E-Book, Deutsch, Band 244, 256 Seiten
Reiser Vier Porträts Jesu
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-460-51075-3
Verlag: Katholisches Bibelwerk
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Anfänge der Evangelien gelesen mit den Augen Plutarchs
E-Book, Deutsch, Band 244, 256 Seiten
Reihe: Stuttgarter Bibelstudien (SBS)
ISBN: 978-3-460-51075-3
Verlag: Katholisches Bibelwerk
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Vorwort
„Darauf allein kommt es an, daß wir von Christus ergriffen werden,“ schreibt Reinhold Schneider.1 Wenn es allein darauf ankommt, dann muß das Bild Christi, wie es die Evangelien zeichnen, einheitlich sein und historisch glaubwürdig. Beide Voraussetzungen werden in der modernen Exegese seit der Aufklärungszeit bestritten, freilich nicht eigentlich aufgrund von Ergebnissen historischer Forschung als vielmehr aufgrund von gewandelten weltanschaulichen Voraussetzungen und Prämissen. Diese Voraussetzungen und Prämissen kommen auch im Folgenden gelegentlich zur Sprache, sollen hier jedoch nicht Thema sein, da ich andernorts ausführlich darauf eingegangen bin.2 Dort habe ich meine hermeneutischen und dogmatischen Voraussetzungen begründet und zur Diskussion gestellt. In diesem Buch geht es mir darum, die Einheitlichkeit des Bildes Jesu in seiner vierfachen Brechung aufzuzeigen und seine historische Glaubwürdigkeit. Da die Grundzüge des jeweiligen Porträts bereits in den ersten Kapiteln sichtbar werden, gehe ich so vor, daß ich den Text der Evangelien entlang gehe bis zum ersten öffentlichen Auftritt Jesu, mit dem er sein Wirken programmatisch beginnt. Es ist auffällig, daß wir auf diese Weise zu vier verschiedenen „ersten“ öffentlichen Auftritten geführt werden. Sie finden auch an vier verschiedenen Orten statt: nach Markus in der Synagoge von Kafarnaum, nach Lukas in der Synagoge von Nazaret, nach Matthäus auf dem Berg der Bergpredigt, nach Johannes im Tempel von Jerusalem. Nur im Fall des Markus- und des Lukasevangeliums mußte ich über das genannte Limit deutlich hinausgehen, damit man die Bearbeitung und Umgestaltung der markinischen Vorlage in den späteren Evangelien besser einschätzen und würdigen kann. Ein summarischer Blick auf das Ganze des jeweiligen Evangeliums durfte natürlich nicht fehlen. Bei der genannten Fragestellung muß die historische mit der literarischen Betrachtungsweise verbunden werden, denn die historische Aussage ist nur zu gewinnen, wenn die literarische Gestaltung und Darstellungsabsicht des Autors verstanden ist. Und nur von der literarischen Darstellungsabsicht her lassen sich auch die Unterschiede der Synoptiker untereinander und dieser im Vergleich mit dem vierten Evangelisten begreifen. Zu diesen beiden Betrachtungsweisen soll hier als dritte eine sachliche Betrachtungsweise treten, die wenigstens ansatzweise versucht, die Absicht der Erzähler und das Dargestellte für heute verständlich zu machen. Zur historischen Glaubwürdigkeit einer Quelle gehört, daß sie die sozial- und kulturgeschichtliche Welt, in der die erzählten Ereignisse spielen, richtig zeichnet. Zur Veranschaulichung dieser Welt und ihres Denkens, wie sie sich in den Evangelien spiegelt, dienen in den üblichen Kommentaren sogenannte „Parallelen“ aus der antiken Literatur und archäologischen Quellen. Ihr Erklärungswert für den kommentierten Text ist allerdings oft fragwürdig. Isolierte Zitate aus verschiedenen Autoren verschiedener Zeiten wirken nicht selten eher verwirrend als hilfreich. Nehmen wir als Beispiel den in seiner Art ausgezeichneten Markuskommentar von Lars Hartman.3 Allein in den Anmerkungen zu Mk 1,1–13 und im ersten Exkurs zum Begriff „Evangelium“ werden neben der Septuaginta und den übrigen neutestamentlichen Autoren folgende frühjüdische Quellen zitiert: das Jubiläenbuch, die Psalmen Salomons, die Patriarchentestamente, die Paralipomena Jeremiae, das Leben Adams und Evas, die Schriften von Qumran, Philo und Josephus, außerdem der Talmud. Dazu kommen neben Inschriften und Papyri an heidnischen Autoren: Aristophanes, Posidonius, Diodorus Siculus, Strabo, Plutarch, Dio Cassius, Apuleius, Pseudo-Lukian, Galen; an frühchristlichen Autoren: Irenäus, Origenes, Basilius der Große, Johannes Chrysostomus. Für Benutzer, die die zitierten Autoren und Quellen vielleicht nur dem Namen nach kennen, ist es schwer, die Bedeutung eines einzelnen daraus zitierten Satzes oder eines längeren Passus für einen bestimmten Sachverhalt einzuschätzen. Da helfen auch vereinzelte erklärende Bemerkungen kaum weiter. Deshalb ziehe ich in dieser Untersuchung zum Vergleich einen einzigen Hauptautor heran, den ich auch eigens vorstelle: den Philosophen, Historiker und