E-Book, Deutsch, 446 Seiten
Riemann Entscheidung für das Glück
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7565-7115-4
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 446 Seiten
ISBN: 978-3-7565-7115-4
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ralf steht Mitte der 1980er Jahre an der Schwelle zum Erwachsenwerden, als er sich in Viktoria, die Freundin eines Freundes, verliebt. Obwohl sie seine Gefühle erwidert, beendet sie ihre bestehende Beziehung nicht. Nach vielen Jahren einer unerfüllten Liebe, kommt es zum endgültigen Bruch zwischen den beiden. Jetzt ist Ralf bereit, sich auf andere Frauen einzulassen. Doch Elena, in die er sich Hals über Kopf verliebt, ist ebenfalls nicht alleinstehend. Auch in den folgenden Jahren ist ihm kein Happy End beschieden. So fasst er den Entschluss, eine mysteriöse Agentur zu kontaktieren, die ihm bei seinem größten Wunsch, einem Leben in Liebe und Glück, behilflich sein soll. Aber zu welchem Preis?
Frank Riemann, Jhrg. 1967, lebt mit Frau und Tochter im Ruhrgebiet. Zu seinen Werken gehören drei Romane, zwölf Kurzgeschichten und ein Kinderbuch.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Vor 15 Jahren
Als sie in den Kellerraum der Gaststätte hereinplatzte, kegelten wir gerade.
Ich war etwa siebzehn Jahre alt und, anders als meine Freunde, hatte ich mit Alkohol noch nichts zu tun. »Sieh zu, dass du endlich achtzehn wirst«, sagte Karsten immer zu mir. »Dann kann ich auch endlich trinken, dann kannst du nämlich fahren.« Karsten Beckhoff war der Älteste von drei Brüdern, zu denen noch Ludger und Matthias gehörten, die ebenfalls mitkegelten. Das taten wir alle vier Wochen. Außer mir kam noch ein weiterer Freund hinzu, Paul Spellbrink, der des Öfteren einen Hub aus seinem Aspirator nehmen musste, da er unter Asthma litt, und der immer eine ganze Batterie an Papiertaschentüchern mit sich führte, weil er zu allem Unglück auch noch alle Allergien hatte, die man sich vorstellen konnte. Er war der beste Freund und liebste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Es war die Zeit, als wir uns alle vier Wochen freitags trafen, die anderen unseres Clubs sich betranken und wir uns über unsere eigene Unfähigkeit, kegeln zu können, lustig machten. Oder wir kamen am Wochenende zu einem Videoabend zusammen. Als die ersten Freunde Videorekorder besaßen, mussten die Mütter in der Videothek Zombiefilme ausleihen, da wir selber noch nicht ganz volljährig waren; und dann, als wir es waren, liehen wir uns die ersten Pornofilme aus. Es war die Zeit, als eine Party aus einer Kiste Bier, einer Flasche Schnaps und Heavy Metal Musik bestand und mindestens zwei Mal am Abend die Polizei vor der Tür stand, weil sich die Nachbarn über den Lärm beschwert hatten. Mit schaukelndem Kopf und wehenden langen Haaren, die ich mir aber schon nach der sechsten Klasse wieder hatte abschneiden lassen, dröhnten die anderen sich zu und nur, wenn sich mindestens die Hälfte der Anwesenden auch wieder erbrochen hatte, war die Fete wirklich gut. Es war die Zeit, als der Älteste in der Clique, die aus mehr Kumpeln bestand, als nur dem Kegelclub, ganz stolz als Erster mit seinem eigenen Wagen vorfuhr und wir zu sechst oder zu siebt in dieser kleinen Schaukel zur nächsten Kneipe oder Disco kutschierten. Es war die Zeit, als die eigenen Eltern nachts voller Sorge durch die Straßen zogen auf der Suche nach uns Kindern, weil wir zum ersten Mal nicht am Abend nach Hause gekommen waren, sondern erst um halb fünf am nächsten Morgen, nach einer langen Nacht in der örtlichen Gaststätte. Wir