E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Reihe: eva digital
Renz Fritz Bauer und das Versagen der Justiz
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86393-532-0
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nazi-Prozesse und ihre 'Tragödie'
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Reihe: eva digital
ISBN: 978-3-86393-532-0
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der 'Tragödie' der bundesdeutschen Verfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher schreibt Fritz Bauer im März 1966 in einem Brief an seinen Freund Thomas Harlan. Bauer blickte voller Resignation und Bitterkeit insbesondere auf zwei Prozesse zurück, die vor dem Landgericht Frankfurt am Main verhandelt worden waren. Da war zum einen der Auschwitz-Prozess, mit dem Bauer gemeinhin in einem Atemzug genannt wird. Da war zum anderen das skandalöse Urteil im Verfahren gegen die beiden Mitarbeiter Adolf Eichmanns, Hermann Krumey und Otto Hunsche, die im Sommer 1944 zusammen mit dem 'Spediteur des Todes' 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert hatten.
Warum sprach Bauer im Rückblick auf die NS-Prozesse von ihrer 'Tragödie'? Hatten die Verfahren nicht geleistet, worum es Bauer in den Prozessen gegen Nazi-Verbrecher vorrangig und erklärtermaßen ging?
Heute noch stehen Angehörige des Auschwitz-Personals vor Gericht. Die späten Prozesse gegen Greise sind ein untrügliches Zeichen für das Versagen der deutschen Strafjustiz bei der rechtlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.
Werner Renz legt hier Bauers Vorstellungen vom Sinn und Zweck der NS-Prozesse dar und analysiert die Vorgeschichte und Verlauf des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
EINLEITUNG »Sie sollten den Leuten klar machen, die in mir einen Protagonisten einer Vergangenheitsbewältigung sehen, daß es mir noch keine Sekunde um die Vergangenheit ging, sondern um Gegenwart und Zukunft.«1 Von der »Tragödie« der bundesdeutschen Verfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher schrieb Fritz Bauer (1903–1968) im März 1966 in einem Brief an seinen Freund Thomas Harlan.2 Bauer blickte voller Resignation und Bitterkeit insbesondere auf Prozesse zurück, die vor dem Frankfurter Landgericht verhandelt worden waren. Da war zum einen das skandalöse Urteil im Verfahren gegen die beiden Mitarbeiter Adolf Eichmanns, Hermann Krumey und Otto Hunsche, die im Sommer 1944 zusammen mit dem »Spediteur des Todes« 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert hatten.3 Da war zum anderen der spektakuläre Auschwitz-Prozess mit der Verurteilung von zehn Angeklagten nur wegen Beihilfe und nicht wegen Mittäterschaft zum Mord.4 Warum sprach Bauer im Rückblick auf die NS-Prozesse von ihrer »Tragödie«? Hatten die Verfahren nicht geleistet, worum es ihm vorrangig und erklärtermaßen ging? Umfassende politische Aufklärung durch zweifelsfreie Tatsachenfeststellungen der Schwurgerichte sowie die in der Beweisaufnahme zu Gehör gebrachten Stimmen der überlebenden Opfer waren unstrittig wichtigste Ergebnisse der NS-Prozesse. Doch hatten die Strafgerichte das Tun und Lassen der Angeklagten tatangemessen qualifiziert? Hatten sie die strafrechtliche Verantwortung der NS-Verbrecher überzeugend gewürdigt? Die bundesdeutsche Strafjustiz kannte als »Haupttäter« und »Taturheber« nur Hitler, Himmler und Heydrich etc. und nur wenige weitere Täter und Mittäter. Diese hatten entweder eigenmächtig und befehlslos getötet oder sich im Konsens mit der verbrecherischen Staatsführung die befohlenen