Riess Herr Groll und der rote Strom
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-7013-6170-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 277 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6170-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Morgengrauen strandet die Leiche einer jungen Frau auf einer Schotterbank. Drei vermögende Herren verfallen in Panik, und ein herzkranker Daubelfischer übernimmt sich mit einem Erpressungsversuch. Mit Hilfe seines Freundes, des Dozenten, versucht Groll, einer höheren Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Erwin Riess komponiert eine packende Story um die scharfe Klassentrennung in der Donaumetropole. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise entfaltet sich zwischen den Nobelbezirken Hietzing und Döbling und den Arbeiterbezirken an der Donau ein erbitterter Kampf um sexuelle und ökonomische Macht, bürgerliche Reputation und existentielle Würde. Was geschieht, wenn die Angehörigen der unteren Stände ihren Anteil am Glück einfordern und dabei vor ungewöhnlichen Mitteln nicht zurückschrecken, davon weiß Erwin Riess mit Realismus und Witz zu erzählen. In guter Tradition der bisherigen Groll-Romane sind die zum Teil haarsträubenden Unternehmungen der Protagonisten in einen steten Fluss teils skurriler, teils scharfsichtiger Erörterungen der Welträtsel eingebettet. Und nicht zufällig ist es der große Strom, der die Entscheidung herbeiführt. Eine Kriminal-Groteske, packend von der ersten bis zu letzten Seite.
Erwin Riess geboren 1957, Studium der Politik- und Theaterwissenschaft in Wien, verschiedene Tätigkeiten, Rollstuhlfahrer seit 1983, seit 1994 freier Schriftsteller, Aktivist der Behindertenbewegung. Zwölf Theaterstücke, zuletzt 'Der Don Giovanni-Komplex' (Mozartjahr/Wiener Festwochen 2006), Hörspiele, Drehbücher, Prosa.
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel
Eine Versorgungsfahrt mit Bedacht und eine Wasserleiche in Rot.
Ein Oberlehrer ohne Namen und ein Jugendamt in Sorge An einem schwülen Junitag fuhr ich mit meinem klapprigen Renault 5 den Treppelweg bei Stromkilometer neunzehnhundertachtzig bergwärts. In den Alpen hatte es tagelang geregnet, die Donau würde in den kommenden Stunden die Hochwassermarke überschreiten. Die Sonne war durch den Dunst gebrochen, eine steife Brise strich vom Osten her über den Strom und wirbelte weiße Gischtwolken über die Fahrrinne. Es roch nach frischer Erde und moderndem Holz, und in der Luft tanzten weiße, klebrige Flocken – Pappelblüten. Sommerschnee sagen die Menschen am Strom dazu, je dichter der Sommerschnee, desto zarter die Fische und desto fruchtbarer das Land. Ist die Natur freigebig, reagieren die Menschen mit Geiz und Neid. Einige erfreuen sich aber auch am Müßiggang. Ich gehöre weder der einen noch der anderen Gruppe an und sah den kommenden Wochen mit Zuversicht entgegen. Es würde ein guter Sommer werden. Mit regem Schiffsverkehr, dem einen oder anderen Karpfen aus Horsts Daube, und vielleicht würden Juri und ich Glück haben und einen schönen Hecht an Land bringen, den wir über dem offenen Feuer braten könnten. Eine kleine Rauchfahne würde aufsteigen und zum Fluß hinunterziehen, und es würde eine träge Schwüle über allem hängen, die abends aus dem Auwald kriecht und erst nach Mitternacht verdampft. In manchen Nächten würde die Schwüle bleiben, und es würden gute Nächte sein, in denen die Vögel aufgeregt plappern, wenn sie den Mond wie ein weißes Schild über der schwarzen Phalanx der Pappeln sehen. Musikdampfer und Kreuzfahrtschiffe würden vorüberrauschen, mit bunten Lampions und Girlanden am