Rogall Verliebt, verschneit, verzaubert
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-641-05165-5
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-05165-5
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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"2. Weihnachtstag (S. 82-83)
Lili wachte auf und erschrak heftig, als sie den Körper neben sich spürte. Auch das kleine Gästezimmer, in dem sie die Nacht verbracht hatte, war ihr erst einmal fremd. Allmählich konnte sie sich orientieren und daran erinnern, dass Marie gestern Nacht bei ihr angeklopft und gefragt hatte, ob sie bei ihr schlafen dürfe.
Emma war zu dem Zeitpunkt noch nicht wieder zurückgekehrt, und Marie mochte nicht alleine schlafen. Lili war sofort für sie zur Seite gerückt. Anschließend hatten die beiden bis in die frühen Morgenstunden miteinander geplaudert, wie zwei langjährige Freundinnen oder Schwestern, die sich aufgrund des Altersunterschieds und ohne aufeinander eifersüchtig zu sein bestens verstanden. Marie hatte Lili weitere Details aus ihrer - um ein Haar verhängnisvollen - ersten Liebesnacht verraten und von dem jungen Mann erzählt, den sie verführt hatte. Eigentlich, so Marie, hatte sie nur ausprobieren wollen, ob sie überhaupt dazu in der Lage war.
Nach ihren ersten Erfahrungen gefragt, hatte Lili von einem Jungen in ihrer Klasse erzählt, den alle merkwürdig gefunden hatten, weil er nie zu Partys erschien, fast immer mit seinem Walkman herumlief und sich geheimnisvolle Notizen in eine ausgefranste Kladde machte. Aber Lili hatte den Jungen mit seiner verhuschten, sonderbaren Art attraktiv gefunden - im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen, die sich für die stets laut lachenden, sportlichen Gewinnertypen interessierten, die keine Gelegenheit ausließen, sich zu besaufen und zweideutige Witze zu reißen. Eines Tages war der Junge mit der Kladde von seinen Mitschülern auf dem Schulhof bedrängt worden, weil er bei der Mathearbeit den Anführer der Truppe nicht hatte abschreiben lassen.
Der Junge hatte sich mit all seiner Kraft gewehrt, war aber gegen die Übermacht natürlich chancenlos geblieben. Das Schlimmste waren allerdings nicht die Tritte und Schläge gewesen, sondern die Demütigung, als die anderen seine Kladde weggenommen und wild kichernd herumgereicht hatten.
Die darin enthaltenen Zeichnungen zeigten eine Mitschülerin, die in der Klasse als außergewöhnlich hübsch galt. Sie hatte an den Jungen nie einen Gedanken verschwendet. Der Junge hingegen hatte kaum noch an etwas anderes denken können. Da er zu schüchtern war, um das Mädchen anzusprechen, war ihm nichts anderes geblieben, als von ihr zu träumen. Und sie zu zeichnen. So, wie er sie sah, aber auch, wie er sie gerne sehen wollte.
An seinen Zeichnungen war nichts Geschmackloses. Vielmehr idealisierte der Junge den Körper des Mädchens, geprägt von jener Makellosigkeit, die Zeitschriften und Filme präsentierten. Man hätte seine Zeichnungen für naiv und sogar kitschig halten können, wäre darin nicht sein unbestreitbares Talent und eine rührende Verwundbarkeit zu spüren gewesen. Für seine weniger empfindsamen Mitschüler war das Ganze natürlich bloß lachhaft, und für seine aus der Ferne bewunderte Mitschülerin unendlich peinlich. Sie zerrissen seine Kladde, und die Seiten wurden vom Wind über den ganzen Schulhof verteilt."