Buch, Deutsch, Band 10, 322 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 403 g
Buch, Deutsch, Band 10, 322 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 403 g
Reihe: Mannheimer Jahrbuch für Europäische Sozialforschung
ISBN: 978-3-593-38181-7
Verlag: Campus Verlag GmbH
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Inhalt
Vorwort. 9
Theorie und Vergleich
Das Rätsel der Konstitutionalisierung
Wie aus der Europäischen Union ein Verfassungsstaat wurde
Berthold Rittberger und Frank Schimmelfennig. 15
Die Konstitutionalisierung der Europäischen Union
Eine qualitativ-vergleichende Analyse
Frank Schimmelfennig, Berthold Rittberger, Alexander Bürgin und Guido Schwellnus. 41
Gemeinschaftsbildung
Konstitutionalisierung durch Erweiterung
Die konfliktreiche Entstehung der demokratischen Identität in der EU
Daniel C. Thomas. 73
Geschichtlichkeit und Gemeinschaftsumwelt
Was strukturiert den Konstitutionalisierungsprozess?
Stefan Seidendorf. 101
Parlamentarisierung
'No integration without representation!'
Parlamentarische Demokratie, Europäische Integration und die beiden vergessenen
Gemeinschaften
Berthold Rittberger. 139
Die Legitimität einer erweiterten und vertieften EU
Normative Standards als Verhandlungsressource im Verfassungskonvent
Alexander Bürgin. 165
Menschen- und Bürgerrechte
Konkurrenz und Gemeinschaft
Verfassungsgerichte, rhetorisches Handeln und die Institutionalisierung von
Menschenrechten in der Europäischen Union
Frank Schimmelfennig. 195
Wirken Ursachen als Gründe?
Nichtdiskriminierung, Minderheitenrechte und soziale Rechte im Konvent zur EUGrundrechtscharta
Guido Schwellnus. 221
Die Rechte von Drittstaatsangehörigen im Konstitutionalisierungsprozess
Sandra Lavenex. 249
Die Kontrolle der Kontrolleure
Der Europäische Konvent und die Vergemeinschaftung der polizeilichen
Kooperation
Wolfgang Wagner. 273
Kommentare
Die Schamlosen beschämen?
Die Konstitutionalisierung der Europäischen Union
R. Daniel Kelemen. 301
Fakt oder Artefakt
Die Untersuchung von grundlegenden Verfassungsnormen jenseits des Staates
Antje Wiener. 311
Autorinnen und Autoren. 319
Das Rätsel der Konstitutionalisierung
Wie aus der Europäischen Union ein
Verfassungsstaat wurde
Berthold Rittberger und Frank Schimmelfennig
Der Begriff der Konstitutionalisierung ist nicht erst seit der jüngsten Diskussion über eine europäische Verfassung zu einem der Schlagwörter in der Literatur zur europäischen Integrationsforschung avanciert. Meist findet der Begriff der Konstitutionalisierung im Zusammenhang mit dem Prozess der Rechtsintegration in der EU Verwendung. Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass im Laufe der vergangenen Jahrzehnte das europäische Gemeinschaftsrecht eine Qualität erlangt hat, die mitunter als
'quasi-föderal' umschrieben wird (Haltern 2005: 260). Dem Gemeinschaftsrecht wird somit nicht nur attestiert, 'Bestandteil der
mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen' geworden zu sein, sondern auch innerhalb der nationalen Rechtsordnungen als normenhierarchisch höher angesiedeltes Recht zu fungieren (Haltern 2005: 260). Gemeinschaftsrecht ist demnach nicht mehr ›nur‹ Völkerrecht, sondern eine Rechtsordnung mit Verfassungsqualität, die weit in nationale Rechtssysteme hineinwirkt
(Weiler 1999, Stone Sweet 2000). Politikwissenschaftler und Rechtswissenschaftler haben sich mit diesem Phänomen extensiv auseinandergesetzt und es unter Rückgriff auf unterschiedliche Integrationstheorien – zu nennen wären insbesondere intergouvernementalistische und supranationalistische Ansätze – zu erklären versucht. In der jüngsten Vergangenheit ist eine Ausweitung des Konzepts der Konstitutionalisierung in der wissenschaftlichen Debatte zu beobachten: Konstitutionalisierung beschränkt sich demnach nicht allein auf das Phänomen der Rechtsintegration, sondern umfasst all diejenigen Prozesse, die der Rechtsordnung der EU Verfassungsqualität zuweisen (Snyder 2003). Es existiert ein grundlegender normativer Konsens darüber, dass die
