Prévost Das Salz in der Wunde
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15526-1
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-15526-1
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Klassiker der französischen Moderne erstmals auf Deutsch
Aller Aufstieg ist schwer. Sein geliebtes Paris hat Dieudonné Crouzon verlassen müssen gleich einem geprügelten Hund, der Empfang im Provinznest Châteauroux ist für den jungen Großstädter frostig. Doch die Demütigung brennt wie Salz in der Wunde - Crouzon arbeitet sich hoch und kehrt im Triumph an die Seine zurück. Mit der Verve der großen modernen Erzähler schildert Jean Prévost die Entwicklung eines Getriebenen zum glücksverwöhnten Selfmademan.Dieudonné Crouzon fällt aus allen Wolken. Eben noch saß er bei seinem Freund Dousset auf dem Canapé und knabberte Kekse. Dann bezichtigt ihn dieser zu Unrecht des Diebstahls, es kommt zum Eklat. Nun hat sich fast die gesamte Clique von ihm abgewandt und er, der fleißige Student aus einfachen Verhältnissen, steht vor einem gesellschaftlichen Scherbenhaufen. Gedemütigt kehrt er dem Paris der 1920er-Jahre den Rücken und fängt in einer Kleinstadt bei null an: als Schreiberling für eine Wahlkampfzeitung. Von Revanchegelüsten getrieben, wird er vom Journalisten zum Verleger, vom Flugblattdrucker zum Werbeunternehmer und schließlich zum Abgeordneten des ländlichen Départements. Berauschend schnell, überaus elegant und mit unverwechselbarer Stimme erzählt Jean Prévost den Werdegang eines Helden voller Tatendrang.
Jean Prévost (1901-1944) arbeitete als Politik- und Kulturjournalist, für seine Doktorarbeit erhielt er den Großen Literaturpreis der Académie française. Er entdeckte Saint-Exupéry und war mit Hemingway befreundet, dem er beim Boxen den Finger brach. Der glühende Verfechter der französischen Republik fiel als Résistancekämpfer in den westlichen Alpen.
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Die Brieftasche «Kennst du dich eigentlich, Crouzon?» Crouzon, der auf dem Diwan seines Studienfreundes döste, fand die Frage so komisch, dass er sich auf den Ellbogen stützte; als wäre er gerade wach geworden, betrachtete er die Bettumrandung aus graubraunem Leinen, die Regale voller Bücher, den Tisch mit dem Teetablett, das munter die Unterlagen verdeckte: das opulente Zimmer eines betuchten Studenten. «Nun?» Dousset ließ nicht locker. (Ich verderbe dem armen Kerl die Pointe), dachte Crouzon: Da ist eine Antwort fällig. «Lass mich überlegen: Das ist die ganz hohe Schule. Steht heute Abend Denken an?» «Ich wollte auf etwas anderes hinaus; (Doussets Tonfall wechselte von verhalten zu unverschämt) könnte es sein, mein teurer Freund, dass du manchmal lange Finger machst?» Crouzon lachte schallend, spürte, dass sein Lachen zwanghaft wurde, lief puterrot an, verschluckte sich. Und weil der andere ihn immer noch ansah, sagte er: «Hör mal, wie kannst du nur …» «Genug», schrie Dousset. Seine Lautstärke, seine Entschiedenheit nahmen rasant zu. Er stand auf, schloss die Zimmertür ab. Nun erbleichte Crouzon, bekam einen trockenen Mund. Barsch sagte er: «Jetzt reicht es aber, mein Dicker.» «Nein, mein Kleiner, das reicht ganz und gar nicht. Ich war bloß eine Viertelstunde weg, um Kekse zu kaufen; ich habe etwas Geld eingesteckt und meine Brieftasche wieder in diese Schublade gelegt. Jetzt ist sie verschwunden.» «Deine Brieftasche?» «Willst du Dummkopf mich für dumm verkaufen? Fällt dir nichts Besseres ein …?» Crouzon saß mit hängendem Kopf da; strich nur eine Haarsträhne zurück. Mit einem leisen Schnalzen – drohend, verletzt – sorgte er für Stille. Dann sagte er mit rauer Stimme: «Willst du mich durchsuchen?» «Ich denke, für diesen Fall