Roth | Die Anatomiestunde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

Roth Die Anatomiestunde

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25133-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

ISBN: 978-3-446-25133-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Durch die Erwartungen der Kritik und durch die Animosität der Familie gerät Zuckerman in eine Krise: körperliche Schmerzen und Selbstzweifel zersetzen seine Schaffenskraft. Als Ausweg versucht er, das Leben der öffentlichen Bekenntnisse hinter sich zu lassen und durch ein Medizinstudium den Menschen wieder nahezukommen.
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I Der Kragen
Jeder Kranke verlangt nach seiner Mutter. Wenn sie nicht da ist, muß er sich mit anderen Frauen begnügen. Bei Zuckerman waren es vier andere Frauen. Noch nie hatte er so viele Frauen – und so viele Ärzte – auf einmal gehabt, noch nie so viel Wodka getrunken, so wenig gearbeitet und sich in einem so verzweifelten Zustand befunden. Gleichwohl schien er keine ernstzunehmende Krankheit zu haben. Nur Schmerzen, im Nacken, in den Armen und in den Schultern – Schmerzen, die es beschwerlich für ihn machten, weiter als bis zur nächsten oder übernächsten Straßenkreuzung zu gehen oder längere Zeit stehenzubleiben. Allein schon einen Nacken und Arme und Schultern zu haben, war so, als müßte er jemand anderen mit sich herumschleppen. Zehn Minuten unterwegs, um Lebensmittel einzukaufen, und schon mußte er schleunigst nach Hause, um sich hinzulegen. Und jedesmal konnte er bloß eine einzige, leichte Einkaufstüte heimtragen, die er noch dazu auf beide Arme nehmen und an sich drücken mußte – wie ein Achtzigjähriger. Die Tüte mit gestrecktem Arm zu tragen, machte die Schmerzen nur noch schlimmer. Es war qualvoll, sich nach vorn zu beugen und das Bett zu machen. Es war qualvoll, am Herd zu stehen und mit nichts Schwererem als einem Pfannenwender in der Hand zu warten, bis ein Ei fertiggebraten war. Er konnte kein Fenster aufmachen, bei dem man ein bißchen Kraft anwenden mußte. Also öffneten die Frauen die Fenster für ihn. Machten seine Fenster auf, brieten ihm sein Ei, machten sein Bett, kauften sein Essen ein und trugen ihm mühelos und mannhaft die vollen Tüten nach Hause. Eine einzige Frau hätte alles Nötige in ein, zwei Stunden pro Tag erledigen können, aber Zuckerman hatte keine Frau mehr. So kam es, daß er vier hatte. Um auf einem Stuhl sitzen und lesen zu können, trug er einen orthopädischen Kragen, ein schwammartiges, rautenförmiges Gebilde in einer gerippten weißen Hülle, das er sich umbinden mußte. damit die Halswirbel sich nicht verschoben und er den Kopf nicht ungestützt hin und her bewegte. Durch den Stützkragen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit sollte der stechende Schmerz gelindert werden, der sich vom linken Ohr zum Nacken zog und sich unterhalb des Schulterblattes verästelte wie eine verkehrt herum gehaltene Menora. Manchmal half der Kragen, manchmal nicht, aber allein schon, ihn zu tragen, war genauso zum Verrücktwerden wie die Schmerzen selbst. Zuckerman konnte sich dann bloß noch auf sich selber und den Kragen konzentrieren. Er hatte sich ein Buch aus seiner Collegezeit vorgenommen: The Oxford Book of Seventeenth Century Verse. Auf dem Vorsatzblatt, über seinem mit blauer Tinte eingetragenen Namen und dem Datum, stand in der Handschrift, die er 1949 gehabt hatte, ein Aperçu des Studienanfängers: »Metaphysischen Dichtern fällt der Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen leicht.« Zum ersten Mal seit vierundzwanzig Jahren nahm er sich die Gedichte von George Herbert vor. Er hatte das Buch aus dem Regal geholt, um das Gedicht Der Kragen zu lesen und darin vielleicht etwas zu finden, was es ihm erleichtern würde, seinen eigenen Kragen zu tragen. Das galt ja allgemein als eine Funktion großer Literatur: Leiden zu lindern mittels der Schilderung unseres gemeinsamen Schicksals. Wie Zuckerman jetzt erfahren mußte, konnten körperliche Schmerzen den Menschen schrecklich primitiv machen, falls sie nicht durch regelmäßige Dosen philosophischen Denkens bekämpft wurden. Vielleicht konnte er bei Herbert ein paar nützliche Hinweise entdecken. »… Soll still ich sein fortan?
Nichts andres ernten mehr als einen Dorn,
Auf daß ich blute und, was ich verlor,
Durch keine Labsal neu beleben kann?
Ja, da ist Wein gewesen,
Eh’ meine Seufzer ihn vertrocknen ließen. Und Korn,
Eh’ es versunken ist in meinen Tränen.
Ging mir das Jahr denn ganz verloren?
Hab’ keinen Lorbeer ich, es zu bekrönen?
Und keine Blumen, keinen bunten Kranz?
Alles dahin? Alles vertan?
… Doch als ich tobte, vor Verzweiflung blind,
In Wut geriet, bei jedem Worte mehr,
War mir, als riefe jemand: Kind!
