Buch, Deutsch, Band 47, 455 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 215 mm, Gewicht: 629 g
Reihe: Campus Historische Studien
Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik
Buch, Deutsch, Band 47, 455 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 215 mm, Gewicht: 629 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-38761-1
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Rechtswissenschaften Allgemeines Verfahrens-, Zivilprozess- und Insolvenzrecht Justizverwaltung, Justizorganisation
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsgeschichte, Recht der Antike
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Innen-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtspolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Demokratie
Weitere Infos & Material
Einleitung
1. Zwischen politischem Zölibat und konservativer Konsolidierung - Die Justiz in den fünfziger Jahren
1.1 Der Wunsch nach einer "entfesselten" Justiz. Die Auseinandersetzung um die Selbstverwaltung der Justiz
1.2 Das Bundesverfassungsgericht erobert seinen Platz
1.2.1 Die Gründungskrise des Verfassungsgerichts
1.2.2 Naturrecht und Staat als Werte oberhalb der Verfassung?
1.3 Reformbestrebungen in restaurativer Absicht: Die Forderung nach einer großen Justizreform
1.4 Arbeitsgerichtsbarkeit und Verfassung
1.5 Zwischenbilanz: Justiz am Ende der fünfziger Jahre
2. Skandale und Kritik - Die Justiz in den sechziger Jahren
2.1 Wachsende Kritik an der Justiz in der "politischen Öffentlichkeit"
2.1.1 Die Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit der bundesdeutschen Justiz
2.1.2 Wie rechtsstaatlich agierte die bundesdeutsche Justiz?
2.1.3 Gute Zeiten für Michael Kohlhaas: Skandalträchtige Prozesse und radikale Justizkritik
2.1.4 Mit einem NS-Gesetz gegen den Sittenverfall: Der Frauenarzt Dr. Dohrn vor Gericht
2.2 Der Richter im Blickfeld soziologischer Untersuchungen
2.3 Zwischen Abschottung und Öffnung: Reaktionen aus der Richterschaft
2.3.1 Generationeller Umbruch
2.3.2 Die politische Öffentlichkeit als Bedrohung der "Sache der Justiz"
2.3.3 Selbstkritik und Reformforderungen
2.4 Justizpolitik
2.5 Zwischenbilanz: Zur Entstehung eines Reformklimas
3. Die Justiz im Fahrwasser der Demokratisierungsforderungen
3.1 Die Herausforderung durch die Demonstrationsprozesse
3.1.1 Die Demonstrationsprozesse als (verfassungs-)rechtliche Herausforderung
3.1.2 "Die Verfolgung und Ermordung der Strafjustiz durch die Herren Teufel und Langhans"
3.1.3 Die Demonstrationsprozesse als rechts- und justizpolitische Herausforderung
3.2 Reformforderungen als Standes- und Gesellschaftspolitik
3.1.1 Richter auf den Barrikaden: Linksschwenk oder Besoldungskampf?
3.1.2 Bewegung in den Organisationen und Organisationsformen
3.1.3 Forderungen nach strukturellen Reformen innerhalb der Justiz
3.3 Auf dem Weg zum neuen Juristen
3.1.1 Der Aufstieg der Rechtssoziologie
3.1.2 Zukunftsmodell "politischer Richter"?
3.1.3 Die einphasige Juristenausbildung - Zur Pathologie der Reform
3.4 Zwischenbilanz: Die kurze Hegemonie des Reformdiskurses
4. Klimawechsel und langfristige Veränderungen
4.1 Zurück aus der Defensive: Die konservative Haltung zu den justizpolitischen Reformplänen
4.2 Der "politische Richter" als Politikum. Sozialdemokratische Personalpolitik in der Kritik
4.3 Justizreform: ohne Ende - ohne Ziel?
4.4 Konfrontationen und Neuorientierungen im juristischen Feld
4.5 Zwischenbilanz: Rechtsdenken im Zeichen gesellschaftlicher Polarisierung
5. Schluss
Literatur
Danksagung
Personenregister
Sachregister
Am Vormittag des 7. November 1968 ging während des CDU-Parteitags in Berlin eine junge Frau auf den Platz des Bundeskanzlers Kiesinger zu, scheinbar in der Absicht, sich ein Autogramm zu holen. Doch war es alles andere als Bewunderung, was Beate Klarsfeld dem ehemaligen NSDAP-Mitglied entgegenzubringen dachte. Mit den Worten "Nazi, Nazi" schlug sie ihm ins Gesicht, um, wie sie später sagte, die Nazi-Vergangenheit des Kanzlers ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die in Berlin geborene, inzwischen deutsche und französische Staatsangehörige, frühere Sekretärin des deutsch-französischen Jugendwerks, wurde sofort dem Haftrichter vorgeführt und noch am selben Abend in einem gerichtlichen Schnellverfahren zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt. Das war die höchste Strafe, die in einem beschleunigten Verfahren überhaupt möglich war. Im Prozess sagte Beate Klarsfeld aus, es sei immer ihre Absicht gewesen, Herrn Kiesinger zu einem Prozess zu zwingen und so eine Klärung seines Verhaltens im "Dritten Reich" herbeizuführen. Doch diesen Gefallen tat das Gericht der Angeklagten nicht. Den entsprechenden Antrag des Verteidigers Horst Mahler lehnte der Amtsrichter Drygalla mit Hinweis auf "Prozessverschleppung" ab.^
Dabei erfüllte der Amtsrichter keineswegs das Klischee eines vielleicht noch in der NS-Zeit tätigen Richters. 1930 geboren, hatte er seine politische und juristische Sozialisation in der Bundesrepublik erhalten und wurde von den Zeitungen als durchaus wohlwollend und freundlich beschrieben. Er ließ die Angeklagte stets ausreden, blieb auch ruhig, als ihm vorgeworfen wurde, alte Nazis zu decken, und billigte der Angeklagten sogar zu, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied als Regierungschef für untragbar zu halten. Entscheidend für die Beurteilung der Tat sei jedoch, so der Richter in seiner Urteilsbegründung, dass wieder einmal versucht worden sei, eine politische Überzeugung mit Mitteln der Gewalt zu vertreten. Derartiges müsste angesichts der deutschen Vergangenheit im Keim erstickt werden.
