Prosser | Verschwinden in Lawinen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Prosser Verschwinden in Lawinen

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99027-192-6
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-99027-192-6
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur. Auch Xaver beteiligt sich an der Suche im Unwegsamen, zuerst als einer der vielen Freiwilligen, dann auf eigene Faust. Als Heranwachsender hatte er erleben müssen, wie der geliebte Großvater in den Bergen verschwunden war. Erst der Hinweis von Mathoi, eines Heilers, der sich hoch oben über dem Tal als Einsiedler versteckt hält, führte Xaver und seine Mutter zu ihm - zu spät allerdings, der Großvater war tot. Hätte Xaver ihn retten können? Und was kann er jetzt tun, um sich von den Zweifeln an seiner Schuld zu befreien? Er macht sich auf die Suche nach Mathoi. Doch dazu muss er erst seine Mutter finden, die sich nach dem Zerfall der Familie, vom Alkohol und der Arbeit im Tourismus gezeichnet, ins Hochgebirge zurückgezogen hat. Aber wo ist Xavers Platz? Wo liegt sein Glück? Und ist mit der Lawine endlich seine Chance gekommen, beides zu finden und sich zu beweisen?
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Am darauffolgenden Tag tigerte Anna auf den Balkon und wieder retour. Aus Konrads Tabak hatte sie sich eine Zigarette gedreht, vielleicht beruhigte das die Nerven. Der Rauch schlingerte durch die Luft. Vom Balkongeländer überblickte Xaver das Tal. Die frisch gemähten Steilhänge; die Schieferdächer des Dorfes, herdenartig um den Kirchturm gedrängt. Das hungrige Dröhnen einer Motorsäge, das Knacken eines fallenden Baumes. Aufsteigende, erregt kreischende Raben. Xaver wusste, dass der Großvater auf der Bank an der Hauswand lag, es war unnötig, sich umzuwenden. Eine Hand unter dem Kopf, in den Fingern der anderen eine Selbstgedrehte, wie oft bei Sonnenschein: Der Geruch der Zigarette zwischen Annas Lippen genügte, diese Vorstellung zu wecken. Seltsam, wie ausgeliefert man war. In Wahrheit streckte sich niemand auf den azurblau lackierten Brettern aus und rauchte, die Asche zu Boden schnippend. Natürlich nicht, niemandem würden Splitter der Farblasur auf der Kleidung kleben. Drinnen saß Vinz, in Kellnertracht aus weißem Hemd und schwarzer Hose, vor sich am Tisch ein beschriebenes Blatt. Die Telefonnummern und Namen notierte er auf Post-its. Um fünf musste er wieder in der Arbeit sein, bis dahin galt es, Ordnung zu schaffen. Die Post-its klebte er auf die Schränke und Fensterrahmen. Das sind die Freiwilligen, sagte er. Und hier alle Hinweise, die bis jetzt eingetroffen sind. Mit Tixo befestigte er eine Landkarte an der Tür. Markierte darauf die Orte, an denen Konrad laut Zeugen gewesen war. Gewesen sein soll. Beispielsweise hatte jemand aus dem Nachbartal den Behörden gemeldet, dass ein hagerer alter Mann in Richtung Sägewerk spaziert sei, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, pfeifend, es klang nach Konrad. Aber nicht einmal ein Stofftuch hatte man bisher gefunden, wie er es immer in der Tasche trug, oder ein am Weg verlorenes Eisbonbon, wie er oft eines im Mund hatte. Vinz wies auf die rechte Hälfte der Karte: Von hier ist Konrad los. Seine Hand wanderte in die Mitte. Und irgendwo in der Gegend … Er sprach nicht weiter. Irgendwo da lässt Konrad gerade die Seele baumeln, sagte er schließlich. Die Zuversicht in seiner Stimme half. Diese Ruhe vermittelte auch Marlen: Eben hatten sie telefoniert, den Hörer herumgereicht, ein paar Worte mit ihr gewechselt. Xaver malte sich Promenaden aus, Cafés, einen Straßenmusiker; so