Rödder 21.0
4. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-68247-6
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine kurze Geschichte der Gegenwart
E-Book, Deutsch, 494 Seiten
ISBN: 978-3-406-68247-6
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;3
4;Über den Autor;3
5;Impressum;4
6;Widmung;5
7;Inhalt;7
8;Eine Geschichte der Gegenwart – ist das möglich?;11
9;I. Welt 3.0;18
9.1;1. Eins und Null: Die digitale Revolution;18
9.2;2. Vernetzte Wirklichkeiten;28
9.3;3. Schneller, höher, stärker;32
9.4;4. Schöne neue Welt?;35
10;II. Global Economy;40
10.1;1. Die erste Globalisierung und ihre Feinde;41
10.2;2. Neoliberalismus?;47
10.3;3. Die zweite Globalisierung und ihre Effekte;55
10.4;4. Deutschland unter Druck;59
10.5;5. Der große Knall;62
11;III. Die Welt ist nicht genug;73
11.1;1. Die erste Energiewende;74
11.2;2. Umweltbewegung im Zielkonflikt;75
11.3;3. Die deutsche Energiewende und der Klimawandel;81
12;IV. Die Ordnung der Dinge;94
12.1;1. Kulturschock 1973;96
12.2;2. Der wichtigste Denker des späten 20. Jahrhunderts;100
12.3;3. Zahlen, Zahlen, Zahlen: Das marktradikale Modernisierungsparadigma;108
12.4;4. Die Kultur der Inklusion;116
12.5;5. Gott und die Welt;127
13;V. Wo zwei oder drei;142
13.1;1. Haben und Sein: Die Konsumgesellschaft;143
13.2;2. Oben und unten: Arm und reich;148
13.3;3. Drinnen und draußen: Migration und Integration;161
13.4;4. Alt und jung: Die demographische Herausforderung;173
13.5;5. Männer und Frauen? Formen des Zusammenlebens;183
13.6;6. Ost und West: Die Folgen von 1989;202
14;VI. Vater Staat;212
14.1;1. Totgesagte leben länger;212
14.2;2. Kapitalismus und Demokratie;221
14.3;3. Postdemokratie?;235
14.4;4. Interventionsstaat und Bürgergesellschaft;248
14.5;5. Modell Deutschland oder Problem Deutschland?;258
15;VII. Neues vom alten Europa;266
15.1;1. Von Athen nach Brüssel?;266
15.2;2. Von Europa I nach Europa II;280
15.3;3. Making of;297
15.4;4. Die vergessene Hälfte;309
15.5;5. Europa III? Die Euro-Schuldenkrise;318
16;VIII. Weltpolitik und Weltgesellschaft seit 1990;338
16.1;1. Die Ordnung von 1990;339
16.2;2. Ein seltsamer Hegemon;351
16.3;3. Ein unzufriedener Verlierer;355
16.4;4. Wer regiert die Welt?;362
16.5;5. Weltgesellschaft oder Machtspiel?;376
17;21.0 Resümierende Überlegungen;379
18;Dank;393
19;Verzeichnis der Abkürzungen;395
20;Anmerkungen;396
21;Benutzte Literatur (Auswahl);451
22;Abbildungsnachweise;485
23;Sachregister;486
24;Personenregister;491
Eine Geschichte der Gegenwart – ist das möglich?