waren nicht die Art von Clique, in der sie alle in Tuchhosen, Lackschuhen und Seidenhemden an jedem Wochenende in irgendeiner Edeldisco Mädchen aufrissen, auch wenn sich das bei einigen später geändert haben mag. Wir trugen Jeans, Turnschuhe und T-Shirts, ein ernsthaftes Interesse am anderen Geschlecht ließ bei Vielen von uns noch auf sich warten und die Freizeit in unserem Bekanntenkreis bestand nicht darin, zu flirten, sondern zu saufen. Ob bei Trinkspielen in der Kneipe, ob bei Lambrusco im Keller, einer Kiste Bier auf einem Spielplatz oder einer Dose auf der Hand war egal. Hauptsache, wir konnten ausfechten, wer am meisten vertrug und wie viel das war. Als die ersten Freunde dann eine eigene Wohnung hatten, brauchten wir uns nicht mehr herumzutreiben. Ich muss wohl nicht beschreiben, wie diese Wohnungen ausgesehen haben, wenn dort jeden Tag getrunken und an den Wochenenden richtig Party gemacht wurde. Es war aber auch die Zeit, als uns dämmerte, was Freundschaft war. Was es bedeutete, ein Freund zu sein. Einige dieser Freundschaften bestanden sehr viele Jahre bis ins Erwachsenenalter hinein. Der Kumpel oder der Kollege zu sein, hieß nicht nur einem zu helfen die Bierkiste hochzutragen, sondern auch sich gegenseitig beizustehen. Wir begannen damit, gemeinsam in den Urlaub zu fahren, und man spürte, dass da eben mehr war, als nur der Saufkumpan eines anderen zu sein. Obwohl sich die Begriffe Kumpel und Kollege lange gehalten hatten, niemand wollte als schwul oder weich gelten, weil er einen Freund hatte, begann sich etwas zu verändern in den Beziehungen untereinander. Etwas, über das niemand sprach, denn auch über seine Gefühle zu reden war ja für harte Jungs, wie uns, verboten. Aber etwas zwischen uns wurde inniger. Freilich dauerte es noch Jahre, bis man sich und anderen eingestehen konnte, dass man nicht nur Frauen liebte, sondern auch seinen besten Freund lieb hatte. Aber damals begann es. Ein oder zwei von uns hatten zu der Zeit schon eine Freundin. Karstens Freundin lernte ich kennen, als sie in unseren Kegelclub stürzte.
Ludger verpasste die Möglichkeit, seinen schlechten ersten Wurf durch einen besseren zweiten auszugleichen. Die grüne Kugel torkelte mehr, als dass sie rollte, durch die rechte Gosse, bis sie am Ende der Kegelbahn mit einem Poltern in den Schacht fiel. Ludger trat vor die holzvertäfelte Wand, raufte sich seine dünnen Haare, drehte sich um die eigene Achse, wobei er in seinem angetrunkenen Zustand beinahe stürzte und schrie: »Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Alle am schmalen Tisch kicherten. Ich feixte: »Fast wäre die Kugel noch verhungert und gar nicht hinten angekommen.« Aus dem Kichern wurde ein allgemeines Gelächter. Matthias, der Jüngste der drei Beckhoffs, setzte hinzu: »Jau, dann hätte man ganz gemütlich losgehen und ihm die Kugel wiederbringen können, ganz langsam«, wofür er einen wütenden Blick seines Bruders erntete. Zwischen den Dreien bestand immer eine gewisse unausgesprochene Rivalität. »Dann hätte er sogar noch eine Runde ausgeben müssen«, schloss er stockend zwischen einzelnen Lachern. Nun wurde das Gelächter zu einem Grölen, welches den engen Raum erfüllte. Plötzlich flog die Tür auf, ein Mädchen, etwa in unserem Alter, platzte herein, nicht nur in den Raum, sondern auch in unsere Männerrunde, was damals alleine schon zur Steinigung gereicht hätte, drängte sich an Paul und Matthias vorbei, baute sich vor Karsten auf, stemmte die Hände in die Hüften und keifte ihn an. Die genauen Worte konnte man aber wegen des immer noch anhaltenden