Buch, Deutsch, 336 Seiten, KART, Format (B × H): 174 mm x 243 mm, Gewicht: 582 g
Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung
Buch, Deutsch, 336 Seiten, KART, Format (B × H): 174 mm x 243 mm, Gewicht: 582 g
ISBN: 978-3-87387-754-2
Verlag: Junfermann Verlag
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Naturwissenschaften Biowissenschaften Biowissenschaften Neurobiologie, Verhaltensbiologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Biologische Psychologie, Neuropsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Sozialpsychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Kognitionspsychologie Emotion, Motivation, Handlung
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Neurologie, Klinische Neurowissenschaft
Weitere Infos & Material
Vorwort von Bessel van der Kolk
Einleitung: Warum gibt es eine Polyvagal-Theorie?
Teil I: Theoretische Prinzipien
Neurozeption: Ein System unterbewußter Wahrnehmung, das bedrohliche und sichere Situationen zu erkennen vermag
Orientierung in einer Welt voller Feinde: Für Säugetiere charakteristische Veränderungen unseres evolutionären Erbes: Eine Polyvagal-Theorie
Die Polyvagal-Theorie: Neue Erkenntnisse über adaptive Reaktionen des autonomen Nervensystems
Teil II: Biohaviorale Regulation während der frühkindlichen Entwicklung
Der vagale Tonus: Ein physiologischer Marker für Streßanfälligkeit
Die Regulation der Vagusbremse bei Säuglingen und Voraussagen über spätere Verhaltensprobleme: Ein psychobiologisches Modell sozialen Verhaltens
Der autonome Zustand bei Kindern und die Entwicklung sozialen Verhaltens: Eine polyvagale Sicht
Teil III: Soziale Kommunikation und Beziehungen
Die Emotion: Ein Abfallprodukt der Phylogenese des autonomen Nervensystems
Liebe: Eine emergente Eigenschaft des autonomen Nervensystems von Säugetieren
Soziales Engagement und Bindung: Eine phylogenetische Sicht
Teil IV: Therapeutische und klinische Perspektiven
Die Polyvagal-Hypothese: Autonome Regulation, Vokalisationen und Zuhören
Der Vagus: Vermittler mit Autismus assoziierter behavioraler und physiologischer Charakteristika
Die Auswirkung von Mißbrauchserlebnissen auf die autonome Regulation
Musiktherapie und Trauma aus der Sicht der Polyvagal-Theorie
Teil V: Ausblicke - Soziales Verhalten und Gesundheit
Neurobiologie und Evolution: Mechanismen, Mediatoren und adaptive Konsequenzen fürsorglichen Verhaltens
Reziproke Einflüsse zwischen Körper und Gehirn bezüglich der Wahrnehmung und des Ausdrucks von Affekt: Eine polyvagale Perspektive
Neurozeption: Ein System unterbewußter Wahrnehmung, das bedrohliche und sichere Situationen zu erkennen vermag
- Das Kapitel Neurozeption beschreibt, wie neuronale Schaltkreise unterscheiden, ob bestimmte Situationen oder Menschen ungefährlich oder gefährlich sind oder ob sie gar als lebensbedrohlich angesehen werden müssen.
- Neurozeption erklärt, weshalb ein Baby freudig gluckst, wenn seine primäre Bezugperson anwesend ist, wohingegen es in Gegenwart eines Fremden weint, und warum ein kleines Kind Umarmungen seiner Eltern genießt, die Umarmung eines Fremden jedoch als Übergriff empfindet.
- Die Polyvagal-Theorie beschreibt drei Entwicklungsstufen des autonomen Nervensystems (ANS) von Säugetieren: Immobilisation (Erstarren), Mobilisation und soziale Kommunikation bzw. soziales Engagement.
- Beeinträchtigungen der Neurozeption könnten die eigentliche Ursache psychischer Störungen wie Autismus, Schizophrenie, Angststörungen, Depression und reaktiver Bindungsstörungen sein.
Was entscheidet darüber, wie zwei Menschen, die einander begegnen, sich zueinander verhalten? Ist diese erste Reaktion ein Resultat der Erlebnisse der Betreffenden in ihrer Kultur, ihrer Familie und im Rahmen anderer Sozialisationsprozesse, oder ist sie der Ausdruck eines neurobiologischen Prozesses, der in die DNS unserer Spezies einprogrammiert ist? Und falls diese Arbeit zu reagieren eine neurobiologische Grundlage hat: Aktivieren bestimmte Merkmale des Verhaltens der anderen Person entweder Empfindungen der Sicherheit, der Liebe und des Behagens oder solche der Bedrohung? Weshalb können sich manche Kinder ankuscheln und eine Umarmung genießen, während andere in solchen Situationen erstarren und sich der Nähe entziehen? Warum lächeln manche Kinder einen ihnen unbekannten Menschen an und lassen sich aktiv auf ihn ein, wohingegen andere ihren Blick von ihm abwenden und sich zurückziehen?