Taten zu eigen gemacht, sie als eigene gewollt. In den bundesdeutschen NS-Prozessen wurden von den rund 6600 verurteilten Angeklagten nur circa 170 als Mörder qualifiziert und zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.5 Unter den abertausenden Mitwirkenden an der Shoah6 waren der nachsichtigen Justiz die bloßen Gehilfen geradezu Legion. In der rechtlichen Würdigung der Tatbeteiligung an dem Menschheitsverbrechen, das wir heute Shoah nennen, erkannten die Gerichte meist nur auf Gehilfenschaft. Das Personal der Vernichtungslager, die Angehörigen von Erschießungskommandos (Einsatzgruppen), die Mitarbeiter von Gestapostellen, die Juden in Ghettos und Todeslager deportierten, hatten nach Auffassung der deutschen Strafrichter die befohlene Tat, die Judenvernichtung, nur als fremde Tat fördern und unterstützen und nicht als eigene begehen wollen. Bauer hatte sich Ende der 1950er Jahre, als er voller Energie in Hessen NS-Verfahren in Gang brachte, von den Prozessen viel erhofft. Sie sollten den Deutschen »Schule« und »Lehre« sein und »Lektionen« erteilen. Die Bundesdeutschen im Wirtschaftswunderland erwiesen sich freilich als ungelehrige Schüler. Die Prozesse erzielten nicht die volkspädagogische Wirkung, die Bauer um einer besseren Zukunft willen erwartet hatte. Bereits im schwedischen Exil befasste sich der deutsche Patriot Bauer mit der Frage der justiziellen Ahndung der NS-Verbrechen und veröffentlichte 1944/1945 sein Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht gleich in drei Sprachen, auf Schwedisch, Dänisch und Deutsch.7 In einem Beitrag für die von ihm und Willy Brandt herausgegebene Exilzeitung Sozialistische Tribüne vom Februar 1945 erörterte Bauer die notwendige »Abrechnung mit den Kriegsverbrechern« und sprach sich im Namen der »deutschen Opposition« für eine »durchgreifende Revolution gegen Kriegsanstifter, Kriegsverbrecher und Verbrecher am deutschen Volke«8 aus. Mit Revolution meinte er eine auf »revolutionäres Recht« gestützte Aburteilung der NS-Verbrecher, das heißt, mit Hilfe eines Rechts, das erst rückwirkend zu schaffen sei. Auf der Grundlage des geltenden Rechts war nach Bauer die geforderte »Abrechnung« nicht möglich. So heißt es: »Die nazistische Revolution muss durch eine antinazistische Gegenrevolution beseitigt werden. Die Antinazisten können einen Mittelweg beschreiten, indem sie revolutionäre Gesetze und Revolutionstribunale mit rückwirkender Kraft schaffen, aber auch dieser Weg ist nicht der des geltenden Rechts, sondern der Weg revolutionären Rechts. Bestimmt sich das Volk zu ihm, werden wir nicht nur den Alliierten viele Schwierigkeiten abnehmen. Wir werden auch die Glaubwürdigkeit und Effektivität eines neuen Deutschland beweisen.«9 Anders als Bauer sich erhofft hatte, haben die Alliierten und nicht die Deutschen Nürnberg veranstaltet. Es gab keine »Antinazisten« als politisch starke und einflussreiche Kraft, weder im Exil noch im besetzten Deutschland, die gegenüber den Alliierten eine juristische Selbstreinigung hätten durchsetzen können. Bauer war diese Entwicklung keineswegs recht. In einem Artikel über den Nürnberger Prozess meinte er: »Deutsche Antinazisten bedauern, dass die Verurteilung der nazistischen Verbrechen durch alliierte und nicht durch deutsche Gerichte erfolgt. […] Sie bedauern es, weil deutsche Gerichte Gelegenheit gehabt hätten, klar und deutlich der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass das neue Deutschland wieder ein Rechtsstaat geworden ist, der mit der rechtlosen Vergangenheit bricht und die nazistischen Vorstellungen, Macht sei Recht, verflucht.