Quadflieg Requiem für Jakob
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8477-5244-8
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Spurensuche
E-Book, Deutsch, Band 244, 348 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-8477-5244-8
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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DEZEMBER 2000
Dritter Advent. Ein überheiztes Zimmer, ein kleines Rotklinkerhaus am westlichen Stadtrand Hamburgs. Noch weiß ich nicht, wie man das macht: jemanden kennenlernen, den man nicht gekannt hat und der seit dreieinhalb Jahren tot ist. Anna sagt: »Mein Vater war Nazi, und Jakob war Jude – damit ist eigentlich schon alles gesagt. Er war meine persönliche Chance für Wiedergutmachung, verstehen Sie?« Anna sitzt neben mir, uns gegenüber Osip, ihr Mann, über Tisch und Fußboden haben sie deine Papiere gebreitet. An den Wänden hängen Photos von dir, gerahmt. »Hier, ist er nicht toll, wie er dasteht?« Anna reicht mir ein Bild von dir. Ich betrachte dich genau: Einen kleinen eleganten Herrn, gebügeltes Hemd, helle Leinenhose, braune Lederschuhe. Mit dem Hut grüßt du in die Kamera. Ein Schnappschuss aus euren Ferien in Antalja. Das war dein Stil! Auftritt, Pose. Also genau das Gegenteil eines typisch deutschen Touristen in Schlabberhemd und kurzer Hose. Dreimal haben sie dich in den Urlaub mitgenommen, deine beiden um fast dreißig Jahre jüngeren Freunde, und ihr habt euren Spaß gehabt. Obwohl die letzte Reise – zu den Zigeunern ans Schwarze Meer, anläßlich deines Neunzigsten – schon ziemlich riskant war. Bereits etliche Krankenhausaufenthalte, sogar ein Pflegeheim lagen hinter dir. Auch dort hat Anna dich besucht, jeden Tag, dich, zwei Kopf kleiner als sie selbst, vor sich auf ihre Füße gestellt, und los! So hast du wieder laufen gelernt. »Ohne uns wäre er vor die Hunde gegangen«, sagt sie, und Osip setzt noch eins drauf: »Pflegeheime sind eine moderne Form der Euthanasie.« In was für einem Verhältnis stehen Sie eigentlich zu Herrn Birnbaum? hatten die Schwestern Anna mehrfach gefragt. Kümmern sich nur Erbschleicher um alte Leute? »Er war verliebt in dich«, sagt Osip, und Anna lacht. »Er war Lebenskünstler. Lebenskünstler und Hochstapler.« Aber das müßten Künstler wohl sein, sie jedenfalls würde sich niemals auf eine Bühne oder irgendwie sonst in die Öffentlichkeit trauen. Anna ist Physiotherapeutin, Osip arbeitet in der Pathologie. Jeden Morgen steht er um halb sechs in seiner Abteilung und macht die Leichen zurecht. Für die Professoren. »Die sollten uns mal nicht so viele Stellen streichen«, meint er, »dann wäre die Wissenschaft schon viel weiter, und mancher natürliche Tod-« – »Jetzt hör bitte auf!« sagt Anna. Osip hat dich angeschleppt, 1988, neun Jahre vor deinem Tod. In der Kantine des Altenheims, in dem er damals arbeitete, habt ihr euch kennengelernt. Du mal wieder auf Brautschau, mit Strauß in der Hand. Auf eine in der Küche hattest du es abgesehen. Ganz die alte Schule, dazu dein leicht französischer Akzent. »Er hat alle fasziniert«, sagt Anna, »nicht nur Frauen!« Hatte Osip wirklich »Shalom!« gesagt? Er weiß es nicht mehr genau, jedenfalls habt ihr euch gleich erkannt, und du hast zugegriffen! Du warst einsam, Jakob, einsam und verfolgt, Die ließen dir keine Ruhe. Tag und Nacht sprachen sie auf dich ein, bedrohten, verhöhnten, quälten dich. Auf winzigen Zetteln in lachsfarbenen A-6-Kuverts hast du sämtliche Mißhandlungen akribisch protokolliert aufbewahrt. Schlimm!, Enorm wichtig!, Hochgefährlich! Kurze, sich ständig wiederholende Qual- und Haßlitaneien von deiner Hand. Sieben waren Die, du hast sie mit Namen genannt: Der Lehrling, der Rußlandkämpfer, der Antisemit, der Berliner, die Klagemauer samt Double, die Nutte. Diese nennst du hin und wieder auch Ilse Koch, nach der Frau des Lagekommandanten von Buchenwald. Die mit den Lampenschirmen aus Menschenhaut. Sieben Dämonen also, klingt ja beinahe biblisch. Manchmal kamen sie auch nur zu zweit, selten allein. Nun ließ dieser Menschenschinder mich in meinem Innern sterben. Ich sprang verzweifelt aus dem Bett und lief ins Wohnzimmer wo ich auf und ab ging und in der Bewegung versuchte, mich von dieser Umfesselung zu befreien. Es ist mir unmöglich zu beschreiben wie verzweifelt ich war und wie elend ich mich fühlte. Eines ist mir noch bewußt, ich wollte mich töten, doch im selben kämpfte ich gegen sie an und unterdrückte die Verzweiflung. Wer kann schon verstehen, geschweige, wer könnte nachvollziehen, was ich erlebte und durchgestanden habe. Sogar in den Urlaub sind sie dir gefolgt. Seht ihr Die denn nicht, hinten in der letzten Reihe?, hast du im Flugzeug immer wieder gefragt, und Osip hat dich beruhigt: Ich sehe nichts. »Der immer mit seinen Die!