Poplawski | Apoll Besobrasow | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Poplawski Apoll Besobrasow


Erste Auflage
ISBN: 978-3-945370-89-6
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-945370-89-6
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Boris Poplawski (1903-1935) war in den Pariser russischen Exilkreisen vor allem als ausdrucksstarker Lyriker bekannt. Der Roman 'Apoll Besobrasow' erzählt in gleißenden Bildern von einigen entwurzelten jungen Menschen - meist russischen Emigranten -, die sich torkelnd und tanzend durch Paris treiben lassen und der Kunstwerdung ihres eigenen Lebens widmen. Der Ich-Erzähler Wassili lernt den geheimnisumwitterten Apoll Besobrasow kennen, der voller Widersprüche, aber auch von enormer Anziehungskraft für ihn ist. Beide sind verlorene Existenzen, die nach Schönheit und Aufrichtigkeit streben, beide schlagen sich durch und deuten ihre Zukunftslosigkeit zu Freiheit um. Russland gehört der Vergangenheit an, Frankreich bleibt ihnen fremd - die Nichtzugehörigkeit des Dazwischen versetzt den Roman in einen ambivalenten Schwebezustand. Doch die selbstgewählte Isolation treibt giftige Blüten, auf die Euphorie der Freiheit droht ein tiefer Absturz zu folgen. Die von der Lyrik geprägte Sprache reizt die Imaginationskraft des Lesers mit ihrer hypertrophen Farbenpracht bis zum Überschäumen - und weist mit futuristischen und surrealistischen Einflüssen, mit den ausgiebig erforschten Rauschzuständen und der radikal antibürgerlichen Attitüde der Figuren wie ein früher Vorläufer auf die späteren Beatpoeten voraus. Olga Radetzkajas Übersetzung arbeitet mit feinem Gespür die Zwischen- und Untertöne in den grellen Formulierungen und kraftvollen Bildern heraus. Sie bringt die den Figuren eingeschriebene Verlorenheit und tiefe Traurigkeit des Exils, die auch hundert Jahre später noch Gültigkeit haben, zum Leuchten.

Boris Poplawski (1903-1935) wurde in Moskau in eine polnisch-litauische Adelsfamilie geboren. Er wuchs zweisprachig (russisch und französisch) auf und besuchte ein französisches Gymnasium in Moskau. Nach der Revolution 1917 verließ er mit seinem Vater Moskau; während des Bürgerkrieges emigrierte die Familie und gelangte via Konstantinopel 1921 nach Paris. Für ein Kunststudium zog es ihn 1922 vorübergehend nach Berlin, wo er unter anderem auf Boris Pasternak und Viktor Schklowskij traf; zurückgekehrt nach Paris widmete er sich vorwiegend der Literatur. 1931 erschien 'Fahnen', sein einziger Gedichtband zu Lebzeiten. Neben Gedichten schrieb Poplawski Artikel, Kunst- und Buchkritiken sowie zwei Romane. Auszüge aus dem ersten, 'Apoll Besobrasow', erschienen 1932 in Exilzeitschriften, der zweite, 'Zurück aus dem Himmel', wurde erst postum veröffentlicht. Der schillernde und berüchtigte Boris Poplawski fasste nie Fuß in der Pariser Gesellschaft, litt an Depressionen und experimentierte mit Drogen, 1935 starb er gerade einmal 32-jährig in Paris an einer Überdosis. Bis heute blühen Spekulationen um seinen frühen Tod. War es Selbstmord, ein Unfall, Mord - oder gar nur ein vorgetäuschter Tod?

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KAPITEL 1
DAS DER VERSUCHUNG VORAUSGEHT
Oiseau enfermé dans son vol, il n’a
jamais connu la terre, il n’a jamais eu d’ombre.
