fallanalytiker im Sachgebiet 31.5 (Operative Fallanalyse/ViCLAS) des Landeskriminalamtes NRW; 1992 bis 1995 Ausbildung zum Polizeimeister, 1999 bis 2001 Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW Köln (Laufbahnprüfung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst), 2010 bis 2017 Ausbildung zum Verantwortlichen Fallanalytiker beim BKA und zum Geoprofiling Analyst am University College London, sowie bei der Politie Limburg, NL.
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3Erklärungsansätze für sexuelle Gewalt
Die theoretischen Erklärungsansätze für sexuelle Gewalt gegen Frauen sind vielfältig. Im folgenden Abschnitt wird eine Übersicht über die wesentlichen Strömungen ursächlicher Erklärungen von Sexualdelikten gegeben. Die Übersicht ist auf solche Ansätze begrenzt, die sexuelle Gewalt gegen erwachsene Personen zum Gegenstand haben. Die Darstellung von Risikofaktoren, also von Merkmalen und Eigenschaften, die zwar mit sexuellen Gewalthandlungen gemeinsam auftreten, diese aber noch nicht erklären, wird in Abschnitt 5 vorgenommen. Aufgrund der Fülle von Ansätzen zur Erklärung sexueller Gewalt erhebt die folgende Darstellung nicht den Anspruch, umfassend zu sein. Auch die gewählte Art der Systematisierung erhebt keinen Anspruch auf Absolutheit. 3.1Evolutionstheoretische und biologische Ansätze
Aus Sicht der Evolutionstheorie, die „Vergewaltigung [als] ein Relikt unserer unzivilisierten Vorfahren“77 sieht, ist es ein Drang männlicher Lebewesen, sich so oft wie möglich zu reproduzieren, um das Fortbestehen des eigenen Erbgutes sicherzustellen. Um diese Chance möglichst zu erhöhen, sei es aus männlicher Sicht erstrebenswert, möglichst viele Nachkommen zu zeugen. Frauen, die naturgemäß weniger Nachkommen haben können als Männer, legen dagegen bei der Fortpflanzung größeren Wert auf die Auswahl adäquater Partner. Durch diese widerstreitenden Interessen kann es den evolutionstheoretischen Ansätzen zufolge zu einer Mangelsituation für die Männer und in der Folge zu erzwungenen sexuellen Handlungen an Frauen kommen.78 In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion sind derartige Ansätze allerdings in den Hintergrund getreten. Daneben existieren biologische Erklärungsansätze, welche die Ausübung (sexueller) Gewalt auf biologische bzw. körperliche Merkmale zurückführen. Derartige biologische Ursachen sexueller Übergriffe können beispielsweise ein erhöhter Testosteronspiegel oder Probleme im System der Neurotransmitter sein.79 Darüber hinaus werden in jüngster Zeit auch verstärkt genetische Faktoren sowie Aspekte der Gehirnentwicklung und Neurowissenschaften im Bereich der biologischen Theorien diskutiert.80 Nachweise kausaler, d.h. ursächlicher Zusammenhänge biologischer Faktoren und der Ausübung sexueller Gewalt sind allerdings, wie für alle Kriminalitätsphänomene, schwer zu erbringen und bislang wenig erhärtet bzw. Gegenstand aktueller Forschungsbemühungen. 3.2Psychologische Erklärungsansätze
Insgesamt sind bei den Erklärungen von Sexualdelinquenz psychologische bzw. psychiatrische Ansätze deutlich in der Überzahl. Regelmäßig wird zur Erklärung sexueller Gewalt auf Zusammenhänge mit Persönlichkeitseigenschaften81 sowie mit einer allgemeinen Dissozialität oder „Krankhaftigkeit“ der Täter hingewiesen, beispielsweise in Form von Persönlichkeitsstörungen oder Psychopathie.82 Aufgrund der Vielschichtigkeit der in der Literatur angeführten möglichen psychologischen und psychiatrischen Hintergründe83 wird im Folgenden lediglich eine selektive Auswahl einiger oft zitierter psychologischer Erklärungsansätze wiedergegeben. Eng in Zusammenhang mit den oben genannten biologischen Theorien stehen psychologische Ansätze, die Gründe für sexuelle Gewalt in sexuellen Impulsen sehen. Sexuelle Gewalt folgt nach dieser Sichtweise, kurz gesagt, einem fehlgeleiteten und weitgehend unkontrollierbaren Sexualtrieb oder -impuls, der Befriedigung sucht und bei fehlender Umsetzungsmöglichkeit in (sexuelle) Aggression umschlagen kann.84 Besonders in frühen Ansätzen dieser Art wurde sexuellen Gewalttätern gleichzeitig eine „abnorme[.] Persönlichkeit“85 attestiert. Diese Ansätze gelten heute als recht vereinfachend86 und haben eher den Charakter von empirisch wenig bewährten „Alltagstheorien“87. Aktuell