Verfassung eines liberal-demokratischen Staates sich an folgenden Prinzipien orientieren sollte: Garantie und Sicherung von Grundrechten, Verhinderung von Machtmissbrauch durch Gewaltenteilung sowie – in der Regel – die Repräsentation der Bürger durch gewählte Parlamente (Wiener 2005). Wird Konstitutionalisierung in diesem erweiterten Sinne gefasst, lassen sich unter dem Begriff unter anderem Arbeiten zur Institutionalisierung von Grundrechten in den Gemeinschaftsvertrag subsumieren, wie beispielsweise der Fall der Grundrechte-Charta (Sadurski 2003) oder die Ausbildung einer Parteiendemokratie auf europäischer Ebene (Day und Shaw 2003). Die Beiträge in diesem Band gehen von einem solchen erweiterten Begriffsverständnis aus und richten ihr Augenmerk
insbesondere auf zwei Prozesse der Konstitutionalisierung: der Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments (Parlamentarisierung) und der Institutionalisierung von Menschenrechten auf der europäischen
Ebene. Die Parlamentarisierung und Institutionalisierung von Menschenrechten stellen Konstitutionalisierungsprozesse dar, die für die Entwicklung des modernen liberal-demokratischen Verfassungsstaats grundlegend sind. Die Beiträge zu diesem Band zeigen eindrücklich, dass diese Konstitutionalisierungsprozesse allerdings nicht auf den national organisierten Verfassungsstaat
beschränkt sind. In der EU hat das Europäische Parlament in den vergangenen fünfzig Jahren eine eindrucksvolle Entwicklung durchlaufen
(siehe Rittberger 2005). Während die Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegenüber der Hohen Behörde ausschließlich eine Kontrollbefugnis innehatte, ist das Europäische Parlament mittlerweile zu einem direkt gewählten 'Ko-Gesetzgeber' (Tsebelis und Garrett 2000) aufgestiegen, der in einer Vielzahl an Politikbereichen im Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft auf gleicher Augenhöhe mit dem Rat verhandelt. Während in den Gründungsverträgen noch kein gemeinschaftlicher Grundrechtsschutz verankert war, hat der Europäische Gerichtshof seit den sechziger Jahren in seiner Rechtsprechung regelmäßig
Institutionalisierung von Grundrechten auf der EU-Ebene hat durch die Verabschiedung der Grundrechte-Charta im Jahr 2000 und deren
Integration in den Verfassungsvertrag – trotz dessen Scheiterns – jüngst einen Höhepunkt erlebt. Die Dynamiken der beiden genannten
Konstitutionalisierungsprozesse auf europäischer Ebene laufen allerdings konträr zu den Prozessen der Parlamentarisierung und Institutionalisierung von Menschenrechten auf nationalstaatlicher Ebene. Die Konstitutionalisierung der Nationalstaaten stellte einen Prozess dar, der vor allem durch gesellschaftliche Kräfte vorangetrieben wurde und sich durch zivilen Protest oder gar politische Umstürze und äußere Interventionen auszeichnete, während Konstitutionalisierungsprozesse in der EU in erster Linie 'von oben' – durch politische Eliten – vorangetrieben werden. Ziel dieses einleitenden Kapitels ist es, die Dynamiken und Mechanismen der Konstitutionalisierung in der EU zu identifizieren und Hypothesen bezüglich deren Wirkmächtigkeit zu generieren: Wann und unter welchen Umständen sind Parlamentarisierungsschritte in der EU zu erwarten? Unter welchen Bedingungen ist eine weitere Institutionalisierung von Menschenrechten auf der EU-Ebene zu erwarten? Im Folgenden zeigen wir, dass Erklärungen dieser beiden Konstitutionalisierungsphänomene, die auf rationalistische und konstruktivistische Erklärungskonzepte zurückgreifen, hier vor einem theoretischen Rätsel stehen. Um dieses theoretische Rätsel zu lösen, wählen wir einen Ansatz, der Konstitutionalisierung als 'strategisches Handeln in einer Gemeinschaftsumwelt' analysiert (Schimmelfennig 2001, 2003). Diesem Ansatz folgend können politische Akteure liberal-demokratische Werte und Normen, die für die internationale Gemeinschaft in Europa konstitutiv sind, strategisch einsetzten, um moralischen und sozialen Druck auf die Gegner weiterer Konstitutionalisierungsschritte auszuüben. Um dieses Argument schrittweise zu erarbeiten, wählen wir folgende Vorgehensweise: In einem ersten Schritt werden wir darstellen, warum die bestehenden rationalistischen und konstruktivistischen Erklärungsangebote Konstitutionalisierungsprozesse in der EU nur unzureichend
zu erklären imstande sind. In einem zweiten Schritt stellen wir den Ansatz des strategischen Handelns in einer Gemeinschaftsumwelt als alternative, erklärungskräftigere theoretische Perspektive dar.