Dieses Buch ist ein Abenteuer. Es versucht, die Gegenwart historisch zu erklären, eine Zeit, die der amerikanische Philosoph Mark Lilla als «unlesbar» bezeichnet hat. Denn mit dem Ende des Ost-West-Konflikts habe sich die politisch-intellektuelle Ordnung der Moderne, der Gegensatz zwischen einem linken und einem konservativen Verständnis unserer Zeit, aufgelöst.[1] Jahre zuvor hatte schon Václav Havel, der tschechische Schriftsteller, Dissident und Präsident, erklärt: «Wir genießen all die Errungenschaften der modernen Zivilisation. Doch wir wissen nicht genau, was wir mit uns anfangen, wohin wir uns wenden sollen. Die Welt unserer Erfahrungen erscheint chaotisch, zusammenhanglos, verwirrend. Experten der objektiven Welt können uns alles und jedes in der objektiven Welt erklären; unser eigenes Leben aber verstehen wir immer weniger. Kurz, wir leben in der postmodernen Welt, in der alles möglich und fast nichts gewiss ist.»[2] Der Westen, so monierte Havel, wisse mit seinem Sieg im Kalten Krieg nichts anzufangen. Was ist nach 1990 aus der Freiheit des Westens geworden? Wie hat sich der dramatische Wandel der Lebenswelten, den Digitalisierung und Globalisierung mit sich gebracht haben, auf das Denken und die politische Kultur ausgewirkt? Lassen sich aus historischer Warte Tendenzen und Konfliktlinien der Gegenwart erkennen? Bedroht der Kapitalismus die Demokratie? Ist Deutschland zu groß für Europa? Welche Rolle spielt das Ende des Ost-West-Konflikts für die internationalen Krisen des 21. Jahrhunderts, und wie fällt die Bilanz der europäischen Integration aus? Was ist neu an der Gegenwart, und was sind wiederkehrende historische Muster? Das sind die Fragen dieses Buches, und sie führen in ein wissenschaftliches Niemandsland. Es liegt zwischen der Domäne der gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und dem Terrain der Geschichtswissenschaften, die erst in Ansätzen über die Epochenschwelle von 1989/90 hinausgegangen sind[3]. Als Tony Judt 2005 den ersten größeren Anlauf unternahm, die «Geschichte Europas nach 1945» bis zur Gegenwart zu schreiben, stellte er sie ganz in den «langen Schatten des Zweiten Weltkrieges». Politische Ideologien, europäische Nationalstaaten und die Erinnerungen an den Krieg, auch und gerade nach 1990, dienten als entscheidende Kategorien seiner Deutung.[4] Andreas Wirschings 2012 erschienene Geschichte Europas seit 1990 beschreibt einen «mächtigen historischen Trend zur Konvergenz», der sich im dialektischen Zusammenhang mit immer wiederkehrenden Krisen durchgesetzt habe.[5] Ein anderes Narrativ der Nachkriegsgeschichte hat sich vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise von 2008 in der politischen Öffentlichkeit, in den Sozialwissenschaften und in der Zeitgeschichtsforschung ausgebildet: Bis in die siebziger Jahre habe ein Konsens über den keynesianisch organisierten Wohlfahrtsstaat geherrscht, der seit den achtziger Jahren durch den «Neoliberalismus», einen «digitalen Finanzmarktkapitalismus» und naive Marktgläubigkeit abgelöst und zerstört worden sei.[6] Charles Maier stellt den Niedergang der neuzeitlichen «Territorialität» seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt seiner Sicht. Dies entspricht der verbreiteten Annahme, der moderne Territorialstaat habe unter den Bedingungen von Globalisierung, Digitalisierung und Europäisierung substantiell an Bedeutung verloren.[7] Hartmut Rosa sieht die entscheidende sozial-kulturelle Entwicklung in einer Beschleunigungswelle, die sich mit der Globalisierung aufgebaut und die Zeitstrukturen verändert habe.[8] Eine historische Parallele findet er im technologischen und ökonomischen Wandel vor 1914, der die Alltagserfahrungen der Menschen prägte und zugleich neue Ambivalenzen hervorbrachte.[9] Hier knüpft diese «Geschichte der Gegenwart» an, die sich als eine historische Bestandsaufnahme unserer Zeit und zugleich als Beitrag zu einer wissenschaftlichen Geschichte der «Mitlebenden»[10] versteht – so die klassische Definition von Zeitgeschichte, die Hans Rothfels 1953 formulierte. Sie ist zu einem geflügelten Wort geworden und stößt zugleich auf Skepsis.