Und ich erwiderte: Mein Gott und Herr.« So gut er es mit seinem schmerzenden Arm vermochte, schleuderte er das Buch quer durchs Zimmer. Er lehnte es ab, aus seinem Kragen oder aus den Beschwerden, die dieser lindern sollte, eine Metapher für etwas Erhabenes zu machen. Metaphysischen Dichtern mochte der Schritt vom Lächerlichen zum Erhabenen leichtfallen, Zuckerman jedoch hatte auf Grund seiner Erfahrungen in den letzten achtzehn Monaten den Eindruck, daß er sich – wenn überhaupt – in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Näher als bei der Niederschrift der letzten Seite eines Buches war er noch nie an das Erhabene herangekommen – und das war seit vier Jahren nicht mehr geschehen. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal eine lesbare Seite geschrieben hatte. Selbst wenn er den Kragen trug, war es wegen der Halsmuskelverkrampfung und der stechenden Schmerzen entlang des Rückgrats mühsam für ihn, auch nur die Adresse auf einen Briefumschlag zu tippen. Als ein Orthopäde des Mount-Sinai-Krankenhauses diese Beschwerden darauf zurückgeführt hatte, daß Zuckerman seit zwanzig Jahren auf einer mechanischen Reiseschreibmaschine herumhämmerte, hatte er sich sofort eine IBM Selectric II gekauft, doch als er sich dann zu Hause an die Arbeit machte, hatte er festgestellt, daß ihm das Tippen auf der ungewohnten IBM-Tastatur genau die gleichen Schmerzen verursachte wie das Tippen auf der letzten seiner kleinen Olivettis. Er brauchte bloß einen Blick auf die Olivetti in ihrem ramponierten Köfferchen zu werfen, das er ganz hinten in seinem Schlafzimmerschrank verstaut hatte, und schon überkam ihn ein deprimierendes Gefühl – ähnlich wie es Bojangles Robinson empfunden haben mußte, wenn er seine alten Tanzschuhe betrachtete. Wie einfach war es früher, als er noch gesund gewesen war, der Olivetti einen Schubs zu geben, um auf dem Schreibtisch Platz zu machen für seinen Mittagsimbiß oder seine Aufzeichnungen oder seine Lektüre oder seine Post. Wie gern er sie herumgeschubst hatte, diese stillen Sparringpartner, die sich nie beklagten! Und wie er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr auf ihnen herumgehämmert hatte! Sie waren dabeigewesen, wenn er seine Unterhaltszahlungen überwies und die Briefe seiner Fans beantwortete; dabeigewesen, wenn er den Kopf auf die Schreibtischplatte legte – überwältigt von der Schönheit oder Häßlichkeit dessen, was er gerade geschrieben hatte; dabeigewesen bei jeder Seite, jedem Entwurf für seine vier veröffentlichten und die drei lebendig begrabenen Romane. Wenn Olivettis reden könnten, bekäme man den Romanautor nackt zu sehen. Die IBM hingegen, verordnet von seinem ersten Orthopäden, hatte nichts dergleichen zu bieten – bloß das selbstgefällige, puritanische, fachmännische Summen, mit dem sie auf sich und ihre Tugenden hinwies: Ich bin eine Correcting Selectric II. Ich mache nie etwas falsch. Ich habe keine Ahnung, wer dieser Mensch ist. Und allem Anschein nach weiß er selbst das auch nicht. Mit der Hand zu schreiben, war auch nicht besser. Selbst in den guten alten Tagen hatte er, wenn er die linke Hand übers Papier bewegte, so ausgesehen wie jemand, der sich tapfer bemüht, den Gebrauch einer Prothese zu erlernen, und was dabei herauskam, war gar nicht so leicht zu entziffern. Bei nichts anderem stellte er sich so ungeschickt an wie beim Schreiben mit der Hand. Er konnte besser Rumba tanzen als mit der Hand schreiben. Er hielt den Füller zu verkrampft. Er biß die Zähne zusammen und schnitt Grimassen. Er streckte den Ellbogen von sich wie beim Brustschwimmen, dann knickte er die Hand ab, um die Buchstaben von oben statt von unten her zu formen – die Verkrümmungsmethode, mittels deren so manches linkshändige Kind sich beigebracht hat, die Wörter nicht zu verschmieren, wenn es beim Schreiben die Hand nahe dem Tintenfaß von links nach rechts bewegte. Ein renommierter Chiropraktiker war sogar zu der Überzeugung gelangt, daß genau dies die Ursache von Zuckermans Problemen sei: der ernsthafte, linkshändige Schuljunge, dessen krampfhafte Bemühungen, das Hindernis »feuchte Tinte« zu überwinden, dazu geführt hätten, daß die Wirbelsäule sich allmählich verschoben und schräg ins Kreuzbein gebohrt habe. Zuckermans Brustkorb war schief. Sein Schlüsselbein war krumm. Sein linkes Schulterblatt stand flügelförmig ab wie bei einem Huhn. Und sogar sein Oberarmknochen steckte schief und viel zu fest in der Schultergelenkkapsel. Dem ungeschulten Auge erschien er wahrscheinlich mehr oder weniger wohlproportioniert, inwendig aber war er so mißgestaltet wie Richard III. Nach Meinung des Chiropraktikers hatte er sich seit seinem siebten Lebensjahr zunehmend verkrümmt. Seit er Hausaufgaben gemacht hatte. Seit er seinen ersten Bericht über das Leben in New Jersey verfaßt hatte. »Im Jahre 1666 bekam Robert Treat vom Gouverneur Cateret einen Dolmetscher und einen Scout zur Verfügung gestellt, die ihn den Hackensack flußaufwärts zu dem Treffen mit dem Abgesandten Oratons, des hochbetagten Häuptlings der Hackensack-Indianer, begleiteten. Robert Treat wollte Oraton wissen lassen, daß die weißen Ansiedler rein friedliche Absichten hätten.« Begonnen hatte er als Zehnjähriger mit Newarks Robert Treat und so kultivierten, wohlklingenden Wörtern wie »Dolmetscher« und »Abgesandter«, geendet hatte er mit Newarks Gilbert Carnovsky und den ordinären einsilbigen Ausdrücken »Schwanz« und »Loch«. Das war der Hackensack, den der Schriftsteller hinaufgerudert war, um schließlich im Hafen der Schmerzen anzulegen. Wenn es zu qualvoll war, aufrecht zu sitzen, versuchte...


