Reichl | Das Gefühl zu denken | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 251 Seiten

Reichl Das Gefühl zu denken

Erzählungen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-0932-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 251 Seiten

ISBN: 978-3-7518-0932-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jeder echte Lesende kennt das Gefühl: Plötzlich wird man mitgerissen in eine neue, unbekannte Welt. Oder es dämmert einem langsam eine Wahrheit, deren Existenz man zuvor noch nicht einmal erahnte, die einen aber im Kern des Seins berührt. Ausgelöst wird diese Empfindung durch ein Buch, einen Autor, einen Satz vielleicht nur, der das Leben in ganz neue Verhältnisse setzt. Diesen existenziellen Erweckungserlebnissen und Wendepunkten beim Lesen von Theorie geht Veronika Reichl in ihren aus unzähligen Interviews und Gesprächen destillierten Erzählungen nach: Wie fühlt es sich an, Judith Butler oder Slavoj Žižek zu lesen? Muss man schweigen, um Hegel verstehen zu können? Wie kommt man in die Derrida-Spannung? Hilft Kant dabei, die frei fließenden Phänomene anzuhalten?

Reichls brillante Erzählungen aus Fiktion und Dokumentation bilden ein Archipel des Wissens und Fühlens, eine Universalgeschichte der Philosophie ebenso wie eine Leseanleitung und Selbstanalyse. Humorvoll und genau, überraschend und genial erzählt sie von Denkerfahrungen, vom Schmerz des Lesens, vom Umgang mit dem Nichtverstehen und davon, wie das Lesen das Leben berührt und für immer verändert.

