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E-Book

E-Book, Deutsch, 326 Seiten

Prisching Bluff-Menschen

Selbstinszenierungen in der Spätmoderne
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7799-5362-3
Verlag: Juventa Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Selbstinszenierungen in der Spätmoderne

E-Book, Deutsch, 326 Seiten

ISBN: 978-3-7799-5362-3
Verlag: Juventa Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Individualisierung, Identität, Selbstentfaltung - das sind selbstverständliche Elemente der späten Moderne. »Wir alle spielen Theater« und müssen die Einzigartigkeit des Ichs über die Bühne bringen. Aber das ist nicht einfach. Denn in einer chaotischer werdenden Welt ist das unverwechselbare Selbst schwierig zurechtzubasteln, und oft handelt es sich bloß um ziemlich konformistische Muster. Zudem will sich der Einzelne nicht durch unverständliche Einzigartigkeit unmöglich machen. Da tut sich eine Kluft auf, die oft nur durch Bluff zu schließen ist, in einer Form, die vermehrt durchschaut und akzeptiert, ja anerkannt und eingefordert wird. Diesen Bluff findet man auch bei Vorstellungen über Fortschritt und Gemeinschaft, Körper und Religion, Politik und Wissenschaft. Manchmal bleiben nur Fakes und Bullshit.

Manfred Prisching, Jg. 1950, Mag. rer. soc. oec., Dr. jur., ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Graz.

