E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Reihe: Tests und Trends in der pädagogisch-psychologischen Diagnostik
Richter / Lenhard Diagnose und Förderung des Lesens im digitalen Kontext
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8444-3256-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Reihe: Tests und Trends in der pädagogisch-psychologischen Diagnostik
ISBN: 978-3-8444-3256-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lesen ist eine Kulturtechnik, die bedingt durch den schnellen technologischen Wandel selbst fortlaufender Veränderung unterworfen ist. Die inzwischen vorwiegend in der digitalen Welt stattfindende Lesetätigkeit unterscheidet sich zum Teil von der traditionellen Rezeption gedruckter Texte. Beispielsweise birgt das Lesen auf dem Bildschirm die Gefahr einer geringeren Verarbeitungstiefe. Gleichzeitig muss viel stärker auf die Verknüpfung von Informationen aus multiplen Texten und auf die Prüfung von der Qualität und Glaubwürdigkeit von Texten geachtet werden.
Das digitale Zeitalter eröffnet jedoch auch Potenziale für die Diagnostik und Förderung von Lesefähigkeiten und Leseverständnis. Es sind neue Herangehensweisen möglich, die über unmittelbare Rückmeldungen den Lerneffekt erhöhen, den Lernverlauf sichtbar machen und Informationsquellen erschließen, die beim Lesen auf Papier nicht erfassbar sind. Neben einer Reflexion des aktuellen Forschungsstandes bietet der Band auch einen Überblick über aktuell verfügbare Verfahren und Online-Plattformen.
Zielgruppe
Lehrkräfte, (Schul-)Psycholog:innen, in der Therapie von Lernstörungen und in der Bildungsforschung Tätige.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
|1|Kapitel 1
Leseverständnis: Kognitive Komponenten und Prozesse
Wolfgang Lenhard und Tobias Richter Zusammenfassung Leseprozesse basieren im digitalen Kontext auf denselben kognitiven Grundlagen wie beim Lesen gedruckter Materialien, einschließlich der Verarbeitung von Informationen auf Wort-, Satz- und Textebene. Zudem hat die Bedeutung des Lesens durch die Digitalisierung keineswegs ab-, sondern eher zugenommen. Allerdings ergeben sich Unterschiede zwischen dem Lesen auf dem Bildschirm und dem Lesen auf Papier, etwa eine geringere Verarbeitungstiefe, schlechtere Kalibrierung und eine geringere Bereitschaft zur Anstrengung beim digitalen Lesen. Im digitalen Kontext sind zudem erweiterte Kompetenzen erforderlich, insbesondere im Umgang mit Quelleninformationen und bei der intertextuellen Integration von Texten beispielsweise im Internet. Die schulische Praxis muss diesen Entwicklungen Rechnung tragen, indem einerseits grundlegende Fähigkeiten des Schriftspracherwerbs weiterhin systematisch und fundiert vermittelt werden, andererseits aber auch die Anforderungen und Herausforderungen des Lesens und Schreibens im digitalen Zeitalter beachtet werden. Hierfür ist die kontinuierliche Anpassung didaktischer Ansätze notwendig, um den digitalen Wandel als Chance zu nutzen und Wissen für jedes Individuum in unserer Gesellschaft zugänglich zu machen. 1.1 Kognitive Prozesse beim Lesen
Die Fähigkeit, schriftlichen Texten Informationen zu entnehmen, ist eine alte und basale Kulturtechnik. Die grundlegenden Anforderungen und Prozesse des Lesens haben sich seit dem Aufkommen der phönizischen Schrift im zweiten Jahrtausend vor Christus, die als Vorläuferin aller modernen alphabetischen Schriftsysteme gelten kann (Boyes & Steele, 2019), nicht verändert: Lesen beruht damals wie heute auf der Erkennung von Wörtern auf Basis von Schriftzeichen (Graphemen), denen von den Leserinnen und Lesern eine klangsprachliche (phonologische) Repräsentation und Bedeutungen (semantische Repräsentationen) zugeordnet werden müssen. Die Verbreitung von Lesefähigkeiten, die Zusammensetzung der Population von Leserinnen und Lesern, die mediale Präsentation schriftlicher Texte, die historischen und sozialen Kontexte des Lesens sowie die Zwecke, die die schriftliche Kommunikation und das Lesen erfüllen sollen, waren und sind dagegen im Wandel der Zeiten großen Veränderungen unterworfen. In den letzten |2|Jahrzehnten sind es vor allen Dingen die Verbreitung und rasante Weiterentwicklung digitaler Technologien, die das Lesen verändert haben: Lesen findet nicht mehr primär nur auf dem Papier statt, sondern auch – und vor allem bei vielen jungen Menschen überwiegend – mit digitalen Medien (Twenge, Martin & Spitzberg, 2019). Das Internet ist eine schier unerschöpfliche Ressource für Texte aller Art, die unterschiedlichsten Zwecken dienen, von wissenschaftlichen Artikeln, Lehrmaterialien und Lexika über Nachrichten und literarische Texte bis hin zu Einträgen in sozialen Medien. Durch die verstärkte Nutzung digitaler Medien und des Internets haben sich auch die Anforderungen an das Lesen und die Fähigkeiten erweitert, die für ein gutes Leseverständnis erforderlich sind. In diesem Beitrag geben wir einen Überblick über die kognitiven Prozesse, die dem