E-Book, Deutsch, Band 2107, 200 Seiten
Reckermann Lovecrafts Schriften des Grauens 07: Gotheim an der Ur
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-427-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2107, 200 Seiten
Reihe: Lovecrafts Schriften des Grauens
ISBN: 978-3-95719-427-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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Die innere Finsternis
Für den Anfang können wir gerne so tun, als ob dies nur eine Geschichte sei. Nennen wir es ruhig einen Mythos ohne Bezug zur Wirklichkeit. Das ist es nicht, wie ich versichern kann, aber im Interesse deiner geistigen Gesundheit will ich vorerst nicht darauf bestehen.
Wenn du den Schatten noch nicht bemerkt hast, dann wohl, weil du mit seiner Gegenwart aufgewachsen bist. Viele unserer Städte sind darin versunken. Gotheim etwa, nur ein Beispiel unter vielen, das du immer noch finden kannst, aber nie mehr verlassen wirst, wenn du es einmal betreten hast. Ich und andere meiner angestaubten Generation erinnern uns an das alte Gotheim. Das von allen Landkarten verschwundene, im Vergessen versunkene Gotheim an der Ur, das in unserer Jugend stolz zum Himmel aufstrebte. Wie soll ich es dir beschreiben? Eine Stadt aus Stahl war es und eine Stadt aus Glas, die im Sonnenlicht wie Millionen Facetten im Auge Gottes glitzerte. Geld und Macht in Politik und Wirtschaft saßen wie Könige auf den Thronen, den an den Wolken kratzenden Türmen, die unsere Väter hier erbaut hatten. Ist dir der Fluss ein Begriff? Die Ur, nein? Dann, weil auch sie in den Schatten hineinfließt, bevor er sich seinen Namen verdient. Weiter flussaufwärts, südlich der Stadt, besteht er aus einer Anzahl geringerer Flüsse, die erst dort, wo das noch viel ältere Gotheim, oder Sieben Furten, wie es die Stadtgründer selbst genannt hatten, entstanden war. Noch im vorletzten Jahrhundert breitete sich die Stadt nicht weiter aus als bis zu den mittelalterlichen Stadtmauern. Dann setzte ein Aufschwung des Handels ein, und Industrie siedelte sich um die Mauern an. Binnen weniger Jahrzehnte wuchs Gotheim zu einem Moloch heran, den man finster nannte, wegen der dichten Wolken von Ruß an seinem Himmel und wegen des unaufhaltsamen Zustroms von Arbeitern – aus dem Gebirge zuerst, später aus Ungarn und Polen und der Tschechei –, der es für die Augen des Kaiserreichs zu einem schier nicht regierbaren Unhold von einer Stadt werden ließ. Mein Vater war aus den Ebenen Ost-Ungarns bei Oradea dorthin gekommen und arbeitete für eine Stahlfabrik, die die halbe Welt mit ihren Erzeugnissen belieferte. Mir sagte er einmal, dass Dinge, die er geschaffen habe, in vielerlei Gestalt in allerlei Kriegen Siege errungen hatten. Ich war damals so jung und sah die Dinge, von denen er sprach, mit Augen, die noch an Zauberei glaubten, als ein Sammelsurium von Ritterrüstungen, von Schwertern und Spießen aus dem Kopf strömten. Natürlich sprach er in Wirklichkeit von Kanonen und Panzern und Kriegsschiffen, die bald nach der Jahrhundertwende in die Schlachtfelder in Flandern und Russland sowie in das Blutbecken des Atlantiks geworfen worden waren. Erst in dem darauffolgenden, noch größeren Krieg kamen all diese Dinge in veränderter Gestalt zu uns zurück, flogen jetzt und fielen herab. In zwei aufeinander folgenden Feuerstürmen wurde die Altstadt zerstört. Der zweite tötete auch meinen Vater. Nach dem Krieg erbaute man alles neu in vollendeter Form, in einer Ordnung, die den alten Moloch der Geschichte anheim schrieb. Da war ich alt genug, um selbst mit Hand anzulegen. Der Schatten des großen Krieges war verflogen. Die neue Zeit und das neue Gotheim stiegen wie Phönix aus der Asche des Alten. Unsere Stadt hatte ihre Vernichtung überlebt. Ich will damit sagen, dass niemand hatte ahnen können, was der Kosmos noch gegen sie aufbieten würde. Du verstehst nichts von dem, was ich sage, richtig? Ich sehe es an deinem Blick und doch sollst du wissen, dass wir das Blut unserer Stadt waren und sie unser Herz. Wir strömten darin zu hunderttausenden, bald zu einer Million und noch mehr.
Ich wuchs über die Stellung meines Vaters hinaus. Wo er im Stahlwerk an den Hochöfen gearbeitet hatte, trat ich in die Verwaltung ein und stieg in den mehr als vierzig Jahren meiner Laufbahn viele Stufen der Hierarchie hinauf, bis ich auf tausende Arbeiter wie ihn herabschaute. Aus dieser Höhe sah ich mit an, wie sich eine langsame Veränderung nach Europa einschlich. Der Aufschwung der Nachkriegszeit und das daraus resultierende Wirtschaftswunder gingen bald zu Ende. Die Industriekapitäne Gotheims versenkten ihre Schiffe oder legten in fremden Häfen an. Das Ende des Jahrhunderts sah die Stadt, wie viele andere der großen des Kontinents, im Niedergang und ich feierte mein letztes Dienstjahr gleichzeitig mit der Entlassung von dreitausend Arbeitern und der Stilllegung des Stahlwerks, in dem mein Vater gearbeitet hatte. Eine neue Düsternis zog herauf und verschlang die Glas- und Stahlbetontürme. Sie belegte sie mit einer Patina, die mein Leben wie das eines Fossils in einem Museum aussehen ließ. Ich kann es mir wohl nur als großes Glück zuschreiben, rechtzeitig in Rente gegangen zu sein, bevor diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreichte. Aus der Stille meines Ruhestands sah ich mit an, wie die Pest des Verfalls unser Lebenswerk zerfraß, wie sie die Fugen des sozialen Zusammenhalts aufzulösen begann und die bis dahin fest in Form gehaltenen Facetten der Gesellschaft in urtümliches Chaos zurückfielen. Lohn und Arbeit, Gesetz und Bestrafung, Taten und Worte traten aus dem Bündnis der Verhältnismäßigkeit aus und ich wurde Zeuge davon, wie schon die ersten Verwerfungen Gräben aufrissen, die wohl nie wieder zu schließen oder zu überbrücken waren.