Tanzdeck, und Musikfetzen würden mit der Heckwelle mitgeschleppt werden und ans Ufer streifen. Und man würde eine Ahnung davon bekommen, daß es noch eine Welt jenseits aller heimischen Spinner, Krisengewinnler und Möchtegern-Nazi gibt, eine bunte Welt mit anmutigen Bewegungen, klirrenden Gläsern und übermütigem Lachen. Ich fuhr langsam, um meine wertvolle Ladung, vierzehn Doppelliter Wein und einen Korb voll paniertem Fleisch vom Heurigenbuffet, nicht zu gefährden. Zwei Selbstfahrer rauschten mit vollem Schub talwärts, ein Produktentanker aus Belgien und ein kleineres Schiff aus Heilbronn. Es hatte den Anschein, als würde das leichtfüßige kleinere Schiff auf den schwer beladenen Kollegen aufschließen, wohl um die nach der nächsten Biegung folgende Geradeausstrecke für ein Überholmanöver zu nutzen. Lange schaute ich den Schiffen nach, bis mein Blick an einem ungewohnten Bild hängenblieb. Auf einer hoch gelegenen Schotterbank am südlichen Ufer hatten einige Feuerwehrzillen angelegt, und im Kehrwasser dümpelte ein Schnellboot der Strompolizei. Auf der Schotterbank standen Uniformierte im Halbkreis. Ich stoppte und setzte meinen Feldstecher an. Die Männer umringten einen leblos daliegenden Körper, der mit einem leuchtendroten Fetzen nur halb bedeckt war. Einer der Uniformierten hielt einen roten Stöckelschuh in der Hand. Ich schaltete mein Diktaphon ein, nannte Datum und Uhrzeit und sprach: „Katrin und Innovatie talwärts, weibliche Wasserleiche auf Schotterbank.“ Die Frau war nicht bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen, dessen war ich mir sicher. Da hatte jemand eine Überdosis erwischt oder war von der Unterwelt beseitigt worden. Ein gemähtes Rasenstück in saftigem Grün, eine niedergelassene Daube im Wasser. Ein altes Moped, ein Kaps, ein rostiges Damenfahrrad, ein Handrasenmäher. Auf der Veranda Rosenstöcke in allen Farben, an der Außenwand ein Steuerrad und zwei Rettungsringe aus Kork. Die Schrift auf den Ringen unleserlich. Eine Fischerhütte, wie sie zu Hunderten den Lauf der Donau säumen. Für mich aber war diese Hütte mein zweites Zuhause; kein Nagel und keine Pfanne, die nicht von mir im Lauf der Jahre angekarrt worden waren. Und die weit geschwungene Naturrampe, die Horst noch am Tag unserer ersten Begegnung zu bauen begonnen hatte, zähle ich zu den Weltwundern. Die Sitzbank vor der hochgekurbelten Daube war leer. Horst hatte die weiße Lederbank aus einem Citroën DS 21 ausgebaut, während der Besitzer in der Prater Hauptallee laufen war. Wäre er schneller gelaufen, hätte er seine Göttin gerettet. Er habe sich beim Ausbauen sehr geplagt, bekannte Horst damals; bei einem Citroën sei alles kompliziert, selbst die Verankerung der Sitzbänke. Das war noch in Horsts großer Zeit gewesen; er schuftete damals als Kesselwärter in einem Heizkraftwerk, und in der Freizeit machte er die Wettbüros von Floridsdorf unsicher. Seine Mutter, eine kleine und zähe Person mit einem großen Herzen für ihren wilden Buben, hatte Horst solange es ging unterstützt. Aber eines Tages kippte die betagte Frau in ihrem Schrebergarten um. Als sie im Spital erwachte, konnte sie sich nicht mehr bewegen und erkannte niemanden. Horst besuchte sie alle vierzehn Tage im Pflegeheim, und immer brachte er frische Blumen vom Donauufer und die Bezirkszeitung mit, aus der er ihr dann vorlas. Sie hat sich immer für Weltpolitik interessiert, sagte Horst, da soll sie im Alter nicht darauf verzichten müssen. Juri nahm er nur mit, wenn der Junge heftig darum bat. Mit dem Elend im Heim soll der Bub nicht allzu oft konfrontiert werden, meinte Horst, es reicht schon, wenn er mich Tag für