hast du sicher vorgesorgt», erwiderte Dousset verächtlich. «Du machst mich noch rasend. Pass auf, ich setze mich wieder. Und du such weiter, Freundchen. Sag Bescheid, wenn du einen Beweis hast, dann höre ich dich an. Bis dahin …» «Glaubst du vielleicht, ich brauche mehr Beweise als deine Visage und dein Fracksausen, du Hungerleider? Wozu länger warten?», fuhr Dousset halblaut fort, als wollte er seinen Zorn auskosten. «Wir erledigen die Sache gleich, ich setze dich vor die Tür. Ich sperre wieder auf und du bewegst deinen Hintern, sonst …» Crouzon blieb reglos sitzen. «Na los, hopp, hopp! Wenn ich nachhelfen muss, wird es nicht so glimpflich ablaufen …» Er packte Crouzon am Kragen, zog ihn hoch. Anstatt sich dagegen zu sträuben, warf sich Crouzon nach vorn und stieß den Kopf in Doussets Gesicht. Der beleibte, schlaffe Hüne fiel um. Sein schmächtiger Gegner sah ihn an, setzte sich achselzuckend wieder hin und merkte, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Dieser große Rüpel da auf dem Teppich und er waren seit zehn Jahren Kameraden. In dieser Wohnung traf er alle seine Freunde. Vorbei, für immer … Er goss ein bisschen Wasser auf sein Taschentuch, tupfte sich die Augen ab. Dann kniete er sich hin, stellte das Tablett neben sich, legte eine mit kaltem Wasser getränkte Serviette auf Doussets Stirn, benetzte seine Lippen mit Portwein. Der Besiegte machte den Mund auf, leckte sich die Lippen, streckte sich, öffnete die Augen. Sie sahen sich an, es dauerte eine Weile, bis Dousset sich auf seinen Groll besann. Er drehte den Kopf weg und sagte, die Wange am Teppich, mit dumpfer Stimme: «Da ist ja die Brieftasche.» «Deine Brieftasche? Wo denn?», sagte Crouzon. «Zwischen Sekretär und Bücherschrank; ja, genau dort, auf dem Boden.» «Ach! Na siehst du, mein Lieber.» Crouzon empfand für Dousset jetzt freundschaftlichere Gefühle als je zuvor. Aber der betastete die Schwellungen an Lippen und Nase, den schmerzenden Kiefer. Er richtete sich auf, befingerte noch einmal sein Gesicht und wirkte dabei wie ein schmollendes Kind. Den lachenden Sieger sah er böse an. «Wenn du mich nicht niedergeschlagen hättest und ich sie dort gefunden hätte, wäre alles in Ordnung: Ich hätte nichts in der Hand, du nichts in der Tasche, ich hätte dich auf Knien um Verzeihung gebeten. Aber so …» Crouzon empfand Abscheu für diesen Trottel, der seine verletzte Eitelkeit als Beweis anführte. Doch was konnte er tun? Erneut zuschlagen? Mit zitternden Knien stand er auf, nahm die Brieftasche und sagte verdrossen: «Sieh doch nach.» «Das ist nicht nötig: Jetzt weiß ich, dass nichts fehlt. Nur keine Sorge, ich habe tatsächlich nicht genug in der Hand, um zur Polizei zu gehen, und will es auch gar nicht. Selbst wenn ich Beweise gehabt hätte, wäre ich nicht hingegangen: Wir waren schließlich Freunde! Das war ein Schlag ins Wasser, mein Guter …» «Mistkerl.» «Du nimmst mir das Wort aus dem Mund.» Dousset stand endlich auf. «Jetzt stell dir mal vor», nahm Crouzon den Faden wieder auf, «dass du zu Unrecht verdächtigt wirst, unter dem Dach eines Freundes, so wie ich gerade. Wie würdest du denn reagieren?» «Das müssen Sie wissen, Herr Rechtsanwalt Dieudonné Crouzon. Sie sind bald Dr. iur., während ich noch nicht mal das Studium abgeschlossen habe. Dafür wurde ich noch nie des Diebstahls bezichtigt.» Es folgte ein langes Schweigen. Mechanisch streckte Crouzon die Hand nach einer Zigarettendose aus, zog sie jedoch sogleich zurück. «Nur zu, bedien dich ruhig, du hast meine Erlaubnis», sagte Dousset mit grimmigem Spott. «Aber weißt du, was ich an deiner Stelle täte?» (Crouzon zuckte zusammen: Er schöpfte wieder Hoffnung.) «Tja, an deiner Stelle würde ich gehen.» Das Lachen