Helfen uns Kenntnisse über die menschliche Biologie, die Auslöser und Mechanismen dieser Verhaltensweisen im Laufe der normalen Entwicklung zu verstehen? Wenn wir herausfinden, wie bestimmte Verhaltensmerkmale soziales Verhalten fördernde neuronale Schaltkreise aktivieren, können wir dann Kindern mit schwerwiegenden Entwicklungsstörungen wie Autismus besser helfen, ihr Sozialverhalten zu verbessern?
Das Nervensystem schätzt unablässig Risiken und Gefahren ein, indem es Informationen über Vorgänge in der Umgebung verarbeitet, die uns über die Sinne erreichen. Ich habe den Begriff Neurozeption geprägt, um zu beschreiben, wie neuronale Schaltkreise unterscheiden, ob von bestimmten Situationen oder Menschen keine Gefahr ausgeht, ob sie gefährlich sind oder ob sie als lebensbedrohlich einzustufen sind. Aufgrund unserer Entwicklung als Spezies findet die Neurozeption in primitiven Bereichen unseres Gehirns statt, ohne daß uns dies bewußt wird. Die Einstufung eines anderen Menschen als ungefährlich oder gefährlich aktiviert neurobiologisch determiniert prosoziale oder defensive Verhaltensweisen. Auch wenn wir uns einer Gefahr gar nicht bewußt sind, hat unser Körper neurophysiologisch schon eine Sequenz neuronaler Prozesse initiiert, die adaptive Verteidigungsreaktionen wie Kampf, Flucht oder Erstarren fördert.
Das Nervensystem eines Kindes (wie auch eines Erwachsenen) vermag in einer neuen Umgebung oder beim Zusammentreffen mit einem Fremden eine Bedrohung oder eine Gefahr für Leib und Leben zu entdecken. Selbst wenn kognitiv kein Grund zur Angst erkennbar ist, kann der Körper des Kindes oder Erwachsenen völlig anders reagieren. Manchmal ist sich nur der Betreffende selbst über die kontroverse Reaktion seines Körpers im klaren, weil sein Herz so stark pocht, daß der Körper zu beben beginnt. In anderen Fällen sind solche Reaktionen auch für Außenstehende zu erkennen. Beispielsweise kann ein Kind zittern, sein Gesicht kann rot werden, und auf seinen Händen und seiner Stirn kann deutlich Schweiß zu erkennen sein. Andere erbleichen, ihnen wird schwindelig, und manche fallen sogar plötzlich in Ohnmacht.
Dieser Prozeß der Neurozeption würde erklären, weshalb ein Baby beim Anblick einer vertrauten Bezugperson wohlige Gluckslaute ertönen läßt, aber auf die Annäherung eines Fremden mit Weinen reagiert, oder weshalb ein kleines Kind es genießt, wenn es von seinen Eltern sanft umarmt wird, die gleiche Annäherung eines Fremden jedoch als Übergriff erlebt. Wir können diesen Prozeß beobachten, wenn zwei Kinder einander zum ersten Mal in einem Sandkasten auf einem Spielplatz begegnen. Wenn der Sandkasten ihnen vertraut ist, wenn die Eimer und Schaufeln beider ungefähr gleich attraktiv sind und wenn sie selbst ungefähr gleich groß sind, gelangen sie möglicherweise zu der Einschätzung, daß von der Situation und von dem anderen, fremden Menschen, der ihnen gegenübersteht, keine Gefahr ausgeht, und vielleicht gelingt es beiden dann, sich positiven Verhaltensweisen zu widmen, die soziales Engagement beinhalten - anders gesagt: Vielleicht fangen sie dann an zu spielen.
Aus dem Vorwort von Bessel van der Kolk
Es ist immer wieder ein außergewöhnliches Erlebnis, ein neues Musikstück oder einen Vortrag über eine neue wissenschaftliche Idee zu hören, etwas, das uns plötzlich hellwach macht und in unserem Geist nicht nur ein Licht, sondern eine ganze Galerie von Lichtern aufleuchten läßt, die unser Verständnis von Sinn und Zweck des Lebens für immer verändern. Peter Sellers´ Produktion der Hochzeit des Figaro von Mozart zu sehen war für mich solch ein Erlebnis; Elisabeth Kübler-Ross in meiner Studienzeit über Schizophrenie sprechen zu hören ebenfalls; und Steve Maiers Vortrag über die Neurobiologie unausweichlicher Schocks am American College of Neuropsychopharmacology war ein weiteres, das mich mein Leben lang begleiten wird.
