Roth Mein Mann, der Kommunist
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25136-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 376 Seiten
ISBN: 978-3-446-25136-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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An jenem Abend im Jahre 48 auf Henry Wallaces Kundgebung in Newark hatte ich auch Eve Frame kennengelernt. Sie war mit Ira und ihrer Tochter Sylphid, der Harfenistin, gekommen. Ich bemerkte nichts von Sylphids Empfindungen für ihre Mutter, ich wußte nichts von ihrem Streit, bis Murray mir später alles erzählte, was mir als Kind entgangen war, alles über Iras Ehe, was ich damals nicht verstand und nicht verstehen konnte oder was Ira mir in den zwei Jahren verschwiegen hatte, die ich ihn alle paar Monate zu sehen bekam, wenn entweder er Murray besuchte oder ich ihn in dem Blockhaus – das Ira seine »Hütte« nannte – in dem kleinen Dorf Zinc Town im Nordwesten von New Jersey besuchte. Ira zog sich nach Zinc Town zurück, nicht so sehr um naturnah zu leben, sondern eher, um primitiv und ursprünglich zu leben; dort ging er bis in den November hinein in dem Schlammteich schwimmen, stapfte im kältesten Winter auf Schneeschuhen durch die Wälder oder fuhr mit seinem Auto – einem gebrauchten 39er Chevy-Coupé – kreuz und quer durch die Gegend und sprach mit den Milchfarmern und den alten Zinkgrubenarbeitern, denen er begreiflich zu machen versuchte, wie sie von dem System betrogen würden. Dort draußen hatte er einen Kamin, über dessen glühenden Kohlen er sich seine Hot dogs und Bohnen warm machte und sogar das Kaffeewasser kochte, um sich, nachdem er Iron Rinn geworden war und es ein wenig zu Geld und Ruhm gebracht hatte, daran zu erinnern, daß er noch immer nicht mehr als ein »Allerweltsmensch« war, ein einfacher Mann mit einfachen Vorlieben und Erwartungen, der in den dreißiger Jahren ein unstetes Leben geführt und dann unglaubliches Glück gehabt hatte. Zu seiner Hütte in Zinc Town pflegte er zu bemerken: »Dort halte ich mich in Übung, als armer Mann zu leben. Man kann ja nie wissen.« Die Hütte war ein Gegenmittel zum Leben in der West Eleventh Street, ein Ort der Zuflucht, an dem man die verderblichen Dünste der West Eleventh Street ausschwitzen konnte. Außerdem war sie ein Bindeglied zu seinen frühen Vagabundenjahren, als er sich zum erstenmal unter Fremden bewähren mußte und jeder Tag, wie bei Ira auch später immer, ein harter Kampf mit ungewissem Ausgang gewesen war. Nachdem er mit fünfzehn sein Zuhause verlassen und ein Jahr lang in Newark Gräben ausgehoben hatte, war Ira in die nordwestlichste Ecke von New Jersey gegangen und hatte dort als Hallenkehrer in Fabriken, als Landarbeiter, Nachtwächter, Botenjunge und schließlich zweieinhalb Jahre lang, bis kurz vor seinem neunzehnten Geburtstag und ehe er dann nach Westen ging, als Kumpel in den Zinkbergwerken von Sussex gearbeitet, in deren vierhundert Meter tiefen Schächten er gelernt hatte, was es heißt, giftige Luft einzuatmen. Erst wurde gesprengt, und dann mußte Ira in den Rauch und die entsetzlich stinkenden Pulverdampf- und Gasschwaden hinein und zusammen mit den Mexikanern, den Niedrigsten der Niedrigen, Hacke und Schaufel schwingen. In jenen Jahren waren die Sussex-Minen gewerkschaftlich nicht organisiert und für die New Jersey Zinc Company so profitabel, wie sie für die Arbeiter dieser Gesellschaft unerfreulich waren, aber das ist wohl in allen Zinkminen so. Das Erz wurde an der Passaic Avenue in Newark zu Reinzink verhüttet und auch zu Zinkoxyd für die Farbenherstellung weiterverarbeitet, und obwohl Zink aus Jersey zu der Zeit, als Ira Ende der vierziger Jahre seine Hütte kaufte, im internationalen Wettbewerb an Boden zu verlieren begann und die Bergwerke bereits kurz vor der Schließung standen, war es noch immer jenes erste Eintauchen ins brutale Leben – acht Stunden lang unter Tage zerkleinerte Felsen und Erz auf Schienenwagen laden, acht Stunden lang furchtbare Kopfschmerzen ertragen und rotbraunen Staub schlucken und in Eimer mit Sägemehl scheißen … und das alles für zweiundvierzig Cent die Stunde –, was ihn in die abgelegenen Hügel von Sussex lockte. Die Hütte in Zinc Town war die freimütig sentimentale Solidaritätsbekundung des Radiostars mit dem entbehrlichen, ungehobelten Niemand, der er einmal gewesen war – oder wie er sich selbst beschrieb: »ein hirnloses menschliches Werkzeug, wie es im Buche steht«. Ein anderer hätte womöglich, zu solchem Erfolg gekommen, den Wunsch verspürt, diese schrecklichen Erinnerungen für immer loszuwerden, doch Ira wäre sich unwirklich und sehr benachteiligt vorgekommen, wäre ihm die Zeit seiner Unwichtigkeit nicht irgendwie greifbar geblieben. Ich hatte damals gar nicht gewußt, daß er, wenn er nach Newark kam – und wir, wenn ich nach der letzten Stunde aus der Schule kam, durch den Weequahic Park spazierten, um den See herum und weiter bis zum Newarker Abklatsch von Nathan’s, dem