Roth Zuckermans Befreiung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25135-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 292 Seiten
ISBN: 978-3-446-25135-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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I »Ich bin Alvin Pepler«
»Was zum Teufel tun Sie denn in einem Bus, Sie mit Ihrem Zaster?« Der das wissen wollte, war ein kleinwüchsiger, stämmiger junger Bursche mit kurzem Haarschnitt und einem neuen Straßenanzug. Eine Autozeitschrift in der Hand, hatte er vor sich hingeträumt, bis er entdeckt hatte, wer neben ihm saß. Das hatte genügt, um ihn auf Touren zu bringen. Unbeeindruckt von Zuckermans unverbindlicher Antwort – einen Bus genommen, um durch die Gegend zu fahren –, begann er eifrig, ihm Ratschläge zu erteilen. Das tat zur Zeit jeder, der ihn ausfindig machen konnte. »Sie sollten sich einen Hubschrauber kaufen. So würde ich das machen. Die Landeerlaubnis da droben auf den Apartmenthäusern pachten und ganz einfach über den Scheißdreck hier unten hinwegfliegen. Hey, haben Sie den hier gesehen?« Diese Frage war an einen Herrn gerichtet, der im Mittelgang stand und seine Times las. Der Bus fuhr die Fifth Avenue entlang, Richtung downtown von Zuckermans neuer Upper Eastside-Adresse aus. Zuckerman war unterwegs zu einem Anlageberater in der Zweiundfünfzigsten Straße – ein Termin, den sein Agent André Schevitz für ihn vereinbart hatte, zum Zweck der Anlagenstreuung. Vorbei waren die Zeiten, in denen Zuckerman sich nur darüber Sorgen machen mußte, daß Zuckerman Geld verdiente. Von nun an würde er sich darüber Sorgen machen müssen, daß sein Geld Moneten einbrachte. »Wo bewahren Sie es denn zur Zeit auf?« hatte der Anlageberater gefragt, als Zuckerman ihn endlich angerufen hatte. »In meinem Schuh.« Der Anlageberater hatte gelacht. »Haben Sie vor, es dort zu lassen?« Die Antwort darauf wäre eigentlich »ja« gewesen, aber im Moment war es einfacher, »nein« zu sagen. Insgeheim hatte Zuckerman ein einjähriges Moratorium über alle wichtigen Entscheidungen verhängt, die dieser Bombenerfolg nach sich ziehen würde. Er wollte erst wieder handeln, wenn er wieder klar denken konnte. Das alles, dieser Glücksfall – welche Bedeutung hatte das für ihn? Es war so plötzlich gekommen und in einem solchen Ausmaß, daß er darüber genau so verdattert war wie über einen Mißerfolg. Da Zuckerman normalerweise in der Stoßzeit am Morgen nirgends hinging – außer, mit seiner Kaffeetasse, in sein Arbeitszimmer, um die tags zuvor geschriebenen Passagen nochmals zu lesen –, hatte er zu spät gemerkt, daß dies eine sehr ungünstige Zeit war, einen Bus zu benützen. Aber er wollte noch immer nicht glauben, daß er jetzt nicht mehr, wie noch vor sechs Wochen, kommen und gehen konnte, wie und wann es ihm beliebte, ohne sich vorher klarzumachen, wer er war. Das übliche, alltägliche Nachdenken darüber, wer man ist, genügte vollauf, auch ohne daß man eine zusätzliche Portion Narzißmus mit sich herumschleppte. »Hey, Sie da!« Zuckermans aufgeregter Nachbar versuchte abermals, den Mann im Mittelgang von seiner Times abzulenken. »Sehen Sie den Typ hier neben mir?« »Jetzt schon«, war die pikierte Antwort. »Das ist der, der Carnovsky geschrieben hat. Haben Sie denn in den Zeitungen nichts darüber gelesen? Er hat gerade eine Million Dollar gemacht und fährt mit dem Bus!« Als sie hörten, daß ein Millionär im Bus war, drehten sich zwei Mädchen, die beide die gleiche graue Schuluniform trugen, nach ihm um – zarte, reizende Kinder, zweifellos zwei wohlerzogene Schwestern, die auf dem Weg in ihre Klosterschule waren. »Veronica«, sagte die Kleinere, »der Mann dort hat das Buch geschrieben, das Mammi gerade liest. Das ist Carnovsky.