Theologen Plutarch, der in diesen drei Sparten ein breitgefächertes Werk hinterlassen hat. Von seinen zahlreichen Schriften ist so viel überliefert, daß wir in der Lage sind, die Evangelien mit seinen Augen zu lesen. Das jedenfalls will ich hier versuchen. Plutarch hat zudem den Vorzug, daß er der einzige antike Autor ist, von dem nach Form und Darstellungsart mit den Evangelien vergleichbare Biographien überliefert sind. Im Vergleich mit ihnen sind es freilich vielfach weniger die Übereinstimmungen als die Unterschiede in der Darstellungsart, der Denkweise und dem Wertekanon, die erhellend und profilierend wirken. Mit seinen Ausführungen läßt sich auch das umstrittene Problem von Mythos und Historie genauer fassen und einer Lösung zuführen. Wir müssen ja fragen: Was ist eigentlich ein Mythos? Was hat man zur Zeit unserer Evangelisten darunter verstanden? Sind Mythen dasselbe wie Märchen? Oder eher so etwas wie Sagen? In welchem Sinn konnten antike Menschen daran glauben? Haben sie darin Wahrheit gefunden? Welche? Am Ende steht ein Gedankenexperiment: Hätte Plutarch einen Zugang zu den Evangelien und ihrem „Helden“ finden können? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist naturgemäß unmöglich, aber Vermutungen sind erlaubt. Und wenn nach der Lektüre des Buches wenigstens so etwas wie ein geistiges Porträt des Autors Plutarch entstanden ist, wäre das ein erwünschter Nebeneffekt des durchgehenden Vergleichs. Man wird sich vielleicht wundern, daß Probleme, die in der Exegese der letzten hundert Jahre mit größter Intensität erforscht und diskutiert wurden, in dieser Untersuchung fast gar keine Rolle spielen. Viele davon sind nur auf spekulativem Weg zu lösen. An historischen und literaturgeschichtlichen Spekulationen möchte ich mich hier aber nicht beteiligen. Das gilt etwa für die Frage nach schriftlichen Quellen des Evangelisten Markus, aber auch für die Frage nach der Herkunft des Überlieferungsmaterials, das Matthäus und Lukas über das ihnen von Markus Gebotene hinaus bieten. Man schreibt es gewöhnlich zwei Quellen zu: was Matthäus und Lukas gemeinsam haben, der sogenannten Logienquelle oder Q, alles andere mündlichen Sonderüberlieferungen. Selbst wenn es einmal gelingen sollte, die Frage der Natur (mündlich oder schriftlich?), des Umfangs und des Wortlauts der Logienquelle zur Befriedigung der Mehrheit der Gelehrten zu lösen, wäre das meines Erachtens von geringer Bedeutung für die wichtigen historischen Fragen. Morna D. Hooker hat ein Büchlein geschrieben mit dem schönen Titel: „Beginnings. Keys that open the Gospels“ (London 1997).4 Ihre Anfänge sind allerdings schon äußerlich recht eng gefaßt (Mk 1,1–13; Mt 1–2; Lk 1–2; Joh 1,1–18). In diesen Anfangsteilen sieht sie den Schlüssel für das jeweilige Evangelium, der für die anderen nicht passen würde. Ich möchte den Begriff des Anfangs in dieser Untersuchung weiter fassen und nicht nur literarisch auf die Anfänge der Evangelien beziehen, sondern auch historisch auf die Anfänge Jesu und der Bewegung, die mit ihm beginnt. Denn für antikes, aber auch für heutiges Denken ist der Anfang einer Sache von großer Bedeutung. Man muß eine Sache richtig beginnen, damit sie gelingen kann. Die gelungenen Anfänge wiederum bestimmen das Ganze und können, wo es sich um die Identität einer sozialen Bewegung handelt, verpflichtenden Charakter haben. Nicht von ungefähr beginnt Markus sein Evangelium mit diesem Stichwort und will Lukas nach Auskunft seines Vorworts den Anfängen nachgehen. Auch Matthäus beginnt sein Werk mit einem historischen Anfang, wenn er bei Abraham einsetzt. Daß Johannes noch weiter zurückgreift bis zum Anfang schlechthin, hängt mit seiner besonderen Sicht der Dinge zusammen. Ein Buch mit einem ähnlichen Programm hat Boris Repschinski veröffentlicht: „Vier Bilder von Jesus. Die Evangelien – alt, doch aktuell“ (Würzburg 2016). Es bietet freilich keine zusätzliche antike Perspektive und verzichtet ganz auf griechische Wörter. Mein Buch ist ursprünglich als Vorlesung für Studierende konzipiert. Es ist in gewisser Weise das positive Gegenstück zu meiner „kritischen Geschichte der Jesusforschung“ (SBS 235), Stuttgart 2015. Es setzt kein spezifisch exegetisches Wissen voraus. Man kann es ohne die Anmerkungen lesen, die hauptsächlich den Belegnachweisen dienen und auf weiterführende Sekundärliteratur hinweisen. Da es in erster Linie um die Vorstellung einer bestimmten Sichtweise geht, die nicht zuletzt durch den Vergleich mit Plutarchs Biographien und sonstigen Schriften gewonnen wurde, kann ich nicht zu jeder Streitfrage die Auseinandersetzung mit anderen Positionen führen. Ein gewisser Ersatz dafür sind Literaturhinweise in den...