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PHASEN DES VERDACHTS
Roger liest Kant, von Baader, Heidegger, Derrida und einige mehr Phase 1: Mit zwanzig, zu Anfang seines Philosophiestudiums, las Roger Kants Kritik der Urteilskraft. Der Beginn war leicht. Doch es dauerte keine Viertelstunde und er kam außer Puste. Er hatte in einer bequemen Schrittgeschwindigkeit gelesen und die plötzliche Steigung nicht bemerkt. Ganz außer Atem verstand er nicht mehr, worum es ging. Er konnte gar nicht anders – er musste zurückgehen und noch einmal ganz langsam lesen. Es brauchte zwei Wochen, bis er einen Bergschritt von Satz zu Satz erlernt hatte: einen Satz lesen und dann, auch wenn alles klar zu sein scheint, trotzdem kurz innehalten und nachspüren, ob die Deutung mit der Deutung des bisher Gelesen wirklich zusammenpasst. Wenn nicht alles klar ist, den Satz noch einmal lesen, eventuell auch den letzten Absatz noch einmal lesen; eine neue, vorläufige Deutung des Satzes entwerfen; diese Deutung mit dem bisher Gelesenen innerlich abgleichen; falls sie nicht zusammengehen, auch mögliche Umdeutungen des bisher Gelesenen erwägen; wenn das zu nichts führt, die Deutung erst mal offenlassen. Das ist ein Bergschritt. Darauf folgt der nächste Satz und der nächste Bergschritt. Manche Bergschritte gingen recht schnell, andere nahmen eine Menge Zeit in Anspruch. Doch es lag ein Rhythmus darin. Der Bergschritt ließ Roger ruhig werden. Es begeisterte ihn, nicht wie sonst von Wissenshappen zu Wissenshappen zu sprinten, sondern langsam in die Höhe zu steigen. Keine Bewegung in der flachen Ebene, sondern ein vertikales Aufsteigen. Vor dieser Lektüre war ihm nicht klar gewesen, dass man so denken konnte. Es war ein völlig anderer Vorgang als das alltägliche Denken. Das Bergdenken war ruhig, neutral und kühl. Auf dem Bergpfad war es wichtig, Entscheidungen nicht sofort zu fällen. Denn das Verstehen entstand häufig erst später und oft genug war das Gegenteil dessen richtig, was Roger am Anfang gedacht hatte. Der Bergschritt funktionierte: Roger erreichte den Gipfel von Kants Buch. Dort oben angekommen war die Sicht unglaublich. Und es war sehr still. Das Gewusel der alltäglichen Gedanken und Gespräche fand weit entfernt, unten in den Tälern, statt. Phase 2: Vier Monate später las Roger einen Text von Franz von Baader und war fasziniert. Der Text war schwer zugänglich, aber Roger nahm eine Art Verheißung darin wahr. Eine hell leuchtende Bedeutung klang darin an. Als könnte dieser Text eine Einweihung sein. Ein geheimes Wissen schien auf den Seiten für ausgewählte Leser2 offenzuliegen, auch wenn Roger es – selbst im Bergschritt – noch nicht bergen konnte. Dieser Eindruck eines höchst wichtigen, im Text enthaltenen Wissens verstärkte sich enorm, als er nach einigen Seiten auf drei Sätze stieß, die er verstand und die ihn trafen und begeisterten: ein heller Blitz von Einsicht. Er war nun überzeugt, dass sein Eindruck richtig gewesen war und auch alle anderen Sätze ähnlich helle Einsichten enthielten, würde man sie nur verstehen. Roger gab sich die nächsten Wochen viel Mühe mit Franz von Baaders Text. Die mögliche Nähe des undenkbar Wichtigen zog ihn gewaltig an. Doch er kam nicht wesentlich weiter und das, was er bergen konnte, war nicht so spannend, wie erhofft. Roger kam der Gedanke, dass seine Erwartung eines im Text verborgenen, hell leuchtenden Wissens ein Kurzschluss gewesen sein könnte. Er schob den Gedanken zunächst weg. Doch der Verdacht, einem Effekt aufgesessen zu sein, ließ ihn nicht los. Schließlich legte Roger Franz von Baader zur Seite, ohne sagen zu können, wie gehaltvoll der Text nun eigentlich war. Von da an unterschied Roger zwischen dem großartigen Gefühl einer tiefen Ahnung und dem etwas anders gelagerten, aber ebenfalls erhebenden Gefühl eines Verstehens. Das war schwieriger als angenommen. Denn wie er jetzt lernte, war sein Lesen ein ständiges Ahnen und Vorauseilen, immerzu etwas vermutend und vorwegnehmend. Es ging gar nicht anders. Und er war und blieb trotz seines neutralen Bergschritts ein Romantiker, der verführbar war von spiritueller Komplexität und wilden Paradoxa und wer weiß von was noch allem. Doch er versuchte, dem Ahnen nicht zu viel Raum einzuräumen, gerade weil es ihn so angenehm aufregte und Wunderbares fühlen ließ. Von nun an übte er sich noch bewusster in Kälte und Neutralität: Erst wenn er ganz sicher war, dass ein Text vor seinem kalten Blick standhielt, erlaubte er sich Begeisterung. Phase 3: Während seines Hauptstudiums schwelgte Roger in der Kontinentalphilosophie: Walter Benjamin, die Franzosen und so weiter. Weiterhin interessierten ihn vor allem Texte, in