Röhnert | Technische Beschleunigung – Ästhetische Verlangsamung? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 383 Seiten

Röhnert Technische Beschleunigung – Ästhetische Verlangsamung?

Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-412-50413-7
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik

E-Book, Deutsch, 383 Seiten

ISBN: 978-3-412-50413-7
Verlag: Böhlau
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Technische Beschleunigung ist ein beliebtes Erklärungsmuster für das Krisenbewusstsein der Gegenwart. Dabei ist Beschleunigung in ihrer ästhetischen Umsetzung aufs Engste mit dem vermeintlichen Gegenteil, der Verlangsamung, verknüpft. Indem Literatur und Künste mobile Beschleunigung darstellen, müssen sie diese zunächst reflektieren, und indem sie Verlangsamung zur Basis ihrer ästhetischen Modelle machen, kompensieren oder verweigern sie Beschleunigung nicht nur, sondern schaffen den Ermöglichungsraum ihrer denkbaren Umkehrung. Das wird anhand literarischer Beispiele von J. W. Goethe bis W. Kappacher ebenso deutlich wie in der populären Musik, dem Film oder der politischen Ästhetik.
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Transmediale Inszenierung von Mobilität im Spannungsfeld von Beschleunigung und Verlangsamung [<<27||29>>] Rüdiger Heinze (Braunschweig) Bullet Time · Sieben Thesen zu Verlangsamung und Beschleunigung im Film Beschleunigung: Verzögerung: Die Verhandlung von Zeit und Zeitlichkeit ist für Film als Kunstform und Technik konstitutiv. Im Grunde genommen ist Film – selbst im digitalen Zeitalter – eine hochentwickelte Form des Daumenkinos: Sequentielle, „stehende“ Bilder werden mit einer bestimmten Geschwindigkeit (normalerweise ca. 24 Frames pro Sekunde) projiziert, sodass wir als Zuschauer aufgrund der Flimmerverschmelzung Bewegung zu sehen glauben. Film kann also auf der einen Seite aus atemporalen Bildern Zeitlichkeit bzw. das Verstreichen von Zeit generieren; auf der anderen Seite kann Film Bewegung aufzeichnen und in einzelne, stehende Bilder zerlegen, sodass das Verstreichen von Zeit scheinbar angehalten wird, wie bei Edward Muybridges berühmten Aufnahmen des galoppierenden – und in der Luft schwebenden – Pferdes. Wenig überraschend haben Filmemacher schon früh mit der inhaltlichen Darstellung und formalen Manipulation von Zeit, Zeitlichkeit und Zeitwahrnehmung experimentiert.1 Stillstand, Beschleunigung und Verzögerung zählen dabei von Anfang an zu den wichtigsten formalen filmtechnischen Mitteln. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem Phänomen, das alle diese drei Mittel in sich vereint und mittlerweile, in verschiedenen Variationen, zu den wirkmächtigsten Formen formaler zeitlicher Manipulation im Film überhaupt gehört: die sogenannte Bullet Time. Diese gibt es in Grundzügen und Ansätzen zwar schon seit einigen Jahrzehnten – bereits Leni Riefenstahl kombiniert Zeitlupe bei gleichzeitiger Kamerafahrt in Olympia (1938) –, ist aber erst durch den Film Matrix (1999) stilbildend und über (fast) alle Genres und Filmkulturen hinweg paradigmatisch für filmische Zeitmanipulation geworden. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags zielt allerdings nicht auf die filmhistorische Bedeutung von Bullet Time; vielmehr soll anhand dieses Phänomens eine Reihe grundlegender Thesen hinsichtlich der Aspekte und Funktionen von beschleunigter und verzögerter Zeitlichkeit und der damit korrelierenden [<<29||30>>] Darstellung von Zeitwahrnehmung im Film aufgestellt werden.2 Hierzu muss jedoch zunächst erklärt werden, was genau Bullet Time ist. Um zu verstehen, wie Bullet Time funktioniert und warum diese Funktionsweise so besonders ist, muss man noch einen weiteren Schritt zurückgehen und verstehen, welche physikalischen Gesetzmäßigkeiten Beschleunigung und Verzögerung zugrunde liegen. Beschleunigung ist die Zunahme von Geschwindigkeit über eine bestimmte Zeiteinheit hinweg, Verzögerung die Abnahme von Geschwindigkeit über eine bestimmte Zeiteinheit hinweg. Beide unterscheiden sich also primär in der Richtung, in der sich die Geschwindigkeit bzw. die Progression von Zeit ändert (langsamer vs. schneller); ihnen ist gemein, dass sie eine Veränderung der Zeitprogression bewirken (?v), die einen Anfangspunkt (Stillstand oder gleichbleibende Zeitprogression/Geschwindigkeit) und einen Endpunkt (Stillstand bei Verzögerung; bei Beschleunigung im Extremfall die Lichtgeschwindigkeit c) haben muss. Bezeichnenderweise können wir in einem geschlossenen System ohne externen Bezugspunkt bei gleichbleibender Zeitprogression nicht feststellen, ob wir uns bewegen oder nicht (wir merken z. B. nicht, dass sich die Erde dreht); nur Beschleunigung oder Verzögerung, also Veränderungen in der Zeitprogression, sind für uns feststellbar. Daraus ergibt sich eine Reihe von aufschlussreichen Konsequenzen/Schlüssen. These 1: Da Beschleunigung und Verlangsamung