«10 Die Ahndung der NS-Verbrechen haben in den ersten drei Jahren nach Kriegsende die »Sieger« den Deutschen wohlweislich abgenommen. Vor deutschen Gerichten hat es wohl Prozesse zum Teil auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Rechts, zum Teil auf den von den Alliierten rückwirkend geschaffenen Gesetzen (Kontrollratsgesetz Nr. 10) gegeben. Denunziationsdelikte, Verbrechen im November 1938 und sogenannte Endphasenverbrechen wurden zumeist verhandelt. Die deutsche Gerichtsbarkeit beschränkte sich freilich auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen und an Staatenlosen. In den 1950er Jahren ging die Zahl der deutschen Verfahren stark zurück. Eine »Zeit der Stille« trat ein. Die NS-Vergangenheit erschien Politik, Justiz und Öffentlichkeit weitgehend als erledigt.11 1960 konstatierte Bauer in einem Aufsatz über die »ungesühnte Nazijustiz«, die fällige »geistige Revolution der Deutschen«12 sei ausgeblieben. Als Bauer seit Frühjahr 1956 in Hessen den rechtspolitischen Freiraum durch die von Georg August Zinn geführte Landesregierung erhielt, verstärkt NS-Verbrecher zu verfolgen und Ermittlungsverfahren einzuleiten, mussten die Staatsanwaltschaften und die Schwurgerichte mit dem Strafgesetzbuch (StGB) von 1871 hantieren. Bauer wusste nur allzu gut, dass das StGB kein geeignetes Instrument war, die NS-Verbrechen zu ahnden. Er hoffte, wie er wiederholt betonte, auf die rechtsschöpferische Kraft einer Gerechtigkeit anstrebenden Justiz. Daraus ist aber nichts geworden. Die Schwurgerichte wandten das gute alte Recht an, das als Individualstrafrecht wenig tauglich war, die kollektiv begangenen Massenverbrechen tatangemessen zu judizieren. Mithin musste Bauer angesichts des Widerstands sowohl an den neun hessischen Landgerichten als auch am Bundesgerichtshof mit seinem Vorhaben, die NS-Verbrechen umfassend ahnden zu lassen, scheitern. Dabei ging es Bauer nicht um Schuldsühne, um Tatvergeltung. Seine Anstrengung, die NS-Täter vor Gericht zu bringen, resultierte vielmehr aus seinem Bestreben, auch mit Hilfe von Strafprozessen Sachaufklärung zu betreiben und die »historische Wahrheit« über die NS-Verbrechen »kund und zu wissen zu tun«.13 Bauer hatte die Hoffnung, mit Hilfe von Verfahren gegen NS-Verbrecher den Deutschen das Spiegelbild ihres eigenen Handelns in den Jahren 1933 bis 1945 vor Augen führen zu lassen. In einem Prozess der Selbsterkenntnis sollten sie zu dem Ergebnis gelangen, dass sie hätten Nein sagen, sich dem Regime, seinen Untaten, seinen verbrecherischen Befehlen, verweigern müssen. Wenn Bauer erwartete, dass die NS-Prozesse den Deutschen eine »Unterrichtsstunde« erteilten, ihnen ein Lehrstück seien, bei ihnen Lernprozesse in Gang setzten, so deshalb, weil er den Glauben hatte, die Deutschen um einer besseren Zukunft willen zu engagierten Demokraten erziehen zu können, zu Menschen somit, die unsere in der Verfassung festgeschriebenen Grundwerte achten und die universell gültigen Menschenrechte verteidigen. Bauer, der sich nach 1945 eindeutig zu Nürnberg bekannt hatte, die Ablehnung der alliierten Gesetzgebung durch Politik und Justiz Anfang der 1950er Jahre als nunmehr bestallter Justizjurist freilich nicht weiter thematisieren konnte, sprach sich – mit Gustav Radbruch14 – erst Mitte der 1960er Jahre explizit wieder für die Rechtsgrundlagen der Nürnberger Prozesse aus. In seinem posthum veröffentlichten Beitrag für die Radbruch-Gedächtnisschrift heißt es: »Das Kontrollratsgesetz [Nr. 10] gab der deutschen...