musste es dort in Rotterdam sein. Marlen war ähnlich hartnäckig wie der Vater. Als wäre das Verschwinden Konrads nur ein strategisches Problem, das sich mit den richtigen Schritten lösen ließ. Ihren Vorschlag, das nächste Flugzeug zu nehmen, hatte Anna aber abgelehnt. Bald war das Auslandssemester zu Ende, Marlen sollte für die Prüfungen lernen. Und manchmal, darauf beharrte die Mutter, besuchte Konrad spontan eine abseits gelegene Alm und blieb zwei, drei Tage fort; jetzt war es bestimmt nicht anders. Das Treiben in der Hotelküche lenkte ein wenig ab. Der Chef feilte am Menü, neben ihm ein Glasbehälter, in dem träge ein Dutzend Forellen schwamm. Den Käscher vom Haken genommen, einen zappelnden Fisch auf die Anrichte geklatscht. Ein Schnitzelklopfer brach das Genick, eine Klinge öffnete den Bauch. Xavers Hand, die flink das Bündel Organe herausriss, sein Daumen, der die Nieren vom Rückgrat schabte. Wie lange mochte es her sein, da war er mit Konrad am Bach gewesen. Großvater wies ihn mit einem Zwinkern darauf hin, dass es ihr Geheimnis bleiben müsse, schwarzfischen sei verboten. Ein Schnitt, ein zweiter, Konrads Finger griffen zu, eine Drehung, und die Innereien waren vom Rachen gelöst. Wie hatte Xaver davor gegraust, jetzt war er es längst gewöhnt, eine Forelle zu töten, und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Am Herd zischte heißes Öl, einem Abwäscher fiel die Zigarette aus dem Mundwinkel in den Bottich, durch Dampfwolken fluchte man auf Türkisch oder Französisch. Das Radio knarzte, und man schimpfte auf die Arbeit und die Mütter, auf Tirol und die Gäste, das Leben verteufelnd schwenkte man Pfannen mit brutzelnden Schweinsmedaillons über den Gasflammen, aus Töpfen klatschten Nudeln in bereitgestellte Siebe, und ein blitzschnelles Messer hackte Karotten zu winzigen Würfeln. Anbrandendes Rattern, der Küchenchef bellte Kommandos, und auf der Edelstahlfläche nahe der Schiebetür reihten sich die Teller mit fertigen Speisen, eine mit Petersilienbüschel garnierte Forelle Müllerin, in Anbetracht des Lärms und der Stimmung ein erstaunlich liebevoll zubereitetes Erzeugnis, das vom Kellner ergriffen und auf Fingerspitzen in den Saal gebracht wurde. Um 14 Uhr begann die Nachmittagspause. Xaver wechselte das nach Frittierfett stinkende T-Shirt gegen eins seiner Lieblingsband; die karierte Kochhose behielt er an. Rechts die Kühlräume, links Personalzimmer. Eine der Türen stand offen, sein Blick fiel auf eine aus Ungarn stammende Köchin, die schläfrig durch ein Magazin blätterte. Sie schien ähnlich grau wie das Innere aufgeschnittener Forellen; wenn Xaver es recht bedachte, klebte diese Farbe aus zu wenig Frischluft und zu vielen fröhlichen Feierabenden der gesamten Belegschaft im Gesicht. Draußen wartete Flo, als Maurerlehrling hatte er am Wochenende frei. Auch er trug ein Shirt von Rage Against the Machine. Diese Band hatte ihnen eine neue Welt eröffnet. Die mäandernden Gitarrenriffs, die rasanten Schlagzeugrhythmen, die zwischen Rap und Geschrei wechselnde Stimme des Sängers riefen ein Echo wach. Als wäre diese Energie in einem selber, musste nur aufgestört werden von der Musik, zu der man in der Disco brüllte: Know your enemy. Xaver bewunderte die Sorglosigkeit, die Flo schon zu ihrer gemeinsamen Schulzeit ausgezeichnet hatte. Gleichgültig, welche Noten er bekam, das Abschlusszeugnis spielte weder für ihn noch für seine Eltern eine Rolle, schließlich gab es die Sicherheit des Bauernhofs; dort wurde er gebraucht. Während Xaver bei den Schlachtungen, zu denen ihn Anna mitnahm, ein Gespür für die Härte entwickelte, die das Handwerk