Leseverständnis zugrunde liegen, und betrachten dabei die kognitiven Prozesse, die für ein gelingendes Leseverständnis auf der Wort-, der Satz- und der Textebene beherrscht werden müssen. Wir diskutieren darüber hinaus aber auch die Fragen, wie sich das Lesen am Bildschirm und das Lesen am Papier voneinander unterscheiden und welche Kompetenzen für das Lesen in der digitalen Welt relevant sind. 1.1.1 Worterkennung und -verstehen: Lexikalische und sublexikalische Prozesse Der Verstehensprozess beim Lesen zielt auf elementarer Ebene zunächst auf Wörter als grundlegende semantische Einheiten ab. Man kann die Rolle der Worterkennung beim Lesen und der Sprachrezeption aus verschiedenen Perspektiven betrachten, wie z.?B. aus entwicklungs- oder kognitionspsychologischer, linguistischer oder lesedidaktischer Sicht. Dementsprechend existieren zahlreiche Modelle, von denen hier einige wenige herausgegriffen werden sollen. Aus einer kognitionspsychologischen Perspektive wird bei der Worterkennung zwischen lexikalischen Prozessen unterschieden, bei denen üblicherweise ein Wort als Ganzes direkt erkannt (= dekodiert) wird. Damit verbunden sind auch der semantische Gehalt und die Aussprache unmittelbar zugänglich (sog. direkte Route im Dual Route Cascaded Model; Coltheart, Rastle, Perry, Langdon & Ziegler, 2001). Demgegenüber muss, wenn die Wortform (noch) nicht als Ganzes bekannt ist, das Lesen über die nicht lexikalische, indirekte Route erfolgen. Dieser Prozess basiert auf der mühsamen Umwandlung von Graphemen in Phoneme, um die Lautstruktur eines geschriebenen Wortes zu erschließen (sog. phonologische Rekodierung). Erst das anschließende Wiedererkennen dieser Lautstruktur ermöglicht schließlich auch den Zugang zum semantischen Gehalt, also der Bedeutung des Wortes. Die Schwierigkeiten und Anstrengungen dieses Prozesses der Wiedererkennung kann man beim Lesen eines englischen Textes, der in phonetischer Schrift notiert ist, an sich selbst ausprobieren. Die Worterkennung im Rahmen dieses Konversionsprozesses ist nicht automatisiert, deshalb sehr fehleranfällig und mit erheblicher Beanspruchung von Arbeitsgedächtnisressourcen verbunden. |3|Da Kinder zu Beginn des Schriftspracherwerbs noch über kein Lexikon für Wortformen verfügen, dominiert in dieser Phase das Lesen über die indirekte, nicht lexikalische Route. Daher haben phonologische Prozesse zunächst einen bedeutsamen Stellenwert beim (Er-)Lesen von Wörtern. Mit zunehmender Automatisierung findet ein Shift hin zur automatisierten Erkennung von Wörtern statt, und der effizientere Abruf aus dem Gedächtnis dominiert den Leseprozess (Sheriston, Critten & Jones, 2016), nicht nur beim lauten, sondern auch beim stillen Lesen. Weniger häufige oder noch unbekannte Wörter werden – wie auch Pseudowörter – dagegen auch weiterhin über die Graphem-Phonem-Konversion erschlossen, und dabei spielen die phonologischen Fähigkeiten der Leserinnen und Leser eine große Rolle. Da insbesondere Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung (LRS) häufig Probleme bei der Verarbeitung phonologischer Informationen haben, wird das Erlesen von Wörtern über die indirekte Strategie maßgeblich behindert, sodass folglich auch nur schwer eine Automatisierung stattfinden kann. Man findet in der Literatur für diese Gruppe an Kindern auch die Bezeichnung tiefe oder phonologische Dyslexie. Sind Leseprobleme eher darin begründet, dass kein Wortgedächtnis aufgebaut wird, so wird gelegentlich von einer Oberflächendyslexie gesprochen. Beide Phänomene lassen sich auf der Basis des Dual Route Cascaded Model am Computer simulieren (Ziegler et al., 2008). Die empirischen Validitätsbelege für diese Unterscheidung von Subtypen und ihre längsschnittliche Validität sind jedoch eher mittelmäßig (Peterson, Pennington, Olson & Wadsworth, 2014). Das Erkennen geschriebener Wörter wird in einigen Theorien als eine zentrale Teilfähigkeit des Lesens angesehen, die zusammen mit dem allgemeinen Sprachverständnis das Leseverständnis dominiert. Ein Beispiel für solch ein Modell ist das Komponentenmodell von Joshi und Aaron (2000), eine Erweiterung der Simple View of Reading („Einfache Sicht auf das Lesen“, Gough & Tunmer, 1986). Die Simple View definiert das Leseverständnis als das Produkt aus Dekodierfähigkeit und Hörverständnis. Letzteres ist wiederum von vielen anderen grundlegenden kognitiven Fähigkeiten abhängig, wie zum Beispiel Wortschatz und Arbeitsgedächtnis (Lervåg, Hulme & Melby-Lervåg, 2018), worüber die Simple View selbst jedoch keine Aussage trifft. Das Komponentenmodell (Joshi & Aaron, 2000) baut auf der Simple View auf und fügt einen Geschwindigkeitsfaktor hinzu. Diese Ergänzung basiert auf Messungen der Wortdekodierung bei Kindern der dritten Klasse und verbessert die Vorhersage des Leseverständnisses maßgeblich. Beide Modelle treffen jedoch keine Aussagen darüber, wie der Leseprozess auf Wortebene abläuft oder wie sich diese Fähigkeit entwickelt. Da sie...