denen er versteckte Ebenen und Geheimnisse wahrnahm. Sein langsamer Bergschritt hatte sich automatisiert. Roger achtete nun vor allem darauf, Texten so genau wie nur möglich zuzuhören. Ziel dieses Zuhören war es (neben der Wahrnehmung aller Details des jeweiligen Texts), die eigenen minimalen Irritationen während des Lesens mitzubekommen. Ging er im Alltag über kleine Irritation hinweg, war es beim Lesen essenziell – und gar nicht einfach –, sie wahrzunehmen. Denn diese Irritationen waren oft der zentrale Schlüssel, um Texte zu verstehen und zu kritisieren. Drei Arten von Irritation begegneten Roger regelmäßig: – Irritationen, die entstehen, wenn ein Text auf mehreren Ebenen zugleich spricht. Als Roger zum Beispiel Hannah Arendts »Organisierte Schuld« las, brauchte er lange, bis er – durch eine Irritation – endlich wahrnahm, dass der Text sich bereits im Titel ganz wortwörtlich darauf bezog, wie Schuld praktisch organisiert wird. Das wurde für Roger der interessanteste Aspekt des Texts. – Momente, in denen eine plötzliche Unschärfe in einem Text auftaucht. Immer wieder stieß Roger in relativ durchsichtigen Texten plötzlich auf eine Nebelbank. Diese konnte man ganz leicht übersehen, zumal die Autoren kleine Brücken bauten und hofften, dass man schnell über die Nebelbänke hinweggehe. Wenn Roger sehr aufmerksam war, nahm er das wahr und fragte sich: Warum ist das hier plötzlich so unklar?Möglicherweise ist hier der Hund begraben? Bei einem mittelmäßigen Autor konnte man davon ausgehen, dass das nicht bewusst geschah. Der Autor verschleierte etwas vor sich selbst und vor dem Leser. Wenn Roger dort dann anfing zu graben, fand er oft einen Widerspruch, der vom Autor nicht bewältigt worden war und von dem aus Roger den ganzen Text dekonstruieren und dann feststellen konnte: Der Text basiert auf einem fundamentalen Widerspruch. Oder psychoanalytisch: Der Autor kreist unbewusst um einen Widerspruch, den er nicht überwunden hat. Der Widerspruch ist vielleicht sogar das, was ihn antreibt. – Widersprüche im Text, die auf einen vom Autor geplanten doppelten Boden hinweisen. Diese Widersprüche sind versteckte Botschaften, die nur Eingeweihte verstehen, den normalen Lesern (und den Mächtigen) aber entgehen. Bei Leo Strauss zum Beispiel verwiesen Irritationen Roger auf solche Botschaften. Roger genoss es sehr, zwischen Leo Strauss’ Zeilen auf Verstecktes zu stoßen und zu also zu den Eingeweihten zu gehören. Dieses genaue Zuhören und all die Entdeckungen und Entlarvungen, die dadurch möglich wurden, machten Roger glücklich. Nebenbei wurde er immer sicherer im Umgang mit Texten. Er verstand das Feld und die Universität immer besser. Er fand Freunde und Freundinnen mit einem verwandten Leseethos. Und er fand Chloë. Phase 4: Mit sechsundzwanzig wechselte Roger die Stadt und die Uni und zog mit Chloë zusammen. Er wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem jungen, sehr erfolgreichen Rationalisten und Idealisten. Im Kontrast dazu war Rogers postmodern geprägtes Denken relativistisch. Roger freute sich auf die intellektuelle Auseinandersetzung. Denn Roger interessierte das Fremde. Texte, denen er gleich dauernd zustimmte, legte er schnell zur Seite. Sie hatten ihm nichts anzubieten. Mehr noch, sie ließen ihm seine eigenen Gedanken suspekt und plump erscheinen. Einfach zuzustimmen und in einen bestehenden Chor einzufallen, widerstrebte ihm ganz grundsätzlich in allen Lebensbereichen. Es fühlte sich immer falsch an. Doch obwohl er der Begegnung mit diesem Fremden voll Freude entgegengesehen hatte, dauerte es keine zwei Wochen, bis die Argumente, die sein junger Chef im Graduiertenkolleg ausbreitete, Roger den Boden unter den Füßen wegzogen. Der Professor nahm Roger mit Leichtigkeit auseinander. Es war ein Schock. Eine Überwältigung. Es fühlte sich an wie Gewalt, ohne dass er dem Professor irgendetwas vorwerfen konnte. Roger bekam hohes Fieber. Zwei Wochen lag er im Bett. Er schwitzte so fürchterlich, dass sie die Matratze danach entsorgen mussten. Doch er erholte sich schnell. Wenige Wochen später schon lief er selbst mit der Waffe des performativen Selbstwiderspruchs in seinen Händen durch die Gegend und metzelte jeden nieder, der irgendwie relativistisch argumentierte. Für...


Reichl, Veronika
Veronika Reichl lebt als Autorin, Illustratorin und Dozentin in Berlin. Sie studierte Kommunikationsdesign und promovierte zur Visualisierbarkeit von theoretischen Texten.

Veronika Reichl
lebt als Autorin, Illustratorin und Dozentin in Berlin. Sie studierte Kommunikationsdesign und promovierte zur Visualisierbarkeit von theoretischen Texten.



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