finden sie deshalb kaum noch Anwendung. Mit „frühkindliche[n] Störungen in der psychosexuellen Entwicklung“88 befassen sich psychoanalytische bzw. psychodynamische Perspektiven. Problematische oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit können sich diesen Ansätzen zufolge im späteren Leben in Form von sexuellen Gewaltdelikten manifestieren. Allerdings werden sie in der Zusammenschau psychologischer Ansätze heute ebenfalls als weniger bedeutsam angesehen.89 Darüber hinaus existieren Erklärungsansätze sexueller Gewalt, die sich mit „Störungen der Sexualpräferenz“ – auch als „Paraphilien“90 bezeichnet – als Ursache sexueller Gewalt befassen. Derartige Paraphilien können sich beispielsweise in einem sexuellen Interesse an nicht-menschlichen Stimuli oder in einem Bedürfnis nach Qual und Demütigung von anderen oder sich selbst äußern. Die wohl bekannteste Paraphilie – die in diesem Band von untergeordnetem Interesse ist – ist die Pädophilie. Jedoch ist zu bedenken, dass Paraphilien bei Weitem nicht immer mit einer zwangsweisen Umsetzung gegen den Willen anderer Beteiligter einhergehen müssen.91 Zudem zeigen Forschungsbefunde, „dass der größte Teil aller Sexualstraftäter scheinbar nicht als paraphil“92 einzustufen ist. Weiter werden im Bereich der psychologischen Erklärungen kognitive Ansätze genannt, deren Kern darin besteht, dass sie die Gründe für sexuelles Gewalthandeln in der Informationsverarbeitung und der Wahrnehmung der Täter suchen. Beispielsweise kann Sexualität bei diesen Personen kognitiv stark mit Macht bzw. Dominanz verknüpft sein und so zum Erzwingen sexueller Handlungen führen.93 Ebenfalls im Bereich der kognitiven Ansätze sind so genannte kognitiv-behavioral ausgerichtete Erklärungen zu verorten. Diese beinhalten „kognitive[.] Verzerrungen [als] Denkmuster, die das kriminelle Verhalten rechtfertigen, beschönigen oder das Opfer für die Tat verantwortlich machen“94. Beispielsweise durch die Leugnung einer Schädigung der Opfer, eine abwertende Sicht auf Frauen oder die Darstellung der eigenen sexuellen Impulse als unkontrollierbar, versuchen Täter, ihre Taten mental zu rechtfertigen oder gar zu legitimieren.95 Daneben werden regelmäßig verschiedene lerntheoretische Ansätze herangezogen, um die Ausübung sexueller Gewalt zu erklären. Diese vertreten die Auffassung, dass sich „sexuelle Verhaltensweisen generell in Lernprozessen“96 entwickeln. Was als sexueller Reiz erkannt wird und wie darauf reagiert wird, ist demnach als erlernt anzusehen und damit auch auf das gesellschaftliche Umfeld zurückzuführen. Wesentlich dabei sind „Belohnungen“ und „Bestrafungen“, die durch – potenziell abweichende – sexuelle Handlungen eintreten können. Beispielsweise kann eine den Lerneffekt verstärkende Belohnung darin bestehen, dass erzwungene Sexualität die Frustration von (männlicher) jugendlicher Identitätsfindung oder von Zurückweisungen subjektiv lindert oder positive Gemütszustände herbeiführt. Genauso kann durch das Ausbleiben von Bestrafungen nach der Ausübung sexueller Gewalt ein Lerneffekt bezüglich dieser Folgenlosigkeit eintreten. Daneben spielt das Lernen am Modell, also beispielsweise einem sexuell gewalttätigen Elternteil, eine wesentliche Rolle bei derartigen Erklärungsansätzen.97 Scully und Marolla kritisieren generell, dass die psychiatrisch geprägte Literatur zu Vergewaltigungen die Forschungslandschaft und damit auch die Deutung des Deliktes dominiere; dieses Argument lässt sich sicherlich in Teilen auf die psychologische Perspektive ausweiten. Sexualstraftäter würden in dieser Sichtweise als krank oder anormal gesehen, was gleichzeitig dazu führe, dass sie nicht als „normale“ Männer bzw. Straftäter wahrgenommen werden (siehe hierzu auch Abschnitt 2.1).98 Die Autoren sprechen sich daher für einen zusätzlichen sozialen und kulturellen Blick auf das Phänomen aus.99 3.3Soziologische und kriminologische Ansätze
Soziologische und/oder kriminologische Ansätze sind in der Forschungslandschaft zwar vorhanden, jedoch generell bis heute, besonders wenn es um täterbezogene Erklärungen geht, wenig ausdifferenziert.100 Die bedeutsamsten gesellschaftsorientierten Ansätze betrachten insbesondere die sozialen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich sexuelle Gewalt...