Roth Verschwörung gegen Amerika
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25131-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-446-25131-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Juni 1940 – Oktober 1940
Wählt Lindbergh oder wählt den Krieg
Angst beherrscht diese Erinnerungen, eine ständige Angst. Natürlich hat jede Kindheit ihre Schrecken, doch ich frage mich, ob ich als Kind nicht weniger Angst gehabt hätte, wenn Lindbergh nicht Präsident gewesen oder ich nicht das Kind von Juden gewesen wäre. Als im Juni 1940 die schockierende Nachricht kam – Charles A. Lindbergh, Amerikas internationaler Held der Luftfahrt, war vom Parteitag der Republikaner in Philadelphia als Präsidentschaftskandidat nominiert worden –, war mein Vater neununddreißig; als Versicherungsvertreter mit Grundschulabschluß verdiente er knapp unter fünfzig Dollar die Woche; das reichte, um die wichtigsten Rechnungen pünktlich zu bezahlen, für mehr aber auch kaum. Meine Mutter – die sich zur Lehrerin ausbilden lassen wollte, aber nicht konnte, weil es zu teuer war, die seit ihrem Highschool-Abschluß als Sekretärin gearbeitet und zu Hause gewohnt hatte, der wir verdankten, daß wir uns in der schlimmsten Phase der Depression nicht wie arme Leute vorkamen, indem sie den Lohn, den mein Vater ihr jeden Freitag ablieferte, so effizient einteilte, wie sie auch den Haushalt führte – war sechsunddreißig. Mein Bruder Sandy, ein Siebtkläßler mit erstaunlichem Zeichentalent, war zwölf, und ich, ein Drittkläßler, der bereits eine Klasse übersprungen hatte – und ein angehender Briefmarkensammler, inspiriert wie Millionen andere Kinder von Präsident Roosevelt, dem obersten Philatelisten des Landes –, war sieben. Wir lebten in einer Wohnung im ersten Stock eines kleinen Zweieinhalbfamilienhauses, wie die anderen Häuser in dieser von Bäumen gesäumten Straße ein Holzbau mit einer Eingangstreppe aus rotem Backstein, darüber ein Giebeldach und davor ein winziger, mit einer niedrigen Hecke abgezäunter Vorgarten. Weequahic war kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf Ackerflächen am unerschlossenen Südwestrand von Newark gebaut worden, ein halbes Dutzend Straßen dort hatte man majestätisch nach siegreichen Marinekommandanten im Spanisch-Amerikanischen Krieg benannt, und das örtliche Filmtheater hieß nach FDRs Vetter fünften Grades – und dem sechsundzwanzigsten Präsidenten des Landes – das Roosevelt. Unsere Straße, die Summit Avenue, lag oben auf einem Hügel, eine für eine Hafenstadt gar nicht geringe Erhebung, knapp dreißig Meter über dem Niveau der Salzsümpfe im Norden und Osten der Stadt und der noch weiter östlich vom Flughafen gelegenen Bucht, deren Wasser sich um die Öllager auf der Bayonne-Halbinsel schmiegten und sich dort mit der New York Bay vereinigten, um an der Freiheitsstatue vorbei in den Atlantik zu strömen. Wenn wir aus unserem Schlafzimmer hinten heraus nach Westen sahen, ging der Blick manchmal bis zur dunklen Baumlinie der Watchungs, einer niedrigen Bergkette, an deren Saum sich riesige Anwesen und wohlhabende, dünnbesiedelte Vorstädte befanden: der äußerste Rand der bekannten Welt – und acht Meilen von unserem Haus entfernt. Einen Block weiter südlich begann die Arbeitersiedlung Hillside, in der vorwiegend Nichtjuden wohnten. Die Grenze zu Hillside war auch die zu Union County, einem ganz und gar anderen New Jersey. Wir waren 1940 eine glückliche Familie. Meine Eltern waren kontaktfreudige, gastfreundliche Leute und hatten einen ausgewählten Freundeskreis aus Kollegen meines Vaters und den Frauen, die zusammen mit meiner Mutter bei der Organisation des Eltern-Lehrer-Ausschusses an der neuen Chancellor Avenue School mitgewirkt hatten, der Schule, die mein Bruder und ich besuchten. Alle waren Juden. Die Männer aus dem Viertel waren entweder selbständige Geschäftsleute – die Inhaber des Süßwarenladens, des Lebensmittelgeschäfts, des Juweliergeschäfts, des Kleidergeschäfts, des Möbelladens, der Tankstelle oder der Feinkosthandlung, die Eigentümer kleiner Werkstätten drüben an der Newark-Irvington-Linie, selbständige Klempner, Elektriker, Anstreicher und Heizungsbauer – oder Klinkenputzer wie mein Vater, die täglich von Haus zu Haus zogen und ihre Artikel auf Provisionsbasis verkauften. Die jüdischen Ärzte und Anwälte und erfolgreichen Kaufleute, denen die großen Geschäfte in der Innenstadt gehörten, lebten in Einfamilienhäusern am Osthang des Chancellor-Avenue-Hügels, näher am Weequahic Park, einem über hundert Hektar großen Landschaftsgarten, der mit seinen Rasenflächen und Waldstücken, mit Ruderteich, Golfplatz und Trabrennbahn die Grenze bildete zwischen Weequahic und den Fabriken und Hafenanlagen entlang der Route 27 und dem Viadukt der Pennsylvania Railroad östlich davon und dem eben erst gebauten Flughafen östlich davon und dem äußersten Rand Amerikas östlich davon – den Lagerhäusern und Kais an der Newark Bay, wo Fracht aus der ganzen Welt