[11] Lassen sich prägende Kategorien und zentrale Entwicklungen einer Zeit nicht erst in der Rückschau und mit einigem Abstand erkennen? Neigt gegenwartsnahe Zeitgeschichtsschreibung nicht dazu, sozialwissenschaftliche Gegenwartsdiagnosen und feuilletonistische Selbstbeschreibungen unkritisch zu übernehmen und historisch fortzuschreiben? Wo liegt ihr Mehrwert, wenn es ihr an archivalischen Quellen mangelt? Kurzum, ist eine «Geschichte der Gegenwart» überhaupt möglich? Dass sich die Ansicht der Vergangenheit mit den Erfahrungen der Gegenwart wandelt, ist keine Besonderheit einer Geschichte der Gegenwart. Dieses Phänomen gilt ebenso für die Geschichte der Reformation oder der Julikrise von 1914, für die Geschlechtergeschichte ebenso wie für die global history. Dass Gegenstände, die heute als zentral erscheinen, morgen am Rande der Aufmerksamkeit stehen, weil sich Fragestellungen und Perspektiven wandeln, ist ein allgemeines Problem aller Geschichtswissenschaft. Es stellt sich für die jüngste Zeitgeschichte, angesichts noch unabgeschlossener Entwicklungen, nur in zugespitzter Form. Grundsätzlich sind die Erkenntnisbedingungen keine anderen. Und was bedeutet dieser Befund für die Geschichte der Gegenwart? Zum einen schärft er das Bewusstsein für die Vorläufigkeit historischer Deutungen, und zum anderen verlangt er besondere methodische Sorgfalt bei Auswahl und Analyse der Gegenstände. Um die zentralen Entwicklungen und Probleme der Gegenwart zu identifizieren, ist diese Untersuchung in drei Schritten vorgegangen. Zunächst hat sie in Anlehnung an Max Weber die vielen möglichen Gegenstände in die Kategorien Staat und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eingeteilt und ihre Überlappungen reflektiert. Dann wurden die Forschungen, Debatten und Ergebnisse der jeweiligen Gegenwartswissenschaften gesichtet, vor allem aus den Bereichen der Soziologie, der Sozialphilosophie und -psychologie sowie der Wirtschafts-, Staats-, Politik- und Kommunikationswissenschaften. Das konnte nicht en detail geschehen, wohl aber mit dem Anspruch, den Forschungsstand dieser Disziplinen grundsätzlich zu erfassen. Schließlich wurden die erhobenen Befunde mit historischen Analysekonzepten in Beziehung gesetzt und mit einem kräftigen Schuss an historischem common sense auf ihre langfristige Signifikanz hin befragt. Was die Quellen betrifft, so sind archivalische Quellen für die zurückliegenden dreißig Jahre in der Regel nicht oder nur eingeschränkt zugänglich. Daher können einige Themen, insbesondere politische und administrative Entscheidungsprozesse, noch nicht zureichend erforscht werden. Zugleich liegt eine Besonderheit der Zeitgeschichte darin, dass die Gegenwart eine historisch ungekannte Fülle von Wissen über sich selbst hervorbringt, die historisch überhaupt erst einmal zu erfassen und aufzuarbeiten ist. Insbesondere die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Forschungen stellen für die Geschichtswissenschaft in diesem Sinne eine eigene Kategorie dar, die mit der klassischen Unterscheidung von Quellen und Literatur nicht zureichend erfasst wird, weil sie beides zugleich sind.[12] Sie sind kulturgeschichtliche Zeugnisse dafür, wie die historischen Akteure die eigene Gegenwart verstanden haben, wenn sie zum Beispiel die sozialkulturellen Entwicklungen der siebziger Jahre als Wertewandel interpretierten. Zugleich liefern sie Datenmaterial und Analysekategorien, auf denen historische Deutungen aufbauen müssen, wenn sie nicht hinter den Stand der zeitgenössischen Gegenwartsdeutung zurückfallen wollen. Allerdings verfolgen sie andere Erkenntnisabsichten, indem sie nach regelhaften Aussagen und Modellen suchen, wo die historische Forschung nach kausal-genetischen Erklärungen bestimmter Entwicklungen fragt. Zudem sind sie Teil des zeitgenössischen Geschehens, das sie analysieren und das sie zugleich selbst beeinflussen. Deshalb wäre es falsch, sie unkritisch zu übernehmen und einfach fortzuschreiben. Es geht vielmehr darum, die zeitgenössischen Selbstbeobachtungen auf ihre empirische Substanz, ihre thematische Signifikanz und ihre historische Plausibilität hin zu prüfen. Das gilt nicht zuletzt für Großkategorien wie das klimageschichtliche «Anthropozän», die philosophisch-ästhetische «Postmoderne» oder die «nachindustrielle Gesellschaft». Die Gegenwartsbetrachtung neigt dazu, welthistorische Brüche zu erkennen, wo die Geschichtswissenschaft nonchalant nichts Neues unter der Sonne entdeckt. Feuilletonistische Gegenwartsdiagnosen wiederum pflegen einzelne Aspekte herauszugreifen, und sie sind frei für die meinungsgeleitete Pointierung, während sich das geschichtswissenschaftliche Urteil den Ansprüchen erkenntnisoffener und empirisch belegter Analyse stellen muss. Der Mehrwert einer solchen Untersuchung in historischer Perspektive liegt daher erstens in der Zusammenführung verschiedener gegenwartswissenschaftlicher Erklärungsansätze und Erkenntnisse, zweitens in deren Verbindung mit historischen...