Paul Éluard Es regnete ohne Unterbrechung. Bald entfernte sich der Regen von der Erde, bald kam er ihr wieder näher, er brauste, er säuselte zärtlich; bald fiel er langsam wie Schnee, bald flog er in hellgrauen Wellen rasch vorbei und staute sich auf dem glänzenden Asphalt. Auch auf den Dächern und Simsen und auf den Mulden der Dächer regnete es, der Regen drang in die kleinsten Mauerspalten und flog lange bis auf den Grund geschlossener Innenhöfe hinab, von deren Existenz viele Hausbewohner nichts wussten. Er fiel, wie ein Mensch über Schnee geht, majestätisch und monoton. Bald sank er tiefer, wie ein aus der Mode gekommener Schriftsteller, bald flog er hoch über der Welt dahin, wie jene unwiederbringlichen Jahre, da es noch keine Zeugen im Leben gibt. Unter den Ladenvordächern kamen die nassen Menschen sich näher. Sie tauschten beinahe freundschaftliche Blicke, doch der Regen verriet sie, ließ nach, und sie trennten sich wieder. Es regnete auch in den Parks und über den Vororten, und dort, wo die Vorstadt aufhörte und das eigentliche Land begann, obwohl das unendlich weit weg war, so weit, dass man beim besten Willen nie hinkommen konnte. Es schien auf der ganzen Welt zu regnen, alle Straßen, alle Passanten schienen verbunden in diesem grauen, leicht salzigen Gewebe. Die Pferde trugen dunkle, durchnässte Gewänder, und die Bettler hatten, wie im alten Rom, ihre Köpfe mit Säcken bedeckt. In den Seitenstraßen spülten Bäche Busfahrscheine und Mandarinenschalen fort. Doch es regnete auch auf die Fahnen der Paläste und auf den Eiffelturm. Die grobe Schönheit des Weltalls schien sich im Regen aufzulösen und zu schmelzen wie in der Zeit. In regelmäßigen Abständen nahm er zu und wieder ab, er dauerte und blieb und schien selbst sein eigener Stoff zu sein. Doch wenn man sehr lange unbewegt auf die Tapete in seinem Zimmer oder die hellblaue Mauer des Nachbarhauses auf der anderen Seite des Hofs schaut, wird einem irgendwann bewusst, dass sich unmerklich Dämmerung in den Regen mischt, und die regenverhangene Welt taucht mit doppelter Geschwindigkeit darin ein und verschwindet. Alles verändert sich in dem Zimmer hoch unterm Dach, das blassgelbe Licht des Sonnenuntergangs erlischt, und plötzlich wird es fast vollkommen dunkel. Doch dann geben die Wolken den Rand des Himmels wieder frei, und eine neue, weiße Dämmerung erhellt das Zimmer. Währenddessen vergehen die Stunden, die Angestellten kehren aus ihren Büros zurück, tief unten werden die Laternen angezündet und ihr Widerschein beleuchtet geisterhaft die Decke. Und weiter vergeht, hoffnungslos verliert sich die Zeit. Unaufhörlich saugen die riesigen Städte Menschenstaub ein und atmen ihn wieder aus. Unzählige Blicke treffen sich, und immer will einer davon siegen oder ergibt sich, sinkt zu Boden, gleitet ab. Niemand wagt es, auf einen anderen zuzugehen, und tausend Träume zerstreuen sich nach allen Seiten. Währenddessen wechseln die Jahreszeiten, und auf den Dächern treibt der Frühling Knospen. Hoch über der Straße wärmt er die rosa Quadrate der Schornsteine und die zarten grauen Blechoberflächen, an die man sich so gut anschmiegen kann, wenn man ganz allein ist, und die Augen schließen, oder in unbequemer Haltung von den Eltern verbotene Bücher lesen. Hoch über der Welt, im Dunkel der Nächte, fällt Schnee auf die Dächer. Er ist anfangs kaum zu sehen, er sammelt sich, er liegt ruhig und gleichmäßig da. Er wird dunkler und schmilzt. Er verschwindet, bevor ihn ein Mensch gesehen hat. Dann, fast gleichzeitig mit dem Schnee, kommt plötzlich, unverhofft und übergangslos der Sommer. Gewaltig und lasurblau, entfaltet er sich majestätisch und schwebt über den Fahnen der öffentlichen Gebäude, über dem fleischigen Grün der Boulevards, über dem Staub und der rührenden Geschmacklosigkeit der stadtnahen Sommerhäuschen. Dazwischen aber gibt es noch andere, seltsam durchscheinende, unklare Tage voller Wolken und Stimmen; sie leuchten ganz eigen und erlöschen lange, lange auf dem rosa Putz irgendwelcher fernen, kleinen Häuser. Das Läuten der Straßenbahnen klingt eigenartig gedehnt, die Akazien verströmen schweren, süßen Leichengeruch. Wie gewaltig ist der Sommer in den verlassenen Städten, wo alles