Für die APO bestätigte das Urteil einmal mehr das, was man ohnehin von der Justiz erwartete: Beate Klarsfeld wurde gefeiert, das Urteil als "typischer Fall von Klassenjustiz" und "symptomatisch für die Justiz" angesehen. Aber auch in der liberalen, bürgerlichen Öffentlichkeit stieß das Verfahren auf erhebliches Unbehagen. Schriftsteller protestierten, die Münchner Abendzeitung sprach von einem "Terrorurteil" und auch die FAZ empfand das Urteil als unangemessen und deutlich zu hoch. Das politische Bonn schwieg betreten. Horst Ehmke, zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär im Bundesjustizministerium, gab vor, die Gerichte nicht bevormunden zu wollen. Max Güde, CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Generalbundesanwalt, behauptete, als ehemaliger Richter und Staatsanwalt sich grundsätzlich nicht zu Urteilen zu äußern. Befragte Rechtsanwälte gaben nüchtern zu bedenken, dass ein nicht vorbestrafter Angeklagter kaum mehr als drei Monate auf Bewährung erhalte, wenn er jemanden "krankenhausreif" schlage. So hatte das Urteil zwar in der nächsten Instanz tatsächlich keinen Bestand, doch vier Monate auf Bewährung blieben auch in dem zweiten Verfahren noch. Erst das Amnestiegesetz aus dem Jahr 1970 löschte die Strafe ganz.
Ein paar Jahre später machte noch einmal ein Ohrfeigen-Prozess Schlagzeilen. Im Jahr 1974 war es der konservative Fernsehmoderator Gerhard Löwenthal, der sich eine Ohrfeige gefallen lassen musste, und zwar von dem Bremer Studenten Horst Wesemann. Doch statt einer einjährigen Gefängnisstrafe, wie Beate Klarsfeld in erster Instanz, erhielt der junge Mann nun lediglich eine Geldbuße von DM 150. Für diesen Preis würde er gerne auch einmal dem Moderator des Fernsehmagazins Panorama eine Ohrfeige verpassen, ließ ein Dr. Gabriel die zuständige Richterin telefonisch wissen, und ein anderer Anrufer wollte gleich der Richterin selbst "für 150 Mark mal eine runterhauen".
Wellen der Empörung schlug jedoch nicht nur das Urteil, sondern auch die vermeintlich laxe Verhandlungsführung und das, was die 29-jährige Richterin, Mitglied der SPD, in der Urteilsbegründung gesagt haben sollte. Angeblich habe sie dem Angeklagten verständnisvoll geraten, "sich etwas anderes einfallen zu lassen", wenn er eine Revolution machen wollte. Das war zwar eine grobe Verzerrung ihrer tatsächlichen Worte, doch der justizpolitische Sprecher der hessischen CDU-Landtagsfraktion forderte eine sofortige Überprüfung der Richterin und gegebenenfalls entsprechende Konsequenzen. Der 63-jährige Vizepräsident des zuständigen Wiesbadener Amtsgerichts trat aus Protest gegen die Verhandlungsführung seiner Kollegin von seinem Amt zurück und die Tageszeitung Die Welt sah in dem Urteil die Vorboten des zugrunde gerichteten Rechtsstaats im demokratischen Sozialismus. So, wie 1968 das Urteil gegen Beate Klarsfeld vor allem von linker und liberaler Seite als symptomatisch für eine autoritätsgläubige, drakonisch strafende Justiz angesehen worden war, witterten nun Konservative in dem Urteil gegen den Bremer Studenten das Ergebnis einer linken Unterwanderung der Justiz, die am Ende der sechziger Jahre eingesetzt haben sollte.
Wollte man zeigen, dass "1968" eine tiefe Zäsur darstellte, die weitreichende, liberalisierende Wirkungen nicht zuletzt innerhalb der Justiz einleitete, könnten die Beispiele als schöne, wenn auch etwas plakative, Illustration dienen. Es ist schon zu ahnen, dass die Interpretation der Fälle wesentlich komplexer ausfallen muss. Dies gilt nicht nur wegen des augenfälligen methodischen Wagemuts, aus zwei Fällen so weitreichende Schlüsse zu ziehen. Gleichwohl sind die beiden Prozesse von einigem Interesse, und zwar weniger wegen der so unterschiedlichen Urteile als deshalb, weil beide in unterschiedlicher Weise von den Zeitgenossen als symptomatisch interpretiert wurden. Mit anderen Worten: In beiden Fällen standen nicht nur die jeweiligen Richter mit ihren Urteilen in der Kritik. Vielmehr mündete die Kritik direkt in weitreichende Debatten über den Zustand und die Entwicklung der Justiz insgesamt. Die Frage, wie diese zeitgenössische Einordnung der Fälle zu werten ist, wo ihre Ursachen und möglicherweise ihre Berechtigung lagen, führt zum Kern dessen, worum es im Folgenden gehen soll.