verlangte, besaß Flo bereits eine gewisse Rohheit, die er sich durch die tägliche Stallarbeit angeeignet hatte. Manchmal kam es Xaver vor, als wären die Bauern eine so andersartige Spezies wie die Urlauber, die für ein paar Tage oder eine Woche in seinem Zuhause unterkamen. Das Bewusstsein für den Besitz von Grund und Tier, dieser Stolz, der einen Traktor ebenso umfasste wie die körperliche Stärke, die Ahnen wie die weitverzweigte Verwandtschaft, das alles war ihm fremd. Seine Familie hatte nichts mit Vieh oder Feld zu schaffen, aber verdiente ihren Lebensunterhalt mit jenen, die vom Bauern- und Berglertum angezogen wurden. Der Vater ein Deutscher – einer der Deutschen, die nicht zum Urlauben, sondern auf der Suche nach Arbeit im Tal auftauchten –, und auch mütterlicherseits gab es wenig vorzuweisen: Die Großeltern kamen von Höfen, die längst neue Besitzer, neue Namen hatten. Für Xaver war diese oder jene Herkunft bloß ein Gerücht, beide Sippen, sagte man, seien schon vor Generationen verarmt. Mit einem Grinsen zog Flo einen Edding aus der Hosentasche. Auf den Türrahmen, unterhalb des C+M+B, der Kreidesignatur der Heiligen Drei Könige, kritzelte er Rage Against the Müchmaschin. Seit dem jüngsten Kinobesuch wurde er den Gedanken nicht los, dass die Kühe, denen man auch bei ihm zuhause die Milch aus den Eutern pumpte, den als Energielieferanten missbrauchten Menschen in Matrix ähnelten. Er selbst jedoch, sagte Flo, sei Neo und bereit für die rote Pille. Xaver schwang sich auf sein Mofa, deutete ihm aufzusteigen. Sie fuhren zum Bach, der bei Schneeschmelze zu einer erdig stinkenden Flut anschwoll, und kletterten, nachdem sie am Straßenrand geparkt hatten, über die Leitplanken. Es war eine ihrer Strategien, um der Langeweile zu entkommen. Auf einem Stein am Ufer zu kauern, blind und taub allem gegenüber, fühlte sich richtig an. Es war ein anderer Lärm als in der Hotelküche, mächtiger, betäubender, ein Rauschen, in dem man verlorengehen konnte. Äste trieben dahin, eine verbeulte Fahrradfelge. Man war dem dreckigen Schauspiel ganz nah, hatte die Gewissheit, etwas zu erleben, obwohl man nicht viel mehr tat, als auf den reißenden, schlammigen Bach zu starren. Bei dem Dröhnen verstand Xaver fast nichts von Flos Erzählung. Samstagnacht, die Party, wer mit wem, wer wie viel. Wenn es sich eingerenkt hat, kannst endlich wieder mit, schrie sein Freund. Xaver nickte und bat ihn um einen Gefallen. Sie verließen das Bachufer und fuhren, Kurve um Kurve langsam überwindend, zum Greit. Am Ende eines Almweges stellte Xaver das Mofa ab. Aus einem vertrockneten Kuhfladen wuchsen Pilze, blass und mit spitzen Kappen. Flo rätselte, ob sie psychoaktiv seien, Xaver aber beschäftigte anderes. Die Polizei konzentrierte sich bei ihrer Fahndung nach Konrad auf die abgelegene Seite der Flanke, die sich vor ihnen erhob, das hatte er zuhause aufgeschnappt. Ein steiler Trampelpfad führte zwischen den Stauden hinauf. Er versuchte sich zu erinnern, was der Großvater über solche Wege zu erzählen gewusst hatte. Sie...


Prosser, Robert
geboren 1983 in Alpbach in Tirol, Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit Phantome (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. Verschwinden in Lawinen ist sein erster Roman bei Jung und Jung. (www.robertprosser.at)

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach in Tirol, Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit Phantome (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. Verschwinden in Lawinen ist sein erster Roman bei Jung und Jung.



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