Gelächters nicht verstehen. Nur Karsten hatte sich augenblicklich wieder in der Gewalt. Der Moment, bis sich alle wieder gesammelt hatten, reichte mir, um das Mädchen zu betrachten. Alles in allem war sie hübsch, keine Frage, sehr hübsch sogar, aber es gab Stellen, die nicht hundertprozentig waren, um als perfekt zu gelten. Ihre Oberschenkel waren ein klein wenig zu dick, ihre Brüste waren etwas zu flach, ihre blonden Haare waren vorne im Gesicht länger, als hinten im ausrasierten Nacken und ihre Nase hatte einen winzigen Höcker. Ich sah, wie aufgeregt sie war und wie sehr sie geweint hatte. Das Tohuwabohu über den letzten Wurf hatte sich gelegt und einem anderen Platz gemacht. Ludger setzte sich wieder neben mich, ich beugte mich rüber an sein Ohr und fragte leise: »Ist das Karstens Freundin?« Ebenso gedämpft bekam ich die gemurmelte Antwort: »Ja, das ist Viktoria.« »Karsten Beckhoff«, fuhr sie meinen Freund an, »das kannst du mit mir nicht machen!« Die Tränen hörte man ihr an. »Wieso willst du mich nicht mehr sehen? Wieso willst du Schluss machen? Und so ohne Erklärung.« Auch wenn sie schluchzend sprach, war nun doch jedes Wort deutlich zu vernehmen, denn außer ihrer Stimme hatte sich betretenes Schweigen im Raum ausgebreitet. Da kam ein Mädchen und machte meinem Freund Vorhaltungen, weil er anscheinend keinen Bock mehr auf sie hatte. Mein Gott, war mir das peinlich. »Ich will wenigstens wissen, wieso?«, jammerte sie. Außer mir wussten anscheinend alle anderen auch nicht so recht, wohin sie schauen und wie sie sich verhalten sollten. Nur Karsten blieb ganz ruhig. Gelassen sprach er mit seiner tiefen Stimme zu seiner Freundin: »Schau dich doch mal bitte um, was du hier abziehst. Wir reden morgen darüber, okay?« Er war beherrscht und im Gegensatz zu seinen Brüdern, hatte ich ihn nie anders kennengelernt. Jetzt schien Viktoria aufzugehen, wo sie hier hereingerauscht war. War sie zuvor nur von dem Gedanken beseelt gewesen, Karsten zur Rede zu stellen, ganz gleich, wo er sich befand und was er gerade tat und mit wem, hatte ich nun den Eindruck, ihr war die ganze Sache genauso peinlich, wie uns. Eine Träne lief ihr über die Wange, sie wischte sie mit der rechten Hand fort und schaute uns einen nach dem anderen an und durch uns hindurch. Dann bekamen ihre blauen Augen einen trotzigen Ausdruck, als wenn es ihr egal war, ob sie sich blamiert hatte, oder nicht. Sie sah aus, wie: Ihr könnt mich doch alle mal. Obwohl sie vielleicht gar nicht nachgedacht hatte, was sie da tat, wurde mir Jahre später klar, wie mutig es von ihr war, Karsten vor seinen Freunden zur Rede zu stellen. Abrupt wandte sie sich um und stürzte, Paul und Matthias auf ihren Stühlen anrempelnd, von der Kegelbahn, wie sie gekommen war. Ob sie sie mit voller Absicht anstieß oder weil der Raum so eng war, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls war es ihr egal. Der ganze Auftritt hatte vielleicht gerade einmal eine Minute gedauert. So stürmte Viktoria Khalimova aus dieser Szene und in mein Leben. Karsten und Viktoria trennten sich nicht, zumindest noch nicht. Aus Gründen, die ein Psychologe besser erklären könnte als ich, wurden sie für mich so etwas wie eine Art Ersatzfamilie. Irgendwie habe ich mir immer eine Ersatzfamilie gesucht, obwohl wir zu Hause fünf Personen waren und schon als Großfamilie galten. Aber wenn diese Familie halt nicht funktionierte.
Mein kleiner, sechs Jahre jüngerer Bruder Peter, war für mich natürlich lange Jahre ein kleines Kind. Je älter wir wurden, desto unwichtiger wurde der Altersunterschied, aber als...