Reese-Schäfer | Richard Rorty zur Einführung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: zur Einführung

Reese-Schäfer Richard Rorty zur Einführung


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-96060-018-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-018-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Richard Rorty (1931-2007), einst Außenseiter und Enfant terrible der analytischen Philosophie, war neben Jürgen Habermas und Jacques Derrida eine intellektuelle Leitfigur des 20. Jahrhunderts. Seine scharfe Kritik des Abbildcharakters der Philosophie fand eine Reihe von Schülern, u.a. Robert Brandom. Diese Einführung stellt das Gesamtwerk Rortys einschließlich der späten Texte zur amerikanischen Linken, zur Verwestlichung der Welt und gegen ein reaktionäres Bündnis zwischen Ökonomie und Regierungspolitik übersichtlich dar. Der erste Teil des Bandes entwickelt argumentativ Rortys philosophische Positionen, der letzte Teil widmet sich jener besonderen Mischung von Literatur, Politik und Philosophie, die Rorty als Erben einer linken Tradition von New Yorker Intellektuellen um den Partisan Review erscheinen ließ.
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Inhalt:
1. Einleitung
2. Die linguistische Wende
3. Kritik der Philosophie
3.1 Der Spiegel der Natur
3.2 Die Erfindung des Geistes: Die so genannte Bewusstseinsphilosophie
3.3 Gegen die Idee einer Erkenntnistheorie
3.4 Privilegierte Vorstellungen
3.5 Das Gegenkonzept: Hermeneutik als Philosophie ohne Spiegel
4. Philosophie als Schreibweise: Jacques Derrida
5. Rorty über die Postmoderne
6. Die dreifache Kontingenzerfahrung als Grundlage von Rortys politischer Philosophie: Sprache, Selbst, Gemeinschaft
7. Private Ironie und öffentliche Solidarität
8. Nabokov und Orwell über Grausamkeit und Solidarität
9. Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie
10. Richard Rorty und die Philosophie in Amerika heute
Anhang: Anmerkungen; Siglen; Literatur; Zeittafel; Über den Autor