Am Morgen des 2. Mai 1999 erlebten wir im Rahmen der von mir betreuten Boston Trauma Conference drei der denkwürdigsten und unvergeßlichsten Vorträge, die in den 22 Jahren der Existenz dieser Konferenz gehalten wurden. Der erste Redner an jenem Tag, Bruce McEwen, sprach über die Wirkung von Streß auf den Hippocampus. Er erklärte die Idee der Neuroplastizität und zeigte auf, daß Ramon-y-Cahals düsteres Diktum, Anatomie sei schicksalhaft - daß die neuronalen Verbindungen im Gehirn unveränderbar seien -, unzutreffend ist. Jaak Panksepp, der im Rahmen seiner Forschungsarbeit beschrieben hat, welche Gehirnschaltkreise nährende Zuwendung, Furcht, Wut und Raufspiele organisieren, war der nächste Referent. Der letzte Redner an jenem Morgen war Stephen Porges, der über die Polyvagal-Theorie der Emotionen sprach. Dieser Vortrag führte bei mir persönlich und bei vielen meiner Kollegen zu einer grundlegenden Veränderung des Verständnisses unserer Arbeit.
Kliniker und Forscher, die sich mit chronisch Traumatisierten befassen, werden ständig mit Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen konfrontiert. Unsere Patienten (und manchmal auch Kollegen) fühlen sich sehr leicht angegriffen, und oft greifen sie störend in ihr (und unser) Leben ein, indem sie zu wütend, zu beschämt oder zu starr werden. Geringfügige Irritationen können bei ihnen schnell zu Katastrophen ausufern, und kleine Kommunikationspannen lassen sich bei solchen Menschen nur schwer ausbügeln und verwandeln sich leicht in dramatische interpersonale Konflikte. Jene Güte, die für das menschliche Miteinander so wichtig ist, erweist sich nur zu oft als wirkungslos, wenn es darum geht, Verzweiflung, Wut oder Entsetzen von Menschen zu lindern, die in ihrem Leben schwere Traumata erlebt haben oder verlassen wurden. [...]
Mittlerweile ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit wir anfingen, uns für die Rolle die Herzratenvariabilität (HRV) bei der Aufrechterhaltung dieser emotionalen Achterbahnen zu interessieren. So kamen wir erstmals mit der von Stephen Porges entwickelten Polyvagal-Theorie in Berührung. Schon bald nach Beginn der HRV-Messungen fiel uns auf, daß Probanden, deren HRV während der Erinnerungen an entsetzliche persönliche Erlebnisse relativ stabil war, offensichtlich nicht unter PTBS litten, wohingegen die HRV bei PTBS-Kranken in der Regel sehr schlecht war. Die von Stephen Porges entwickelte Polyvagal-Theorie, die auf den Untersuchungen von Charles Darwin und William James - die bereits die zentrale Rolle menschlicher Interaktionen und körperlicher Empfindungen für die Emotionalität erkannt hatten - basiert, half uns, diese Beobachtung zu deuten.
Vor dem Auftauchen der Polyvagal-Theorie lautete die anerkannte Lehrmeinung, das Autonome Nervensystem beinhalte einen Antagonismus von Sympathischem und Parasympathischem Nervensystem, die in einer funktionalen Konkurrenzbeziehung zueinander stünden und die Aktivitäten bestimmter Zielorgane entweder verstärkten oder verringerten. Durch die Polyvagal-Theorie wurde dieses Modell stark erweitert, wobei der soziale, myelinisierte Vagus die wichtigste Rolle spielte, jenes der Feinabstimmung dienende Regulationssystem, das die Möglichkeit eröffnet, mit Hilfe der Umgebung streßbezogene physiologische Zustände zu verstärken oder abzuschwächen. Porges schreibt: "Bei Säugetieren entwickelte sich ein hierarchisch organisiertes regulierend wirkendes Streßreaktionssystem, das nicht nur auf dem wohlbekannten sympatho-adrenalen Aktivierungssystem und dem parasympathischen inhibitorischen Vagussystem beruht. Vielmehr werden diese Systeme außerdem durch den myelinisierten Vagus und die den Gesichtsausdruck steuernden Kranialnerven beeinflußt, die zusammen das System Soziales Engagement (SSE) bilden. Die Entwicklung der Selbstregulation beginnt also phylogenetisch mit der Herausbildung eines primitiven behavioralen Hemmungssystems, sie setzt sich in der Entwicklung eines Kampf-Flucht-Systems fort, und sie gipfelt beim Menschen (und bei anderen Primaten) in der Entstehung eines komplexen, durch Gesichtsausdruck und Vokalisation vermittelten Systems Soziales Engagement" (Porges 2007a). Somit fungiert der Vagus von Säugetieren als "aktive Vagusbremse, die schnelle behaviorale Mobilisation ermöglicht und die Fähigkeit unterstützt, einen Menschen mittels interozeptiver viszeraler Wahrnehmung und sozialer Interaktion physiologisch zu stabilisieren" (Porges 2007a). Nach Porges ermöglicht diese phylogenetische Neuentwicklung bei Säugetieren die Stabilisierung des physiologischen Arousals durch soziale Interaktion, vermittelt durch Gesichtsausdruck, Sprache und Prosodie. Wird die Umgebung als sicher eingeschätzt, kommt es zur Hemmung der defensiven limbischen Strukturen. Dies ermöglicht es, in Phasen sozialen Engagements ruhige viszerale Zustände aufrechtzuerhalten.