Roth | Das perfekte Wirtshaus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 318 Seiten

Roth Das perfekte Wirtshaus


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-941895-94-2
Verlag: Oktober Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 318 Seiten

ISBN: 978-3-941895-94-2
Verlag: Oktober Verlag
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Eine essayistisch-reportagenhafte Rundreise durch die letzten wahren Wirtshäuser Deutschlands und teilweise der Welt. Was macht ein perfektes Wirtshaus aus? Ein gutes süffiges Bier, eine schmackhafte Speise und geselliges Beisammensein? Ist es ein Ort, an dem die Zeit stehen bleibt, man sie vergisst und ewig sitzen bleiben möchte? Wo das Wort ›Glück‹ noch eine Relevanz hat? Jürgen Roth verbrachte in seinem Leben viele Stunden in mannigfaltigen Wirtshäusern, ob in Franken, wo er geboren ist, oder den anderen berühmten Biergegenden von Belgien bis Tschechien. Nach diversen Bierbüchern errichtet Jürgen Roth endlich auch dem besonderen Ort des Biertrinkens ein eigenes Denkmal.
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Wer den Vogel hat
Die Sonne steht hoch über dem Dorfplatz von Nörde. Vor der Kirche spenden zwei Linden Schatten, vis-à-vis, vor einem der drei Gasthäuser der ostwestfälischen Gemeinde, die wenige Kilometer nordwestlich von Warburg an den Ausläufern des Eggegebirges liegt, diskutieren ein paar Jugendliche über die PS-Zahlen ihrer Neuanschaffungen. Die Mitte des Platzes beherrscht ein sorgfältig restaurierter Bauernhof. Vor seiner efeuberankten Front verkündet ein Schild die Namen des neuen Schützenkönigspaars: Eugen und Andrea. Es ist Samstagnachmittag, und die Ruhe ist trügerisch. In ein paar Stunden herrscht hier Ausnahmezustand. Schützenfeste sind in Westfalen seit Jahrhunderten in beinahe jedem Weiler fester Bestandteil der Dorfkultur. Die Zeremonien weichen zwar in mehr oder weniger großen Details voneinander ab, doch der Geist, der in Menne, Niesen, Bonenburg, in Bad Driburg, in Nörde oder anderswo während der meist dreitägigen Festivitäten beschworen wird, ist von alters her überall derselbe. »Schütze sein heißt Schützer sein«, brachte 1986 die Fest- und Heimatschrift des Schützenvereins Nörde zum zweihundertjährigen Bestehen eine alte Weisheit in Erinnerung – »Schützer des Glaubens / Schützer der Heimat / Schützer des Brauchtums der Väter«. Die Väter Nördes sind geschätztermaßen zu achtundneunzig Prozent Schützenvereinsmitglieder. Achthundert Einwohner zählt Nörde – und zirka zweihundertzwanzig Schützenbrüder. Der männliche Nachwuchs beginnt früh, sich auf sein künftiges Engagement als ehrenwerter Träger der Waffe vorzubereiten. Am Sonntag fügen sich nicht nur viele Kinder an der Seite der Mütter ins Spalier des Festzuges, zwei Steppkes marschieren sogar mit – ein Vierjähriger in Zivil, ein etwa achtjähriger Bub in voller Montur: dunkler Anzug, dunkle Mütze und Holzgewehr. Bloß die weißen Handschuhe fehlen. Jetzt, am Samstag zwischen 17 und 18 Uhr, sind die Väter in der Festmesse, um der toten Kameraden zu gedenken. Draußen in der Stille hängen Fahnen schlapp an den Häusern, in den Dorffarben Blau und Weiß. Beflaggung ist für alle Gebäude laut Mietvertrag Pflicht: »Die durch die dörfliche Tradition (Gemeinschaft) vorgegebenen Maßnahmen sind durchzuführen.