halb geschlossen ist und die Menschen sich langsam, wie unter Wasser bewegen. Wie herrlich und leer ist der Himmel über ihnen, er gleicht dem Staub und Verzweiflung atmenden Himmel eines Felsengebirges. Schweißüberströmt, kopfüber, fast bewusstlos trieb ich den gewaltigen Fluss des Pariser Sommers hinunter. Ich lud Waggons aus, überwachte Maschinen mit rasend schnellen Triebrädern, tauchte hysterisch zuckend Hunderte und Aberhunderte schmutziger Restaurantteller in kochendes Wasser. Sonntags schlief ich in einem billigen neuen Anzug und Schuhen von unanständig gelber Farbe auf dem Gras der ehemaligen Befestigungsanlagen. Später schlief ich einfach auf Bänken, und wenn meine Bekannten zur Arbeit gingen, auf ihren zerwühlten Hotelbetten in der Tiefe grauer, heißer, tuberkulöser Zimmer. Wie alle armen Leute rasierte und kämmte ich mich sorgfältig. In Bibliotheken las ich wissenschaftliche Bücher in billigen, mit idiotischen Unterstreichungen und Randbemerkungen übersäten Ausgaben. Ich schrieb Gedichte und las sie meinen Zimmernachbarn vor. Sie tranken billigen, gaslaternengrünen Wein und sangen falsch, aber mit unverhohlenem Schmerz russische Lieder, an deren Texte sie sich kaum mehr erinnern konnten. Danach erzählten sie Witze und lachten laut, eingehüllt in Zigarettennebel. Ich war vor kurzem erst angekommen und hatte mich eben von meiner Familie getrennt. Ich hielt mich gebeugt, meine ganze Erscheinung trug den Ausdruck irgendeiner transzendentalen Erniedrigung, die ich, wie eine Hautkrankheit, nicht abschütteln konnte. Ich zog durch die Stadt und von einem Bekannten zum nächsten. Obwohl ich auf der Stelle bereute, dass ich gekommen war, blieb ich sitzen und beteiligte mich mit beschämender Höflichkeit an den endlosen, matten und langweiligen, von Seufzern und Tee aus schlecht gespülten Tassen unterbrochenen Gesprächen der Emigration. »Warum haben sie nur alle aufgehört, sich die Zähne zu putzen und aufrecht zu gehen, diese Leute mit den vergilbten Gesichtern?«, spottete Apoll Besobrasow über die Emigranten. Schleppenden Schritts hatte ich meine Familie verlassen; mit schleppenden Gedanken hatte ich Gott, Würde und Freiheit hinter mir gelassen; mich von einem Tag zum nächsten schleppend, hatte ich mein vierundzwanzigstes Lebensjahr erreicht. In jenen Jahren zerknitterten und verschoben sich die Kleider an mir von selbst, sie bedeckten sich mit Asche und Tabakkrümeln. Ich wusch mich selten und schlief gern in meinen Kleidern. Ich lebte in der Dämmerung. In der Dämmerung wachte ich auf einem fremden, zerwühlten Bett auf. Ich trank Wasser aus einem Glas, das nach Seife roch, und sah lange auf die Straße, während ich an einem vom Hausherrn weggeworfenen Zigarettenstummel sog. Dann kleidete ich mich an, untersuchte lange und bekümmert meine Stiefelsohlen, stülpte den Kragen um und zog sorgfältig meinen Scheitel nach – Koketterie der Armen, die mit erbärmlichen Gesten wie diesen zeigen wollen, dass »im Grunde alles beim Alten« ist. Vorsichtig schlich ich dann aus dem Haus, zu jener besonderen Stunde, wenn das riesige, sommerliche Abendrot noch glüht, ohne zu verbrennen, während die gelben Reihen der Laternen wie eine gewaltige Prozession schon den sterbenden Tag verabschieden. Was war, metaphysisch betrachtet, denn eigentlich geschehen, nur weil man einer Million Menschen einige Wiener Sofas von fragwürdigem Geschmack und offensichtlich gefälschte Bilder wenig bekannter Künstler der niederländischen Schule weggenommen hatte, desgleichen Federbetten und Piroggen, die einen unweigerlich in einen schweren, todesähnlichen Mittagsschlaf versinken ließen, aus dem man tief beschämt wieder erwachte? »Sind sie nicht hinreißend«, sagte Apoll Besobrasow, »all diese verbeulten, verwaschenen Emigrantenhüte, die wie schmutziggraue, erschöpfte Filzschmetterlinge auf schlecht frisierten, kahl gewordenen Köpfen sitzen? Und die schüchternen rosa Öffnungen – Achillesfersen! –, die am Rand eines abgetretenen Schuhs aufblitzen, und die fehlenden Handschuhe, und der zarte, speckige Glanz der Krawatten? Wenn Jesus Christus in unserer Zeit lebte, würde er dann nicht auch ohne Handschuhe, in kaputten...



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