E-Book, Deutsch, Band 2113, 338 Seiten
Reckermann Lovecrafts Schriften des Grauens 13: Rückkehr nach Gotheim
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-923-2
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2113, 338 Seiten
Reihe: Lovecrafts Schriften des Grauens
ISBN: 978-3-95719-923-2
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
'Was ist das mit der Ur, dass man glauben könnte, ihre eigenen Wasser wälzten sich stromaufwärts? Würde man es bemerken, wenn man sich rückwärts durch die Schichten der Zeit bewegte? An den Fluss und in die Stadt Gotheim zurückzukehren, das bringt Tanja dem grausigen Ursprung ihres Traumas nahe. Die Eisenkleid entrinnt den Fesseln der Schwerkraft, Rumors Fährte endet unter den Weiden, der Jeckel tanzt und jeder Versuch, die Ketten der Geschichte zu sprengen, scheint zum Scheitern verurteilt zu sein. Zuletzt holt sich das Meer alles zurück. '
Tobias Reckermann arbeitet als Maschinist bei Whitetrain. Als Schriftsteller widmet er sich neben anderen Zweigen der Fantastik im Besonderen der Weird Fiction. Von ihm erschienen sind neben Romanen und Storysammlungen bei Whitetrain sowie Storybeiträgen in Magazinen und Anthologien die drei Bände Gotheim an der Ur, Rückkehr nach Gotheim und Gotheims Untergang bei Blitz-Verlag.
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Vorwort
Während ich diese Worte schreibe, stehen die Fenster in meinem Arbeitszimmer offen. Draußen herrscht seit Wochen der angenehmste Sommer dieses und wahrscheinlich auch des letzten Jahrzehnts; zumindest könnte ich mich an keinen angenehmeren erinnern. Es war seit Wochen nicht zu heiß, trotzdem züngelt eine laue Brise durch die Blätter der Bäume auf den Straßen Wiens und lässt mich die raunende Stimme der Stadt vernehmen. Jede Stadt spricht, wenn man gewillt ist zu lauschen. Jede Stadt besitzt eine Seele, besitzt Gestalt, einen eigenen Willen und Charakter. Jede Stadt ist ein Wesen für sich, ein Genius Loci, der – ebenso wie alle andere Wesen auch – maßgeblich von dem geformt wird, was sich früher dort zugetragen hat, was sich gerade eben dort tut, und auch von allen Ereignissen, die zukünftig noch auf ihrem Gebiet stattfinden werden. Wie würde ich den manifesten Geist Wiens beschreiben? Groß, auf jeden Fall; alt und manchmal etwas hochnäsig, mit der Absicht, einem das auch deutlich zu spüren zu geben. Wien ist am ehesten ein Wesen, das sich in der Vergangenheit am wohlsten fühlt, wo es unübertroffenen Einfluss und Macht und Ansehen genoss, wo es so oft zur – mitunter auch sehr blutigen und brutalen – Drehscheibe der Welt geworden ist. Wien ist eine Stadt, die nur widerstrebend voranblickt. Es ist allerdings auch ein Ort der Schönheit, der Eleganz, der Anmut, ein nach Ästhetik strebendes Wesen, das in seinen fortgeschrittenen Jahren die träge Ruhe des Friedens sehr zu schätzen gelernt hat. Hier halten sich Licht und Schatten die Waage. Ein Geschenk, das man nicht allzu oft findet, bei Genii Locorum dieser Größe und dieser Bedeutung. Aber genug von Wien. Während es säuselnd in meinem Rücken liegt, hat sich ein anderer Geist in mein Arbeitszimmer geschlichen, dessen Stimme ich ebenso laut und deutlich vernehmen kann wie jene meiner Heimatstadt, obwohl sie nur aus dem aufgeschlagenen Buch am Tisch zu mir dringt: Gotheim die Schwarze. Und die Stimme, mit der sie zu mir spricht, ist nicht zu vergleichen mit dem Sommersäuseln Wiens. Es ist das Quietschen störrischer Zahnräder, die den Puls der Stadt wiedergeben. Es ist das Rumpeln schwerer Eisenbahngarnituren, die in den Zentralbahnhof einfahren, um in ihren Personenwaggons dem Moloch neue Nahrung zu