durch Veränderung der Zeitprogression in eine bestimmte Richtung definiert sind, verhalten sie sich immer und unweigerlich zu einem Bezugspunkt; mit anderen Worten: Sie sind relational. Mit Blick auf Film stellt sich die Frage, was oder wer genau der Bezugspunkt ist und aus welcher Perspektive die Veränderung der Zeitprogression dargestellt wird. These 2: Beschleunigung und Verlangsamung sind analog. Wer also die Frage nach Beschleunigung stellt, stellt immer auch, explizit oder implizit, die Frage nach Verlangsamung. Daraus und aus These 1 ergibt sich zwingend die nächste Schlussfolgerung. These 3: Stillstand, lineare (d. h. gleichbleibende) Zeitprogression, Beschleunigung und Verlangsamung implizieren und bedingen sich allesamt gegenseitig, d. h. dass keines der Konzepte ohne die anderen Sinn ergibt. Absoluten Stillstand gibt es nicht außer (theoretisch) in einem Universum, in dem überall der absolute Nullpunkt herrscht. Ob dies überhaupt möglich ist, ist fraglich. Demzufolge gibt es überall Änderungen/Wechsel in den Energieformen und nur kurze Momente des Stillstands (z. B. beim Wechsel von kinetischer in potentielle und wieder in kinetische Energie); und damit Veränderung und Zeitprogression; und damit auch Veränderungen in der [<<30||31>>] Zeitprogression. Mit anderen Worten: Es gibt weder dauerhaft lineare Zeitprogression noch permanente Beschleunigung, noch permanente Verlangsamung. Alle befinden sich im permanenten Wechselspiel. These 4: Genau diese Relationalität und gegenseitige Abhängigkeit kennzeichnet Bullet Time. Sie kennzeichnet natürlich alle Formen filmtechnischer Beschleunigung und Verlangsamung, auch traditionelle Zeitlupe und Zeitraffer; Bullet Time aber verdeutlicht diese Relationalität am deutlichsten und eindrücklichsten. Außerdem vereint Bullet Time in sich mehrere Formen der Zeitmanipulation. Was also ist Bullet Time? 1Andy und Lana Wachowski, Warner Bros., Matrix, USA, 1999. Bullet Time 1 Betrachtet man eine Szene mit „klassischer“ Bullet Time in Matrix, so fällt auf, dass mehrere Dinge gleichzeitig passieren. Die reguläre Zeitprogression verlangsamt sich deutlich, teilweise bis zum scheinbaren Stillstand. So sieht es in einigen Szenen so aus, als ob Pistolenkugeln „kriechen“ oder sogar in der Luft stehen bleiben (daher der Name Bullet Time); auch Menschen scheinen in der Luft zu schweben. Gleichzeitig fährt die Kamera um diese „eingefrorene“ Szene im Kreis herum. Zum Ende der Szene beschleunigt sich die Zeitprogression wieder, bis sie die „normale“ lineare Geschwindigkeit des Ausgangspunkts erreicht hat. Technisch wird dies in Wirklichkeit durch viele Kameras erreicht, die kreisförmig arrangiert sind und die Szene aufzeichnen, sodass deren Bilder im Nachhinein hintereinander geschnitten werden können.3 2Andy und Lana Wachowski, Warner Bros., Matrix, USA, 1999. Bullet Time 2 Bei genauerem Hinsehen erkennen wir aber noch mehr: Es gibt Szenen, in denen wir aus der Ebene der normalen Zeitprogression heraus die extrem beschleunigten Bewegungen der sogenannten Agenten (Avatare intelligenter Computerprogramme) und schließlich der Hauptfigur Neo sehen; diese bewegen sich derart schnell, dass die [<<31||32>>] Bewegungen ineinander zu verschwimmen scheinen4: Bullet Time kombiniert dementsprechend entweder Stillstand und/oder Verlangsamung der Mise en Scène mit Bewegung der Kamera und abschließender Beschleunigung in die normale Zeitprogression hinein; oder Kamerastillstand mit Blick auf beschleunigte Mise en Scène und abschließender Verlangsamung in die normale Zeitprogression. Es werden demzufolge inhaltlich und formal mehrere Zeitlichkeiten miteinander gekoppelt und gleichzeitig in Szene gesetzt in einem Wechselspiel aus Stillstand, Verlangsamung und Beschleunigung. 3Andy und Lana Wachowski, Warner Bros., Matrix, USA, 1999. Bullet Time 3 Eine Variation findet sich im Spielfilm Sherlock Holmes (2009). Hier wird ebenso die Mise en Scène eingefroren, während die Kamera um die Szene herumfährt; jedoch sehen wir nicht, was in diesem Augenblick passiert, sondern was die Hauptfigur Sherlock Holmes aufgrund seiner außergewöhnlichen mentalen Fähigkeiten zu denken und planen bzw. vorherzusehen in der Lage ist, und zwar sowohl hinsichtlich seiner zukünftigen Handlungen als auch hinsichtlich seiner Rekonstruktion vergangener Ereignisse. Die Kamera visualisiert also Holmes’ Gedankenprozesse, unterstützt durch ein erläuterndes Voice over. 4Andy und Lana Wachowski, Warner Bros., Matrix, USA, 1999. Bullet Time 4 Auch hier werden Stillstand, Verlangsamung und Beschleunigung kombiniert. Wenn man jetzt nach dem Bezugspunkt und der Perspektivierung fragt, so wird klar, dass die Beispiele aus den beiden Filmen diametral entgegengesetzt gelagert sind: In Matrix zeigt uns die Kamera eine extrem verlangsamte Welt, die wir aus [<<32||33>>] der Außenperspektive sozusagen „allwissend“ betrachten...