Tag vor Augen hat. Wahrscheinlich schläft Horst in der Hütte, dachte ich. Er trinkt ja nicht nur Unmengen von Wein, sondern nimmt auch starke Medikamente für sein kaputtes Herz, da schläft man viel. Ich stellte den Motor ab, um Horst nicht aufzuwecken. Da fiel mein Blick auf Juri, der, vom nördlichen Ufer kommend, mit einer Zille die Donau querte. Juri verwendete ein Stechpaddel, er stellte die Zille in einen Fünfundsiebzig-Grad-Winkel und ließ die Strömung die Hauptarbeit verrichten. Die Zille wurde kaum abgetrieben. Mit Freude beobachtete ich die perfekte Technik des Jungen. Im Kehrwasser der kleinen Schotterbank neben Horsts Daube angelangt, fuhr Juri mit eleganten Paddelschlägen ein wenig stromauf, landete bei der Daube an und band die Zille an einer Weide fest. Behende sprang der Bub die Böschung hinauf. In einer Hand hielt er einen Dreizack und in der anderen einen Leinenssack, aus dem Wasser troff. „Wie viele?“ rief ich. „Zwei Weißfisch“, sagte Juri keuchend. Seine schwarzen Haare glänzten in der Sonne. „Wir kriegen Hochwasser“, sagte der Bub. „Dann ist’s mit dem Fischen vorbei.“ „Ich hab Nachschub gebracht. Wo ist Horst?“ „Beim Nachbarn. Steigst du nicht aus?“ „Bin spät dran. Muß zur Arbeit.“ Juri schleppte den Wein, das Essen und die Betablocker für Horst in die Fischerhütte. Ein Polizeiboot fuhr langsam stromaufwärts, an der Reling stand ein Beamter und suchte durchs Fernglas die Ufer ab. Als er meinen Wagen sah, winkte er. Ich grüßte zurück. Im Gegensatz zur gewöhnlichen stand ich mit der Strompolizei auf Duzfuß. Dafür gab es einen guten Grund: Ich mußte jährlich die Genehmigung zum Befahren des Treppelweges einholen. Es war streng verboten, den filigranen Damm mit einem Auto zu befahren, es gab schon gar keinen Rechtsanspruch darauf, Rollstuhlfahrer hin oder her. Die Genehmigung war ein Entgegenkommen der Beamten. Ohne das Einverständnis von Strompolizei und Wasserstraßendirektion hätte ich die Versorgung von Horst und Juri nicht aufrechterhalten können. Somit empfahl es sich, mit der Behörde nicht nur pfleglich umzugehen, sondern den Beamten auch die eine oder andere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Im Laufe der Zeit hatte ich manch nützlichen Hinweis parat gehabt; die Strompolizisten wußten es zu schätzen, daß es noch Menschen gab, die sich für die Vorgänge am Fluß interessierten. Manchmal tat auch meine Freundin Anita das Ihre, die Beamten gnädig zu stimmen, aber das sah ich nicht gern. Ich fürchtete, dadurch einem Preisverfall für Anitas Leistungen Vorschub zu leisten, und was Anitas Tauschwert anlangte, war ich ein strikter Anhänger der Grenznutzenlehre der Wiener Schule der Ökonomie. Wenn ein erklecklicher physischer Nutzen keine Zahlung, sondern nur ein bürokratisches Entgegenkommen auslöste, war die Grenze zur Liebhaberei überschritten, und in der Ökonomie gibt es nichts Schlimmeres. Noch dazu, wo Anita allen Grund hatte, ökonomische Disziplin zu wahren, um ihre Schulden abzustottern. Juri kehrte aus der Hütte zurück. Er ging neben dem Wagen in die Hocke und hielt sich am Fenster an. „Letzte Nacht war der Vater weg“, sagte er leise. „Beim Nachbarn war wieder Herrenabend. Und wie er zurückgekommen ist, hat er auf der Veranda Schnaps getrunken. Eine halbe Flasche Barack. Das ist nicht gut fürs Herz!“ Ich schaute zur Nachbarhütte, die den Namen Hütte längst nicht mehr verdiente. Das Gebäude war die Designerausgabe einer Fischerhütte, mit Solarzellen, Designermöbeln und Designerrasen. Eine dunkle Benz-Limousine stand auf dem Rasenstück, das sich weit neben dem Treppelweg dahinzog und sorgsam gepflegt war. Von...