3.3 Gegen die Idee einer Erkenntnistheorie
Hauptangriffspunkt von Rortys Generalkritik an der Philosophie ist die Idee einer »Erkenntnistheorie«. Insofern ist sein Denken grundsätzlich gegen Kant gerichtet, denn durch Kant wurde die Erkenntnistheorie und damit die Philosophie selbst zur Fundamentaldisziplin aller übrigen Wissenschaften. Genaugenommen waren es allerdings erst die Neukantianer der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die »den Terminus ›Erkenntnistheorie‹ zu seiner jetzigen akademischen Würde promovierte(n)«14. Erst im Rückblick aus dieser Perspektive hat man dann die Wurzeln der Besinnung auf unser Erkenntnisvermögen in Descartes’ Meditationen über die Erste Philosophie und in Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes aufgefunden. Manchmal wird diese neuere Fragestellung sogar auf die Antike zurückprojiziert. Der Gedanke einer Erkenntnistheorie wurde sich jedoch in Wirklichkeit »erst bei Kant seiner selbst bewußt und erst spät im neunzehnten Jahrhundert in die Struktur akademischer Institutionen und in das feste und unbeirrte Selbstverständnis der Philosophieprofessoren eingebaut« (SN 150). Für Thomas Hobbes etwa gab es diese Idee, dass die Philosophie über der Wissenschaft, der Religion und der Kunst stehe und ihnen allen den ihnen zustehenden Bereich zuweise, noch nicht. Für ihn war sie von Wissenschaft nicht unterschieden. Er definierte sie als »eine Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen, die durch korrektes Schließen aus ihren bekannten Ursachen oder Ursprüngen erworben wurde, sowie umgekehrt der möglichen Ursprünge aus den bekannten Wirkungen«15. Im Mittelalter war die Metaphysik die Königin der Wissenschaften, weil sie mit dem Allerallgemeinsten, dem Allerhöchsten (z.B. den Gottesbeweisen) und dem am wenigsten Materiellen befasst war (SN 150). Und diese Königswürde war seit Francis Bacon und Thomas Hobbes durch eine nüchterne, fast handwerkliche Wissenschaftlichkeit bedroht. Erst Kant gelang es, die Metaphysik in einer neuen, zeitgemäßeren, aber auch verdünnten Form als Erkenntnistheorie wieder zu einer Fundamentaldisziplin zu machen. Als sie sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Schlachtruf der Neukantianer »Zurück zu Kant!« durchsetzte, war dies die kühle, die rationale Antwort auf die großen Systeme, mit denen Fichte, Schelling und Hegel die intellektuelle Szene Deutschlands und damit des philosophischen Denkens jener Zeit dominiert hatten und an die um 1850 niemand mehr recht glaubte. Der Untergang des spekulativen Idealismus hatte nicht nur befreiende Wirkungen. Er brachte auch eine besondere Art von Öde in das philosophische Denken, die William James in einem berühmten Brief an George Santayana vom 2. Mai 1905 das »fade Grau in Grau unserer kahlköpfigen Ph.D.’s« nannte, »die einander in den Seminaren langweilen, diese gräßlichen Literaturberichte in Philosophical Review und anderswo schreiben, sich von ›Sekundärliteratur‹ ernähren und niemals ›Ästhetik‹ und ›Erkenntnistheorie‹ verwechseln«16. Heute würde eine solche Briefpassage wahrscheinlich schließen: »[…] und es niemand mehr wagt, einen naturalistischen Fehlschluß zu begehen«. Abgesehen vielleicht von den kahlen Köpfen, die eine Spezialität der damaligen Zeit gewesen sein müssen, trifft diese Charakterisierung auch heute noch auf eine große Zahl unserer philosophischen Seminare in England, den USA und Deutschland zu. Das Erfrischende an Rortys Ansatz ist, dass er die Entstehungsgeschichte und die Hintergründe dieser Ödnis aufdeckt und einen »neuen Ton« in die Philosophie zu bringen versucht. Sein Denken hatte wohl deshalb zuerst bei den Studenten Erfolg und geriet über deren Beiträge in den akademischen Diskurs – während der Einfluss der sprachanalytischen Philosophie von einer ganz anderen akademischen Schicht, nämlich den Assistenten der sechziger Jahre sowohl gegen die damaligen Professoren als auch und vor allem gegen die Studenten durchgesetzt wurde. Jene theoretisch anspruchsvolle, aber ansonsten recht weltferne Schultradition entsprach am besten ihrem doppelten Bedürfnis nach exklusiver akademischer Qualifikation und Abgrenzung gegenüber den Altvorderen. Rortys Anspruch dagegen, die pragmatistischen Traditionen wiederzubeleben, sich von den Schulproblemen ab- und den Weltproblemen zuzuwenden, den klassischen Selbstzweifel der Philosophie wieder zu wagen (statt sich als solides »Fach« gegen alle Stellenkürzungsversuche zu immunisieren) und darüber noch in einem brillierenden sprachlichen Stil zu schreiben, musste bei dieser Gruppe Vorbehalte wecken. Wenn schon nicht die eigene soziale Stellung, so waren doch wenigstens die Denkgewohnheiten und die Selbsteinschätzung bedroht, man marschiere an der Spitze aller möglichen theoretischen Neuerungen. Rortys »Story« der Erkenntnistheorie, wie man sie in Anlehnung an Ernst Gombrichs The Story of Art nennen könnte, geht so: Hobbes und Descartes hatten die spätmittelalterliche »Philosophie der Schulen« in Frage gestellt, abgelehnt und dadurch die eigentlich moderne, wissenschaftsnahe Philosophie begründet. Wie konnte es nun geschehen, dass im neunzehnten Jahrhundert die Philosophie als »eine autonome, in sich geschlossene, ›scholastische‹ Disziplin« (SN 154) wiedererrichtet wurde? Rortys These (die er ebenso wie Ludwig Wittgenstein und John Dewey vertritt) ist, »daß man nur dann von einem Erkenntnisproblem sprechen kann, wenn man das Erkennen als eine Ansammlung von Darstellungen (representations) betrachtet. […] Die Moral wird schließlich lauten: Ist diese Auffassung von Erkenntnis hinfällig, so auch die Erkenntnistheorie und die Philosophie, wie sie sich seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts verstanden hat.« (SN 159f.) Descartes hatte den »Geist« erfunden; Locke hat daraus das Gegenstandsgebiet einer Humanwissenschaft (moral philosophy im Unterschied zu einer natural philosophy) gemacht. »Dieses Projekt, durch eine Untersuchung der Arbeitsweise unseres Verstandes mehr darüber herauszufinden, was wir erkennen können und wie wir es besser erkennen können, erhielt schließlich den Namen ›Erkenntnistheorie‹.« (SN 155) Kant hat den Schritt vollzogen, daraus ein nicht-empirisches Projekt zu machen, eine »armchair philosophy«, die man als Nachdenken über das Apriori der Erkenntnis ohne anstrengende internationale Reisetätigkeit gleichsam zu Hause im Ohrensessel vollziehen konnte. Die berühmte Stelle in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant seine kopernikanische Wende beschreibt, sei hier zur Verdeutlichung zitiert: »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.«17 Kant hatte den in der Tat revolutionären Gedanken, Raum und Zeit seien nicht »dort draußen« einfach »vorhanden«, sondern bildeten die Methode unseres Erkenntnisvermögens, mit deren Hilfe es sich die unstrukturierte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen sinnvoll zurechtlege. Wir »konstituieren« die Objekte unserer Erkenntnis, indem wir sie in Raum und Zeit ansiedeln. Kant setzte voraus, dass wir zu unserer Innenwelt einen privilegierten Zugang haben und darüber besser Bescheid wissen können als über das »Draußen« – ein Gedanke, der seit Descartes im philosophischen Bewusstsein nach und nach selbstverständlich geworden war. Die Frage, woher wir dieses Wissen von unseren inneren Vorgängen haben können, hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht beunruhigt – das war vorausgesetzt. John Locke hatte geglaubt, durch die empirische Beschreibung unseres Erkenntnisvermögens philosophisch etwas ausrichten zu können. Kant denunzierte das als ein unphilosophisches, bloß physiologisches Vorgehen. Ein apriorisches, kein empirisches Verfahren müsse angewandt werden: Er wollte dasjenige in den Blick bekommen, was aller Erkenntnis notwendigerweise immer schon zugrunde lag, und hat darüber hinaus die Grundfragen der Erkenntnistheorie in einer Begrifflichkeit formuliert, die es trotz der...


Walter Reese-Schäfer ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.



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