Das alte Rad aus Unterdrückung, Aufstand und Niederwerfung drehte sich schneller als jemals zuvor. Das betraf natürlich nicht allein unsere Stadt. Andere Metropolen, in Frankreich und England, gingen auf diesem Pfad noch voran, der wie eine steile Rampe abwärts ins Dunkel führte. So drifteten die Milieus auseinander, wurden zu Inseln in einem Meer aus Unverständnis. Sollte ich dem Phänomen einen Namen geben, so wäre es wohl Gleichgültigkeit. Wäre die Stadt aus Silber erbaut worden, hätte ihre schwärzliche Patina ob der seit ihrem Wiederaufbau vergangenen Jahre nicht erstaunt. Sie erinnerte mehr und mehr an die alte Zeit und den Ruß der Stahlindustrie – einen Smog, der sich als dunkler Schmierfilm auf alle Oberflächen legte und unter dem die Pracht die Natur von Rauch geschwärzter Spiegel annahm. Sie zeigten ein anderes Gesicht, als das vertraute: ein Mördergesicht zwischen Messerkanten vor undurchdringbarer Düsternis. Ich will nicht sagen, ich sei sehenden Auges gewesen. Ich war beinahe so blind wie jedermann, was diese Veränderung betraf. Mich selbst hüllte derselbe Atem der Alterung ein, dieselbe gleichgültige Unwissenheit, doch wurde ich früher als die anderen aus meinem Dämmerschlaf aufgeweckt. Bedenke bitte, ich war bereits ein alter Mann und der Eindruck, die Welt wandele sich zwangsläufig zum Schlechteren, ist dem Alter angeboren. Die besondere Schwere der Veränderung mag deshalb zuerst nicht ganz in mein Bewusstsein getreten sein, aber dann doch. Und wer weiß, vielleicht gerade weil ich aus dem Leben schon halb herausgetreten war und es so von außen betrachtete. Es ist immer der Verfall der Guten Sitten, der den Alten furchteinflößend aufstößt, den sie bejammern und bei keiner Gelegenheit anzuprangern vergessen. Kommt dir, was ich erzähle, wie das vor, was von einem Greis zu erwarten ist? Dann vergesse dein Vorurteil für den Moment und höre mir genau zu.
Eines Tages besuchte ich einen vergessenen Winkel, der aus der Zeit, bevor die Bomben gefallen waren, noch erhalten blieb, um mich an das Wenige zu erinnern, was in meinem Kopf aus dieser Epoche stammte und ebenso bruchstückhaft wie die Reste von Mauern, die ältesten Häuser und dieser Ort, der vielfach überpflasterte Rondo-Platz, darin herumstand. Ruinen meines frühen Bewusstseins waren es, an denen ich mich festhielt und das Bild meiner Kindheit aufrichtete, die mir nun wie am Ende einer Umkreisung wieder nahezukommen schienen. Niemand sieht diese Dinge, der nicht um ihre Geschichte weiß. Dinge, die sich in den Nischen der Moderne vor der Zeit verbergen. Nur ist der Verfall ein ungleicher Gegner für sie. Ein Anflug dieser Fäulnis war mir schon früher aufgefallen, doch diesmal sah ich sie mit neuen Augen. Der Stuck an den Fronten dieser letzten der alten Stadthäuser hatte seine Tönung von Altrosa verloren. An ihrer statt starrten mich mit den Augen der Faune und Teufel und Wassernixen ein ungutes Schimmelgrün an, ein verkommenes Braun und ein schwefelartiges Gelb. Es war offensichtlich: Feuchtigkeit war aus den Fundamenten heraufgestiegen und aus den Fassaden getreten und nun quollen diese Farben auf. Fasziniert und zugleich angewidert fragte ich mich, ob nicht ein Miasma in der städtischen Luft, eine Verderbtheit darin, diese seltsame Blüte bewirkte. Solcherlei hält man im Licht des Tages nicht für möglich. Es war aber kein Tageslicht, das die Szene beleuchtete, sondern eine Art Zwielicht, das mir befremdlich erschien. Ich dachte daran, was Bäumen widerfährt, deren Leben erlischt. Wo ihre Adern Saft aus der Erde in die Zweige saugten, steigt der Tod hinauf und begünstigt das Wachsen der Flechten und Pilze, die ihr Holz zersetzen, bis am Ende nur morsche Reste übrig bleiben. Ebenso war unsere Stadt an der Wurzel verrottet. Der Rondo-Platz war schon von jenem Halblicht eingesponnen, und jene, die ihn zu dieser Stunde bevölkerten, kamen mir nunmehr wie Schatten vor. Nein, das ist so nicht richtig. Ihre Schatten wirkten auf mich vielmehr...