Röhnert, Jan
Jan Röhnert ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der TU Braunschweig.

Kramer, Andreas
Dr. Andreas Kramer ist Reader für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft am Goldsmiths College der Universität London, Großbritannien.

Fricker, Christophe
Dr. Christophe Fricker ist Autor, Akademiker und Unternehmer. Er schreibt über die Rolle von Freundschaft und Wissen in der Welt von heute. Ihn interessieren besonders die Möglichkeiten freundschaftlichen Handelns und die Grenzen des Wissens. Christophe Fricker ist Inhaber des Leipziger Wissensdienstleisters NIMIRUM und Sprecher der Stefan-George-Forschungsgruppe am Hanse-Wissenschaftskolleg. Er ist darüber hinaus als Dozent an der University of Bristol, an der Deutschen Schülerakademie und im Rahmen des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen tätig. Fricker wurde 1978 in Wiesbaden geboren, studierte Politik, Germanistik und Musikwissenschaft in Freiburg, Singapur und Halifax und promovierte über Stefan George am St John's College, Oxford. Danach arbeitete er als Post-doctoral Lecturing Fellow sowie bis zum Sommer 2010 als Geschäftsführender Direktor des deutschen Sprachprogramms an der Duke University. Im Herbst 2011 war Fricker Craig-Kade Writer-in-Residence am Department of Germanic, Russian, and East European Languages and Literatures in Rutgers sowie im Sommer 2012 Gast des Rektors am Hanse-Wissenschaftskolleg. 2012 bis 2014 führte er an der University of Bristol ein Marie-Curie-Forschungsprojekt zu Ernst Jünger durch. Sein jüngstes Buch ist Stefan George: Gedichte für Dich, eine Einführung in das Werk eines anregenden Dichters (Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste im November 2011). Frickers Gedichtband Das schöne Auge des Betrachters erschien 2008 bei J. Frank in Berlin und wurde mit dem Hermann Hesse Förderpreis 2009 ausgezeichnet. Larkin Terminal — Von fremden Ländern und Menschen mit zwölf Reise-Stories erschien im Oktober 2009 bei Plöttner in Leipzig. Für seine Reise-Essays erhielt Christophe Fricker einen Merkur-Essaypreis 2007. Christophe Fricker ist Herausgeber des Briefwechsels Friedrich Gundolf - Friedrich Wolters (Weimar: Böhlau 2009), Mitherausgeber (mit Bruno Pieger) eines Sonderbandes der Zeitschrift Castrum Peregrini zu Werk und Wirkung Friedrich Hölderlins und Mitherausgeber (mit Jane V. Curran) einer kommentierten und durch fünf Essays flankierten Neuübersetzung von Schillers Essay Über Anmut und Würde. Fricker war Förderpreisträger im Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen (1995), Izaak Walton Killam Pre-doctoral Scholar der Dalhousie University (2002-2003), Lamb & Flag Scholar der University of Oxford (2003-2006), Präsident der Oxford University German Society (2004-2006), Redakteur der Zeitschriften Zeichen & Wunder (1996-2001), Castrum Peregrini (2000-2006) und The German Quarterly (2006-2009) und Translator-in-residence der Jungen Oper Rhein-Main (2004-2005). Für die Zeitschriften PMLA, German Quarterly und Seminar arbeitete er als Peer reviewer.



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