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Einleitung
Ein weises, weitblickendes Zitat von Robert Musil – aus seinem Mann ohne Eigenschaften – ist zwar auf Kakanien (auf die alte Habsburger-Monarchie) bezogen, aber es trifft die Verhältnisse der Spätmoderne recht gut: Nicht nur „die Abneigung gegen den Mitbürger war dort [in Kakanien] bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen – immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch; und es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.“ (Musil 1983, Kap. 9) Das ist unser Thema. Es geht um die Identität der Menschen, um ihre Individualität und ihre vielfachen, miteinander verwobenen Selbste. Und es geht um eine ebenso komplexe spätmoderne Gesellschaft, in der sie sich behaupten müssen – indem Denken und Handeln, Wollen, Wissen und Tun nicht immer im Einklang stehen, sondern durch Bluff in Balance gehalten werden. Ein hohes Ausmaß an Bluff ist Stabilitätsbedingung der Spätmoderne. Neben Robert Musil bedienen wir uns auch bei Erving Goffman und seiner Interpretation durch Ronald Hitzler. Bluff-Menschen sind eine Spielart der Goffmenschen. Ronald Hitzler hat – in Anspielung auf Goffman – vom Goffmenschen gesprochen (Hitzler 1992, 2015): „Der Goffmensch weiß, dass er sich auf prinzipiell unsicherem Terrain bewegt; er weiß, dass er ständig Probleme zu bewältigen, Antworten zu suchen und Rätsel zu lösen hat. Eben deshalb hat er – jedenfalls (und in der Regel auch nur) solange ihm die anderen nicht auf die Schliche kommen – zunächst einmal relativ gute Chancen, zu realisieren, was er warum auch immer realisieren will.“ (Hitzler 2015, 63) Er kann uns also über sich Einiges erzählen; nicht Beliebiges, denn das würden wir nicht glauben, aber es gibt beträchtliche Spielräume. Somit kann er auch bluffen. Es wird uns aber nur ein spezifisches Problem dieses Verhaltens interessieren: der Umstand, dass in der Spätmoderne persönliche Identität zu einem kulturell beherrschenden Thema geworden ist und spezifische Individualität sich hat entfalten können. Da zur selben Zeit die Gesellschaft vernetzter, interdependenter und komplexer geworden ist, tun sich Widersprüche auf. Diese Widersprüche können nur durch die Nutzung und Entfaltung von Bluff gelöst werden. Individuen operieren mit Bildern, Regeln, Ideen, Verfahrensweisen, Deutungen, an die sie selbst nicht (oder bestenfalls halb) glauben, die aber praktikabel oder jedenfalls alternativlos sind. Bluff soll verweisen auf die „schwebenden“, flüchtigen Verhältnisse, in denen man sich bewegen und mit denen man operieren muss, von denen man aber gleichzeitig weiß, dass sie nicht wirklich stimmen oder gelten; Symbolisierungen und Mythisierungen von Individuen, Institutionen, Gütern, Situationen, von denen man weiß, dass sie nicht das „Reale“ direkt abbilden. Bluff soll bedeuten, dass man mit dem Imaginären vertraut geworden ist, dass man unsicher geworden ist, wo die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion liegen – aber dass man mit diesen schwebenden Verhältnissen arbeitet, weil man nichts anderes hat. Das fängt bei der Stilisierung des „einzigartigen Individuums“ an: Jeder muss sich um seine Besonderheit, ja Einzigartigkeit bemühen, und ganz im Geheimen weiß doch jeder, dass es damit nicht so weit her ist. Es gilt aber auch für andere Regelsysteme, dass es sich eher um Imaginäres als wirklich Gültiges handelt: die gängigen Beschreibungen kreativ-dynamischer Mitarbeiter und ihrer unglaublichen Karriereaussichten, die verantwortungsbewusst-moralischen Selbstdarstellungen von Politikern, Selbstinszenierungen durch Kosmetik und Mode, die Evaluierungsprozesse von wissenschaftlichen Einrichtungen, das Verantwortungsbewusstsein von Banken, die Versprechungen esoterischer Szenen, die Treuherzigkeit religiöser Proponenten … Bluff soll nicht eingeschränkt sein auf: Betrugsabsicht, Täuschung zum Zwecke der Vorteilsgewinnung. Ein bisschen Selbsttäuschung ist ja auch immer dabei. Es ist eher eine Akzeptanz von Regeln, von denen man – in ruhiger Stunde – weiß, dass sie fragwürdig sind, dass sie nicht „an sich“ gelten, dass sie nicht leisten, was sie versprechen, dass es sich, genau genommen, um Unsinn handelt. Aber wenn man nichts anderes hat, ist Leben mit dem Bluff ein brauchbarer Interaktionsmechanismus. Bluff ist nicht als Lüge gemeint, die Behauptung seiner allgegenwärtigen Existenz wird nicht als Kulturkritik vorgebracht; es geht einfach darum, zu verstehen, wie in der Gegenwartsgesellschaft die unzähligen Widersprüche, in welche die Menschen mit ihrer Individualität verwickelt sind, durch Storys und Bilder, durch Symbole und Mythen, durch Verhüllungen und Verzerrungen überbrückt werden. Die Besonderheit in der späten Moderne liegt darin, dass man von dieser Bluff-Haltigkeit irgendwie, halb oder ganz, „weiß“, ja dass sie in vielen Situationen erwartet wird, also zu den Spielregeln der Gesellschaft gehört, und dass die mit dem Bluff verbundene Leistung, eine glaubwürdige Selbstinszenierung zustande zu bringen, als solche positiv bewertet und gewürdigt wird. Es handelt sich also nicht nur um die alte These, dass man gar nicht anders handeln kann, als Theater zu spielen, sich anderen zu „präsentieren“ und sich zu „inszenieren“, gewissermaßen seine „beste Seite“ zu zeigen; das haben schon Georg Simmel und Erving Goffman und andere gesagt, und Theorien von Rollen, Stilen, Milieus, Habitus und dergleichen gehören zum soziologischen Grundwissensbestand. Es handelt sich um die stärkere These, dass ein zumindest halbes Bewusstsein von dieser Künstlichkeit besteht und dass bestimmte Formen des Inszenierungsspiels zur nicht nur akzeptierten, sondern sogar geforderten Selbstverständlichkeit alltäglichen Handelns gehören. Es gehört dazu die Unernsthaftigkeit, die Robert Musil beschreibt, und die als Unernsthaftigkeit ernsthafte Auswirkungen zeitigt. Goffman hat den Inszenierungscharakter des Seins und Handelns noch aufgedeckt; in der Spätmoderne wissen das ohnehin alle: Das Inszenieren ist part of the game. Da muss man nichts aufdecken. Ohne Bluff geht es nicht. So ist das Leben. Ein Jahrzehnt ist es her, dass ich ein kleines Büchlein mit dem dreigliedrigen Titel Das Selbst. Die Maske. Der Bluff veröffentlicht habe (Prisching 2009). Es war, den drei Begriffen entsprechend, durch drei einfache Thesen strukturiert. Selbst: Die spätmoderne Gesellschaft ist eine individualistische Gesellschaft: „Identität“ ist wichtig, die persönliche und einzigartige Identitätsbildung wird den Individuen angesonnen. Jeder ganz anders. Jeder ein Solitär. Maske: Diese Botschaft ist übertrieben – denn in Wahrheit folgt die Logik der originären Identitätsbastelei analysierbaren Mustern und Vorgaben. Es handelt sich eher um eine Gesellschaft des „konformistischen Individualismus“. Bluff: Die Kluft zwischen der Behauptung von Individualität, Authentizität und Originalität auf der einen Seite und der manchmal recht trivialen Konformität, Anpassung und Anschlussfähigkeit auf der anderen Seite ist nur zu überbrücken, indem man Bluff einsetzt – Bluff anderen gegenüber und sich selbst gegenüber. – Im letzten Jahrzehnt musste man meines Erachtens keine Abstriche von einer solchen Beobachtung machen.1 Vielmehr scheint es, dass sich die beschriebenen Tendenzen weiterentwickelt, fortgesetzt, intensiviert und ausgeprägt haben, nicht zuletzt durch die steigende Bedeutung von ...



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