«, sagt er jetzt. Ein Jahrzehnte währender Kampf, Energie und Lebensfreude vertan. Petitionen, Eingaben, Demonstrationen und Hungerstreik. In Hamburg, Bonn, Tel Aviv. Denn Die waren im Schutz deutscher Geheimdienste operierende Nazis, die dich, einen armen Juden verfolgten, weil er Geheimnisträger war. Und das seit Kriegsende! An die Glocke der Öffentlichkeit gehörte das. Weltweit! Inklusive gebührender Anerkennung deiner Standhaftigkeit. Denn Niemals werde ich ihnen zu Kreuze kriechen, niemals meine Toten verraten. Haftpsychose, Verfolgungswahn? Alles nur Verleumdungen, deiner Meinung nach. Die arbeiteten nämlich mit ausländischen Geheimdiensten zusammen. Mit achtzehn Jahren zum ersten Mal Kokain? Ich habe von all dem keine Gedanken mehr, werde ich in deinen Basler Strafakten lesen. »Kokain kann, wenn man eine Veranlagung dafür hat, die Krankheit zum Ausbruch bringen«, wird der Professor in Tübingen sagen, der einzige von den vielen Koryphäen, der dich nicht pauschal für verrückt erklärt hat. Bei Hypersensiblen genügten schon unstete Lebensführung oder Streß, um alles ins Schlingern zu bringen. Früher, auf den Dörfern, habe man sie als Sonderlinge mitlaufen lassen – oder für heilig erklärt. Heute stecke man sie in eine Anstalt. Aber du – das sei ja das Außergewöhnliche und vielleicht nur deshalb erinnere er sich an dich –, seiest ziemlich intelligent gewesen, hättest auf den ersten Blick völlig normal gewirkt. Völlig normal, hörst du? Viele haben dich für gebildet gehalten, als Akademiker oder Künstler eingestuft. Du hast aus Faust und Goetz zitiert. Lange Passagen. Kam gut an, vor allem bei den Frauen. Auf einigen Empfängen sollst du als Professor aufgetreten sein. Jedenfalls hatte Osip Anna begeistert von dir erzählt, und als sie dich ein paar Tage später zum ersten Mal sah, sei sie nicht enttäuscht gewesen. »Ein kleiner schlanker Mann, mit langem weißem Haar und wachen Augen …« (wie oft werde ich noch von deinen wachen Augen hören und von deiner tollen Haut! Angeblich hast du dich jeden Morgen kalt geduscht, eine spezielle Bürstenmassage vollzogen, anschließend mit Kopfstand und Yoga. Überhaupt deine Disziplin) »… nur ein Arm hing schlaff herunter.« So etwas sieht eine Physiotherapeutin sofort. Und auf ihre besorgte Frage hast du zur Antwort gegeben: »Die haben mir in den Kopf geschossen!« Gleich beim ersten Mal hast du ihnen deine Geschichte aufgetischt. Von A bis Z: Geburt in Metz, Oberrealschule und Abitur in Berlin, Tänzer, Inhaftierung in Oranienburg, 1937 Emigration nach Frankreich. 1940 Verhaftung in Paris, Deportation in das Konzentrationslager Gurs in den Pyrenäen, Flucht. Von Ende 41 bis zum Abzug der Deutschen unter dem Namen Jacques Prout, zusammen mit drei Italienern in dem kleinen, am westlichen Stadtrand von Paris gelegenen Ort Boulogne ein Baugeschäft geführt, fünfhundert Angestellte, mehrere Außenstellen. Das Geschäft von den Deutschen für den Bau des Atlantikwalls requiriert, heimlich für die Résistance gekämpft. FFI. Wenn du nicht die geheimen Baupläne abgepaust und sie den Engländern zugeschanzt hättest, hätte Hitler den Krieg gewonnen! Besondere Attraktion: Die Beobachtungsapparate, von deren Einsatz gegen Spione außer dir und den Geheimdiensten heute niemand mehr etwas weiß. Einer der ganz Hohen, gleich unter Hitler, hatte sie dir – dem Juden Jakob Birnbaum alias Jacques Prout, Christ – eines Tages gezeigt, weit draußen in den Stellungen, irgendwann in der Stunde des Weins. Er hat dir vertraut, mit dir philosophiert, und du hast ihm Frauen besorgt. Besondere Frauen, aus Paris. Denn der war schließlich kein einfacher Mann. Diese Beobachtungsapparate, dein Triumph, deine Qual. Sie haben dich zum Geheimnisträger, aber auch zum Gefangenen in einem Gefängnis ohne Mauern gemacht. Denn allein dir war bekannt, daß sie – ständig weiterentwickelt – nach wie vor … von sämtlichen Geheimdiensten der Welt … auch gegen dich … Tag und Nacht. Jedem, nicht nur Anna und Osip, hast du diese Geschichte erzählt. Gern und immer wieder. Und so werde auch ich sie noch viele Male hören und lesen, in verschiedenen Fassungen und Sprachen, als Meine Akte in Archiven, bei Privatpersonen und Personen des Öffentlichen Lebens von dir selbst hinterlegt. Dein Kampf. Leitmotiv: Niemals werde ich Denen zu Kreuze zu kriechen, niemals meine Toten verraten! Eigenartig, das Kreuzmotiv für einen Juden, oder nicht? Und welche Toten? Wie auch immer, du hast nicht nachgegeben, dich nicht kaufen lassen – auch nicht für eine Million. Bis zuletzt gekämpft wie ein Löwe. Auch gegen die Wahrheit? Die Nutte, nachdem sie mich wieder bearbeitet hatte, sagte mir abfällig, was meinst du, wie mir das egal ist, ob du nachgibst oder nicht. Wir machen unseren Dienst, wir bekommen unser Geld. Du kannst verrecken, da fragt keiner danach. »Einer, der im KZ war, Folter und Flucht überlebt und für die...