verging ihm, als Crouzon auf ihn zukam. Er stellte ihm einen Stuhl in den Weg, sah sich nach allen Seiten um. Crouzon zuckte mit den Schultern, murmelte «Feigling» und ging. Die Tür schlug hinter ihm zu, wurde verriegelt; dann erst rief Dousset mit erstickter Stimme «Gauner». Im Treppenhaus starrte Crouzon noch lange auf diese Tür. Schließlich stieg er mit hängendem Kopf die Stufen hinunter. An diesem Abend aß er allein. Gewiss dachte er daran, alle seine Freunde aufzusuchen, ihnen den Zwischenfall zu schildern; er wusste, der Erste würde im Vorteil sein, er setzte jetzt schon eher auf Taktik, auf zurechtgelegte Worte denn auf seine Redegewandtheit. Er empfand jedoch einen unüberwindlichen Widerwillen, den Zwischenfall zur Sprache zu bringen. «Ich muss aber hin. Wenn der andere sie vor mir warnt, bin ich meine Repetitorien los, die juristischen und sicher auch die literaturwissenschaftlichen; ich verdanke sie alle Aubrains Onkel, dem Gymnasialdirektor. Und Aubrain und Dousset … Was die Chancen betrifft, im Oktober der Rechtsabteilung von Doussets Onkel beizutreten, die sind ja ohnehin vertan … Einen Kaffee, Herr Ober, nein, keinen Kaffee, einen Schnaps! Aber da löst sich ja dein ganzes Leben auf, mein Guter, dein ärmliches kleines Leben, das du schon für einigermaßen gesichert hieltest. Na los, am besten suchst du sie gleich allesamt auf, mindestens aber Aubrain und die Sperberin. Los: Herr Ober, die Rechnung. Die Stimme versagt mir, ich werde nicht mit ihnen sprechen können. Nein, ich bin rein körperlich nicht dazu in der Lage. Steh auf. Mein armer alter Dieudonné, sieh dich doch im Spiegel an: Heute Abend würde dir jeder unrecht geben. Und jetzt hinterlässt du auch noch zu viel Trinkgeld, wie ein Betrüger, oder als wolltest du dieses Stoppelgesicht aus der Auvergne zum Freund gewinnen. Ins Bett, aber schnell. Wie kalt es hier draußen ist …» Er ging nach Hause, in seine zum Hotelzimmer umgebaute Flurecke; fuhr mit der Hand zärtlich über seine Bücher, seine Notizhefte, die zahlreicher waren als seine Bücher, mit dem kindischen Gefühl, dass wenigstens diese Dinge ihm erhalten blieben. Gern hätte er einen Hund oder eine Katze gehabt. Seine Gedanken verpufften sämtlich; er schlief rasch ein, inmitten des Elends. An diesem Frühlingsanfang 19241 war Dieudonné Crouzon schon seit zwei Jahren kein Internatsaufseher mehr; diese Fortsetzung seines Stipendiatendaseins hatte er in schlechter Erinnerung. Er lebte von Nachhilfestunden, dank eines guten, wenn nicht exzellenten Rufs an der literaturwissenschaftlichen und der juristischen Fakultät. Die Doktorarbeit in Rechtswissenschaft lag fast fertig in seinem Regal, er hatte jedoch schon drei Doktorarbeiten für Freunde verfasst. Anwalt? Jurist und Rechtsgelehrter? Er hatte weder für Politik noch für große Reden etwas übrig. Dabei fand er in der Öffentlichkeit durchaus Anklang, mit seinen dunklen Haaren und der hageren Statur, der geraden Nase und dem schmalen Kinn; bei Studentenversammlungen sprach er aus dem Stegreif, glänzte eine Zeit lang; und gerade, wenn er am mitreißendsten war, hörte er abrupt auf, schnitt sich mit einer sarkastischen Bemerkung selbst das Wort ab. Die einen fanden ihn etwas seltsam, die anderen hochmütig. Man hatte ihn Ach, doch nicht genannt, bis zu jenem Tag, an dem ein Schöngeist ihm den Spitznamen Luftzug verlieh. Keine Spur von Affektiertheit in seiner Haltung: ein zerstreuter, rastloser Mann, der sich achselzuckend mit einer mittelmäßigen Zukunft abfand. Als er zwanzig war, hatte er bei einer öffentlichen Versammlung einen ehemaligen Minister unterbrochen: «Wer muss dran glauben, Herr Minister, wenn es zu viele Intellektuelle gibt: Sie oder ich?» Wenn andere...