« Schützenvereine haben ihren Ursprung wahrscheinlich im 13. Jahrhundert. Erhielt eine Ortschaft das Stadtrecht, mußte für die Verteidigung Sorge getragen werden, und die Stadtherren Westfalens übertrugen den waffenfähigen Bürgern die Pflicht, selbige sicherzustellen. Eine Waffenordnung für Brilon aus dem Jahr 1362 soll festgelegt haben, daß die streitkräftigen Männer »sich beim Läuten der Sturmglocke vor die Stadttore zu begeben und den Anweisungen des Kriegsrates Folge zu leisten haben«. Zur Belohnung organisierte die Stadt jedes Jahr ein Fest, auf dem der beste Schütze, noch mit der Armbrust gewappnet, gekrönt wurde. Andere Quellen sprechen davon, wie sich um 1300 in Flandern die ersten Schützengilden bildeten und sich das Schützenwesen danach über das Rheinland, das Münsterland, das Sauerland und Westfalen bis nach Osteuropa ausbreitete. Die sommerlichen Schützenfeste dienten neben dem Pläsier gleichermaßen der Aufrechterhaltung der Wehrfähigkeit. Meist schoß man auf Holzvögel, man tut es bis heute. Neben Nördes 1972 erbauter neuer Schützenhalle ragt ein schmales Gerüst in die Höhe. An der Spitze ist ein Kasten angebracht, in dem das geschnitzte Objekt der Begierde hängt. Der Schütze feuert aus einer gesetzlich vorgeschriebenen Justierung. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und wer, immer schön der Reihe nach, »den Vogel abgeschossen hat«, hat einiges am Hacken. Schützenkönig zu sein heißt, die häusliche Kasse plündern zu müssen. Die Schützengemeinde ist nicht zurückhaltend, was den Durst anbelangt. Beim montäglichen, frauenfreien Schützenfrühschoppen ab 9.30 Uhr stellt der König das Freibier. Hinter der Absperrung der Schießanlage sammeln die Kleinen die Patronen der scharfen Munition auf. »Das kommt schon vor, daß der Schießwart dem einen oder anderen Platzpatronen unterjubelt«, sagt der Schützenvereinsvorsitzende sibyllinisch. In Nörde findet das Königschießen zwei Wochen vor dem Fest statt. Das Fest selbst hebt am Samstagabend nach der Messe an. Der Kommers mit Tanz in der Johann-Conrad-Schlaun-Halle unweit der Kirche, benannt nach dem größten Sohn Nördes, dem 1695 geborenen Generalmajor, Kommandant der Münsterischen Artillerie und Oberbaudirektor im Fürstentum Münster, diene »dem Aufwärmen«, erklärt ein fünfzehnjähriger Eingeborener und schielt hinüber zum Bierstand. »Das könn’ auch mal ’n paar mehr werden«, grinst er und erzählt von einer Wette, weil es in den letzten Jahren oft gebrannt habe: »Es steht die Wette, daß beim Schützenfest ein Haus abbrennt. Letztes Jahr hat die Böschung gebrannt.« Im Saal hocken auf grünen Plastikstühlen und an Furniertischen mit Kunstlaubgestecken Nördes Einwohner, schleusen 0,2-l-Gläser Warburger Pils in ihre Schlünde und blicken zum Hofstaat hinüber, dessen langer Tisch mit weißen Tischdecken überzogen ist. Rote Gesichter leuchten unter dunkelblauen Mützen, und als die sechsköpfige Band Opus One auf der Bühne den Roy-Black-Evergreen »Anita« intoniert, erheben sich trotz einer Akustik wie im Schuttcontainer neben den zugereisten Jungdamen auch die standesgemäßen Semester zum Beineschwingen. In der noch sitzenden Versammlung beginnt es zu schunkeln. Mitzutanzen sei »ratsam«, hört man. Draußen an der unterdessen frischen Landluft doziert der nicht annähernd volljährige Informationsminister: »Jungschütze kann werden, wer achtzehn, Deutscher und männlich ist.« – »In Altena«, wirft eine Neubewohnerin, eine gebürtige Sauerländerin, ein, »laufen auch Schwarze im Zug mit.« – »Das ist hier nicht so«, entgegnet der Knabe. »Als Jungschütze mußt du ›Kappe saufen‹«, fährt er fort. »Du trinkst sie leer und setzt sie dann auf. Die darf nie gereinigt werden. Außer durch Regen.