Freßtempel von Coney Island, einem Imbiß, der sich Millman’s nannte, wo wir Hot dogs »mit allem« aßen –, nicht allein seines Bruders wegen in der Lehigh Avenue auftauchte. An diesen Nachmittagen, wenn Ira mir von seinen Soldatenjahren erzählte und was er im Iran gelernt hatte, von O’Day und was O’Day ihm beigebracht hatte, von seinem früheren Leben als Fabrikarbeiter und Gewerkschafter und seinen noch früheren Erfahrungen als Schaufelschwinger unter Tage, suchte er Zuflucht vor einem Haus, in dem er sich vom Tag seiner Ankunft an nicht willkommen gefühlt hatte: Sylphid wollte ihn ohnehin nicht dort haben, und mit Eve Frame gab es immer wieder Streit wegen ihrer unerwarteten Verachtung für die Juden. Nicht für alle Juden, erklärte Murray – nicht für die kultivierten Juden der Oberschicht, die sie in Hollywood und am Broadway und beim Rundfunk kennengelernt hatte, auch nicht, im großen und ganzen, die Regisseure und Schauspieler und Autoren und Musiker, mit denen sie gearbeitet hatte und von denen viele regelmäßig auf den Empfängen erschienen, die sie in ihrem Haus in der West Eleventh Street veranstaltete. Ihre Verachtung galt den gewöhnlichen Juden, den Allerweltsjuden, die sie beim Einkaufen in den Warenhäusern sah, den Durchschnittsmenschen mit New Yorker Akzent, die hinterm Ladentisch arbeiteten oder kleine Geschäfte in Manhattan betrieben, den Juden, die Taxis fuhren, den jüdischen Familien, die sie im Central Park spazierengehen und miteinander reden sah. Was sie auf der Straße zum Wahnsinn trieb, waren die jüdischen Frauen, die sie anhimmelten, die sie erkannten, die an sie herantraten und ein Autogramm von ihr haben wollten. Diese Frauen waren ihr altes Broadwaypublikum, und sie verachtete sie. Insbesondere an älteren Jüdinnen konnte sie nicht ohne ein angewidertes Stöhnen vorbeigehen. »Sieh dir diese Gesichter an!« sagte sie und schüttelte sich. »Sieh dir nur diese abscheulichen Gesichter an!« »Diese Aversion gegen Juden, die nicht hinreichend als solche unkenntlich waren«, sagte Murray, »war eine Krankheit. Eve konnte sich sehr lange parallel zum Leben bewegen. Nicht im Leben – sondern parallel zum Leben. In dieser ultrakultivierten, damenhaften Rolle, die sie für sich gewählt hatte, konnte sie ziemlich überzeugend sein. Die sanfte Stimme. Die präzise Ausdrucksweise. In den zwanziger Jahren war britische Vornehmheit ein Stil, den sich viele amerikanische Mädchen zulegten, wenn sie Schauspielerin werden wollten. Und bei Eve Frame, die damals selbst gerade in Hollywood angefangen hatte, blieb das hängen und verfestigte sich. Die britische Vornehmheit klebte ihr an wie eine dicke Schicht Wachs – nur tief im Innern brannte der Docht, der lodernde Docht, der so ganz und gar nicht vornehm war. Sie beherrschte sämtliche Gesten, das gütige Lächeln, die dramatische Zurückhaltung, die zierlichen Gebärden. Aber gelegentlich kam sie von diesem Parallelkurs ab, von diesem so lebensecht wirkenden Etwas, und dann gab es Auftritte, die einem die Haare zu Berge treiben konnten.« »Und ich habe von all dem nichts mitbekommen«, sagte ich. »Mir gegenüber war sie immer freundlich und aufmerksam, verständnisvoll, hat sich immer bemüht, daß ich mich wie zu Hause fühlte – was nicht einfach war. Ich war als Kind sehr erregbar, und sie hatte viel vom Filmstar an sich, selbst in diesen Rundfunkzeiten.« Während ich sprach, mußte ich wieder an jenen Abend im Mosque denken. Da hatte sie mir gesagt – mir, der ich nicht wußte, was ich mit ihr reden sollte –, sie wisse nicht, was sie mit Paul Robeson reden sollte, in seiner Gegenwart bringe sie keinen Ton heraus. »Jagt er dir auch so eine Ehrfurcht ein wie mir?« hatte sie geflüstert, als ob wir beide noch fünfzehn wären. »Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Es ist eine Schande – ich kann einfach nicht aufhören, ihn anzustarren.« Ich konnte es ihr nachfühlen, denn ich hatte nicht aufhören können, sie anzustarren, als ob, wenn ich sie lang genug anstarren würde, eine Bedeutung zum Vorschein kommen könnte. Mein Blick galt aber nicht nur der Zierlichkeit ihrer Gesten, der Würde ihrer Haltung und der vagen Eleganz ihrer Schönheit – einer Schönheit, die zwischen dem dunkel Exotischen und dem leicht Spröden schwebte und sich in ihren Proportionen ständig verlagerte, einer Art von Schönheit, die in ihrer Blütezeit höchst faszinierend gewesen sein mußte –, sondern auch einer trotz all ihrer Beherrschtheit sichtbar von ihr ausgehenden ätherischen Schwingung, die ich mir damals mit der schieren Begeisterung erklärte, die man darüber empfinden mußte, Eve Frame zu sein. »Erinnern Sie sich an den Tag, als ich Ira kennengelernt habe?« fragte ich ihn. »Da haben Sie beide in der Lehigh Avenue die Fliegenfenster ausgebaut. Was hat er bei Ihnen im Haus gemacht? Das war Oktober 48, wenige Wochen vor der Wahl.« »Oh, das war ein schlimmer Tag. An den Tag erinnere ich mich sehr gut. Ira ging es gar nicht gut, er war am Morgen nach...