liefern. Es ist das saugende Platschen der Ur, dieses Malstroms, der ölig durch die Äonen strömt. Und wenn man ganz genau lauscht, dann hört man den regelmäßigen Atem des unermesslichen Wesens, das tief unter der Stadt begraben liegt. Der Genius Loci dieser Stadt wurde nicht auf natürlichem Wege geboren. Er wurde herbeizitiert, ans Licht gezerrt, wurde heraufbeschworen und gebunden von Tobias Reckermann, der sich mutig und – machen wir uns nichts vor, wirklicher Mut wird immer aus dem Wahnsinn geboren – mit seinen schriftstellerischen Künsten alles daran setzt, uns vorzuführen, wie weit er zu gehen bereit ist, um uns zu bedeuten, was wirklich gemeint ist, wenn man von Phantastik, wenn man von Weird Fiction spricht. Tobias Reckermann ist kein Grenzstürmer. Grenzen interessieren ihn nicht, die hat er schon vor langer Zeit abgesteckt und hinter sich gelassen. Er ist ein Vermesser der Tiefe, ein Schamane der Leere, er ist jemand, der sich nur mit seiner sezierenden Psyche (wage ich, es Vernunft zu nennen?) und seiner Stimme bewaffnet hinauswagt, ins Unbekannte, um dort die Baumaterialien zu gewinnen, die sein widernatürlicher Riesenhomunculus namens Gotheim braucht, um gedeihen zu können. Aber wer oder was ist er, der Schöpfer eines so abgrundhaften Gebildes wie Gotheim? Woher beschwört er seine Mechanismen? Für mich ist die Wurzel dafür keinesfalls der pure Nihilismus, der etwa im kosmischen Horror eine grundlegende Motivation darstellt. Hier aber, in Gotheim, wird ganz eindeutig etwas produziert, um es in die Welt zu exportieren. Hier wird konstruktiv an etwas gearbeitet, und sei es nur aus ästhetischen Gründen. Aber widerspricht der Wille, etwas Formschönes (wie immer die Norm für „schön“ in einer Welt, wie in der von Tobias Reckermann beschrieben, auch aussehen soll) schaffen zu wollen, nicht bereits dem Geiste des Nihilismus? Hier ist ein Kollektiv am Werk, kein pures egozentrisches Individuum. Zumindest erlebe ich Gotheim nicht so. Nicht umsonst wird der Umstand, dass Gotheim unablässig im regen Warenaustausch mit der Umgebung steht, immer wieder in den Geschichten rund um das Wesen der Stadt erwähnt. Hier wird etwas erarbeitet, die Welt außerhalb der Stadtmauern mit schwarzen Samen beliefert, die eine Botschaft in sich tragen. Ist es die Verderbtheit, mit der man das Erdenrund beliefert? Nein, ich glaube, auch das ist es nicht, worum es dem Autor solcher Phantasmagorien grundlegend geht. Ich weiß, dass Tobias Reckermann seine Geschichten gerne mit Munition vergleicht, die er abschießt, um sich – und im Idealfalle auch seine LeserInnen – an den Detonationen zu erfreuen. Ich denke daher, dass ich mit der Ästhetik vielleicht gar nicht so falsch liege. Gotheim ist keine Waffe, die auf Vernichtung aus ist. Es ist ein Konstrukt, das dem dient, was der Motor jeglicher fantastischen Erzählung ist: dem lustvollen Gefühl des Staunens, dem „Sense Of Wonder“. Tobias Reckermann ist dem Mythos verpflichtet, der großen Frage danach, was das Wesen aller Dinge miteinander verbindet. Damit ist Gotheim vielleicht so etwas Ähnliches wie eine kosmische Tauchstation, eine Kapsel, die durch dunkle Dimensionen reist und dabei natürlich befleckt werden musste. Ich selbst vertrete ja die Theorie, dass das Dunkel in unserem Universum um ein Vielfaches größer ist als das Helle. Warum das so sein soll? Kennen Sie Bilder vom Universum? Das Schwarz stellt die Fläche, während das Licht der Sonnen lediglich durch Nadelstiche dazwischen gekennzeichnet wird! Das sollte einem zu denken geben! Dieser tiefste aller Schwarztöne, dieses allumfassende Gefühl des Unterlegenseins, des Verlorengehens, des