gelöscht wurde. Am westlichen Ende des Viertels, in unserem parklosen Ende lebte der eine oder andere Lehrer oder Apotheker, ansonsten aber gab es nur wenige Akademiker und ganz sicher keine der reichen Unternehmer- und Fabrikantenfamilien in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Die Männer arbeiteten fünfzig, sechzig, ja siebzig oder mehr Stunden die Woche; die Frauen arbeiteten ununterbrochen und mit wenig Unterstützung durch arbeitssparende Geräte, sie machten die Wäsche, bügelten Hemden, stopften Socken, wendeten Kragen, nähten Knöpfe an, motteten Wollsachen ein, polierten Möbel, fegten und wischten Fußböden, putzten Fenster, schrubbten Waschbecken, Wannen, Toiletten und Herde, staubsaugten, pflegten Kranke, gingen einkaufen, bereiteten die Mahlzeiten zu, versorgten Verwandte, räumten Schränke und Schubladen auf, beaufsichtigten Anstreicher und alle anderen, die im Haus etwas reparierten, planten religiöse Feiern, bezahlten Rechnungen und führten die Familienbücher und kümmerten sich bei alldem gleichzeitig um Gesundheit, Kleidung, Sauberkeit, Ausbildung, Ernährung, Benehmen, Geburtstage, Disziplin und Moral ihrer Kinder. Einige wenige Frauen arbeiteten mit den Männern in ihren Geschäften an den nahe gelegenen Einkaufsstraßen, und nach der Schule und an Samstagen halfen auch die älteren Kinder mit, lieferten Bestellungen aus, kümmerten sich um die Vorräte und putzten. Arbeit kennzeichnete und charakterisierte für mich unsere Nachbarn weitaus deutlicher als Religion. Niemand in der Nachbarschaft trug einen Bart oder Kleidung im antiquierten Stil der Alten Welt, niemand trug eine Kippa, weder im Freien noch in den Häusern, durch die ich regelmäßig mit meinen Kindheitsfreunden zog. Die Erwachsenen hielten sich nicht mehr nach außen erkennbar an die frommen Vorschriften, falls sie sich überhaupt noch ernsthaft daran hielten, und abgesehen von älteren Geschäftsinhabern wie dem Schneider oder dem koscheren Metzger – und den kränklichen oder klapprigen Großeltern, die der Not gehorchend bei ihren erwachsenen Nachkommen wohnten – sprach fast niemand bei uns mit Akzent. 1940 sprachen jüdische Eltern und ihre Kinder im südwestlichen Winkel der größten Stadt von New Jersey miteinander in einem amerikanischen Englisch, das eher der Sprache in Altoona oder Binghamton glich als den Dialekten, die auf der anderen Seite des Hudson von unseren jüdischen Brüdern und Schwestern in den fünf Bezirken gesprochen wurden. Hebräische Schrift war auf dem Schaufenster des Metzgers und über den Portalen der kleinen Synagogen in unserem Viertel zu sehen, im übrigen jedoch sah man nirgendwo (es sei denn auf dem Friedhof) das Alphabet des Gebetbuchs, sondern nur die vertrauten Buchstaben der Landessprache, die von praktisch jedermann für alle erdenklichen Zwecke, erhabene und niedrige, unausgesetzt verwendet wurde. Am Zeitungsstand vor dem Süßwarenladen an der Ecke wurde die Racing Form zehnmal soviel verkauft wie der Forvertz, die jiddische Tageszeitung. Israel existierte noch nicht, sechs Millionen europäische Juden hatten noch nicht aufgehört zu existieren, und was das ferne Palästina (unter britischem Mandat, seit die siegreichen Alliierten 1918 die letzten entlegenen Provinzen des ehemaligen Osmanischen Reiches aufgelöst hatten) mit uns zu tun haben sollte, war mir ein Rätsel. Wenn alle paar Monate ein Fremder, der einen Bart trug und niemals ohne Hut gesehen wurde, nach Einbruch der Dunkelheit bei uns vorsprach und in gebrochenem Englisch um eine Spende für ein nationales Heimatland der Juden in Palästina bat, begriff ich, der ich kein ahnungsloses Kind war, nie so recht, was er da eigentlich vor unserer Haustür zu suchen hatte. Meine Eltern gaben dann mir oder Sandy ein paar Münzen, die wir in seine Sammelbüchse werfen sollten, ein Geschenk, wie mir immer schien, das allein aus Freundlichkeit gegeben wurde, um nicht die Gefühle eines alten Mannes zu verletzen, dem es zeit seines Lebens offenbar nicht in den Kopf wollte, daß wir bereits seit drei Generationen ein Heimatland besaßen. Jeden Morgen in der Schule schwor ich unserem Heimatland die Treue. Auf Schulversammlungen sang ich mit meinen Klassenkameraden von seinen Herrlichkeiten. Eifrig beging ich seine nationalen Feiertage, ohne groß darüber nachzudenken, was das Feuerwerk zum 4. Juli oder der Truthahn zu Thanksgiving oder die Baseball-Veranstaltungen am Decoration Day eigentlich mit mir zu tun hatten. Unser Heimatland war Amerika. Dann nominierten die Republikaner Lindbergh, und alles wurde anders. Ein knappes Jahrzehnt lang wurde Lindbergh in unserem Viertel genausosehr als Held verehrt wie überall anders. Die Landung nach seinem dreiunddreißigeinhalbstündigen Nonstop-Alleinflug mit dem winzigen Eindecker Spirit of St. Louis von Long Island nach Paris fand zufällig an jenem Tag im Frühling 1927 statt, an dem meine Mutter feststellte, daß sie mit meinem älteren Bruder schwanger war. Daraus ergab...