Roth, Philip
Philip Roth wurde 1933 in Newark, New Jersey, geboren und starb 2018 in New York City. 1998 erhielt er für Amerikanisches Idyll den Pulitzerpreis. Ebenfalls 1998 wurde ihm im Weißen Haus die National Medal of Arts verliehen, und 2001 erhielt er die höchste Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters, die Gold Medal, mit der unter anderem John Dos Passos, William Faulkner und Saul Bellow ausgezeichnet worden sind. Er hat zweimal den National Book Award und den National Book Critics Circle Award erhalten, dreimal den PEN/Faulkner Award und außerdem denPEN/Nabokov Award und den PEN/Saul Bellow Award. Bei Hanser erschienen zuletzt Der menschliche Makel (Roman, 2002), Das sterbende Tier (Roman, 2003), Shop Talk (Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk, 2004), Verschwörung gegen Amerika (Roman, 2005), Jedermann (Roman, 2006), Mein Leben als Mann (Roman, Neuausgabe 2007), Eigene und fremde Bücher, wiedergelesen (2007), Exit Ghost (Roman, 2008), Empörung (Roman, 2009), Portnoys Beschwerden (Neuübersetzung, 2009), Die Demütigung (2010) und Nemesis (2011).

Philip Roth wurde 1933 als Sohn jüdischer Eltern in New Jersey geboren. Nach dem Studium folgten Lehrtätigkeiten an mehreren Universitäten in den Vereinigten Staaten. Seit 1965 lebt er vorwiegend in New York. Sein Werk, in dem sich Philip Roth immer wieder mit der jüdischen Problematik auseinandersetzt, wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er für Sabbath's Theater den National Book Award.



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