Unverständnisses, das Überhand zu nehmen droht, aber auch der unerklärlichen Lust daran, derlei schmerzhafte Umstände bezeugen zu dürfen. All das ist lediglich der glanzlose Schlick, der sich bei all den Tauchgängen um jene Maschine angesammelt hat, die Gotheim ist. Sie stößt Löcher durch die Wirklichkeit; und auf der Suche nach Wahrheiten wurde sie besudelt, verschmutzt, mit den dunklen Substanzen getränkt, durch die sie reist. Und genau so gestalten sich auch die Geschichten über sie. Stilistisch kompromisslos taucht Tobias Reckermann in seiner erschreckend lebendigen urbanen Tauchglocke durch das Gefüge, um sich selbst zu suchen, und stößt dabei immer wieder auf die Essenz einer Schwärze, die klar und deutlich auch in allem wuchert, was sich menschliche Zivilisation nennt. Aber das ist eben kein Nihilismus für mich, das ist ein wissenschaftliches Fabulieren, das ist pure Okkult-Philosophie, wie sie sich vielleicht die Ältesten noch am Lagerfeuer zugeraunt haben, während sie in die unerreichbare Schwärze zwischen den Sternen, aber auch die stoffliche Dunkelheit der lichtlosen Erde bei Nacht gestarrt und sich daran erinnert haben, dass diese Schwärze zu ihnen herabsteigt, wenn sie später die Augen zum Schlafen schließen würden. Und es gibt nichts, was sie dagegen unternehmen könnten. Sie können lediglich zu verstehen versuchen. Auch wenn das Scheitern dabei vorprogrammiert ist. Wie sollte der kleinste Teil auf dem kleinsten sonnenbeschienenen Staubkorn des Universums es jemals bewerkstelligen, diese gigantische, diese endlose Abwesenheit von Licht zu verstehen? Mehrere Zeitalter später bereist Tobias Reckermann genau diese Schwärze in seiner artifiziellen Stadt namens Gotheim und widmet sich dieser ältesten aller menschlichen Motivationen: dem Versuch, die Dinge zu verstehen, die zu verstehen uns nicht gegeben ist. Ja, genau so sind wir, wie Menschen. Die pure Neugierde treibt uns vor sich her! Das ist eine unserer besten Charaktereigenschaften, kann gleichzeitig aber auch die schlimmste sein. Also, liebe Leserinnen und Leser, macht Euch nun bereit für das, was vorausliegt. Wenn die Buchdrucker ihre Pressen anwerfen, um heilige und unheilige politische Pamphlete auf genau denselben Walzen zu vervielfältigen, wenn Menschen vor ihren alten Leben flüchten und sich die Schwarze Stadt ihrer ungnädig annimmt, um sie sich einzuverleiben und zu neuen Backsteinen in ihrer gierigen Struktur zu machen, wenn Krieger, Zauberer, Priester, Journalisten, Monstren und Dämonen, Geschäftsleute und Bürokraten sich durch einen wahren Strudel aus Zeit vereinen, um einen Stadtmoloch zu bevölkern, dann ist man nach Gotheim an der Ur zurückgekehrt. Und hat man erst einmal die Worte gesehen, die Sätze, die ihre Gemäuer bilden, dann verschwimmen ganz schnell die Grenzen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Diesseits, das ist, wo der laue Sommerwind durch die Blätter fegt, wo man sich jederzeit erheben, das Buch zuklappen und auf die Straßen seiner Heimatstadt fliehen und hoffentlich vergessen kann, in welchen Abgrund man blicken musste. Jenseits, das ist, wo einem der rußige Qualm aus Fabrikschloten entgegenschlägt und den Atem raubt, wo orthodoxe Stadtgläubige mit Schwert, Feuer und grotesker Magie Häretikern nach Leben und Seele trachten, wo die Scheiterhaufen niemals erlöschen, Fließbänder niemals stillstehen und kein Mann, keine Frau, kein Geist, kein Dämon und keine Idee jemals ihre Ruhe findet, wenn die labyrinthhafte Stadt es nicht will. Aber spielt es letztendlich eine Rolle, wo man sich befindet? Hat man sich erst einmal der Schwarzen Stadt verschrieben, hat Tobias...