« Wie auf Kommando eilt der Vater des kreglen Schützenbruders in spe mit einem Träger Bier herbei. »In Rösebeck haben sie dieses Jahr gar keinen König geschossen. Niemand hat den Vogel runtergeholt. Die ham ’ne Krisensitzung gehabt«, spendiert der Junge ein Lokalschmankerl und hämmert das erste Glas zurück in den Blechträger. Dem Vater ist mehr nach Unterrichtung. »Heimatgefühl, Brauchtum, verstehen Sie? Praktische Tätigkeit für die Gemeinschaft«, sagt er, »das ist Schützenfest. Aber die Ossendorfer können uns gestohlen bleiben.« Vor Jahren sollen die Ossendorfer Nachbarn eine Monstranz aus der Nörder Kirche gestohlen haben. Seither schwelt der westfälische Unfriede, obwohl Nörde seit 1421 zum Kirchenspiel Ossendorf gehörte und Johann Conrad Schlaun in Ossendorf getauft worden war. Die Aufklärung ist zwar auch eine Erfindung deutscher Philosophen. Ihre zeitweilige Durchsetzung verdankte sie jedoch anderen. Der Code Napoléon verbot 1807 die Schützenvereine, und erst nach den »Freiheitskriegen« erfuhren sie eine neue Blüte – als der Kirche eng verbundene Polizei-, Flurschutz- und Brandschutzmannschaften, hie und da zudem als karitative Helfervereinigungen. »Schützen sind«, verbreitet die Regionalpresse heute, »Verteidiger bewährter Lebensordnungen.« »Schütze sein«, wie es in der Chronik des Daseburger Vereins heißt, bedeute, »ein anständiger Mensch zu sein«. Ein Kontrollratsgesetz der US-amerikanischen Befreier schob dem Treiben der Anständigen nach 1945 abermals einen Riegel vor. In Nörde konstituierte sich der Verein schon 1950 dann ein weiteres Mal. Die Jubelschrift von 1986 pries denn auch »die Pflege des Heimatgedankens« und warf einen Blick auf die Jahre 1933 bis 1939: »Die veränderten politischen Verhältnisse im Jahr 1933 mit Übernahme der Regierung durch die NSDAP mit dem Führer Adolf Hitler forderten von unserem Verein eine grundlegende Erneuerung des Vereinslebens und den Eintritt in den ›Deutschen Heimatbund‹. […] Mit Ausbruch des 2. Weltkriegs war dem Verein durch Einberufung der jungen Schützen zur Wehrmacht die Durchführung der Schützenfeste und sonstiger Aktivitäten genommen.« Recht benommen schaut an diesem heißen Sonntag Mitte Juli die Mehrheit der sich auf dem Dorfplatz einfindenden Schützen drein. Der Kommers ging »bis nach fünf«. Unter den Linden baut sich der Musikverein Nörde auf und eröffnet um 13 Uhr das Platzkonzert, während der Spielmannszug aus Daseburg in Weißblau auf seinen Einsatz wartet. Er unterstützt die einheimischen Musikanten im Wechselspiel. Eine sogenannte Locke, ein Trommelwirbel, signalisiert die Übergabe. »Unser noch amtierender König hat das Warburger Stadtschützenschießen während der letzten Oktoberwoche gewonnen«, erzählt der für vier Jahre gewählte Vorsitzende, ein freundlicher Bahner Mitte fünfzig. Der Spielmannszug übernimmt, die ersten Schweißperlen rinnen, der Sound ist überraschend gut. »Nein«, sagt der Vorsitzende, »die Mitgliederzahlen sind stabil. Da tritt keiner aus. Es sei denn, er stirbt.« – »Das ist hier das wirkliche Leben«, lacht der bierspendende Vater von gestern abend. Der Sohn assistiert: »Das ist das Highlight des Jahres.« Immer mehr Schützen und Zuschauer treffen ein. In der Platzmitte führen der Vorsitzende, der Pfarrer und der Polizist ein letztes Lagegespräch. Dann, Punkt 14 Uhr, reihen sich die Schützen auf. Der Hauptmann mit rot-goldenen Schulterklappen und Säbel läßt durchzählen. Zweiundsechzig sind’s. »Hat noch jemand in der Reihe was zu melden?« Rechts daneben verharrt die Gastabordnung aus Wormeln, samt König, Oberst und Hauptmann. »Das Gewehr über! Rechts um! Marsch!« Unter...



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