« Die Kinder knieten sich auf ihre Sitze und starrten ihn an. Ein Paar in mittleren Jahren, das auf der anderen Seite des Ganges saß, sah ebenfalls zu ihm herüber. »Na los, Kinder«, sagte Zuckerman leichthin, »zurück zu euren Hausaufgaben!« »Unsere Mutter«, meldete sich das ältere Mädchen zu Wort, »liest gerade Ihr Buch, Mr. Carnovsky.« »Freut mich. Aber eure Mammi möchte bestimmt nicht, daß ihr im Bus fremde Leute anstarrt.« Fehlschlag. Die schienen in St. Mary’s Phrenologieunterricht zu bekommen. Zuckermans Nachbar hatte sich inzwischen zu der direkt hinter ihm sitzenden Frau umgedreht, um sie über das große Ereignis aufzuklären. Auch sie sollte daran teilhaben. Eine einzige große Familie. »Neben mir sitzt einer, der gerade eine Million Dollar gemacht hat. Wahrscheinlich sogar zwei.« »So?« sagte eine sanfte, damenhafte Stimme. »Hoffentlich macht das viele Geld keinen anderen Menschen aus ihm.« Fünfzehn Häuserblocks nördlich des Anlageberatungsbüros zog Zuckerman an der Strippe und stieg aus. Hier in dieser anomischen Gartenoase war es sicher noch möglich, inmitten der Stoßzeitpassanten ein Niemand zu sein. Wenn nicht, dann versuch’s doch mal mit einem Schnurrbart. Paßt zwar nicht zu dem Leben, wie du es empfindest, siehst, kennst und kennen möchtest, aber wenn es bloß eines Schnurrbarts bedarf, dann laß dir einen stehen. Du bist nicht Paul Newman, aber auch nicht mehr das, was du einmal warst. Ein Schnurrbart. Kontaktlinsen. Vielleicht wäre eine buntscheckige Aufmachung zu empfehlen. Versuch doch, so auszusehen, wie heutzutage alle aussehen, statt immer noch so, wie vor zwanzig Jahren jedermann in »Humanities, Kursus 2« ausgesehen hat. Weniger wie Albert Einstein, mehr wie Jimi Hendrix, dann stichst du nicht so sehr von den anderen ab. Und wenn wir schon bei diesem Thema sind – wie steht’s denn mit deinem Gang? Daran hatte Zuckerman sowieso schon immer arbeiten wollen. Beim Laufen waren seine Knie zu nahe beieinander, und außerdem ging er immer viel zu schnell. Jemand, der einsachtzig groß ist, sollte lieber ein bißchen schlendern. Doch leider vergaß Zuckerman immer schon nach den ersten zwanzig Schritten ans Schlendern zu denken – zwanzig, dreißig Schritte, und schon war er wieder in Gedanken versunken, statt auf seinen Gang zu achten. Jetzt allerdings war der Moment gekommen, damit ernst zu machen, zumal die Presse jetzt auch seine sexuelle Leistungsfähigkeit unter die Lupe nahm. Beweg dich so aggressiv wie du schreibst. Du bist Millionär, also gewöhn dir den Gang eines Millionärs an. Man beobachtet dich. Der Spaß geht auf meine Kosten. Diese Frau im Bus zum Beispiel, der unbedingt erklärt werden mußte, warum die anderen ganz aus dem Häuschen waren. Und dort, diese große, hagere ältere Dame mit dem stark gepuderten Gesicht … warum rennt die denn so? Und warum macht sie das Schnappschloß ihrer Handtasche auf? Zuckermans Adrenalin riet ihm plötzlich, ebenfalls zu rennen. Es waren nämlich keineswegs alle Leute von dem Buch begeistert, das Zuckerman jetzt ein Vermögen einbrachte. Zahlreiche Leser hatten ihm bereits schriftlich die Meinung gesagt. »Eine Schande, Juden in einer völlig perversen Peep-Show-Atmosphäre darzustellen; eine Schande, Juden zu schildern, die Ehebruch begehen, dem Exhibitionismus, der Selbstbefriedigung, der Sodomie und der Hurerei frönen!« Jemand, dessen Briefpapier mit einem gedruckten Briefkopf so eindrucksvoll wie der des Präsidenten der Vereinigten Staaten geziert war, hatte ihn sogar wissen lassen, man müßte ihn »niederknallen«. Und im Frühjahr 1969 war das keine bloße Redewendung mehr. Vietnam war ein Schlachthaus, und auch außerhalb des Kriegsschauplatzes liefen viele Amerikaner Amok. Es war erst einige Monate her, daß Martin Luther King und Robert Kennedy von Attentätern niedergeknallt worden waren. Ein persönlicher Bekannter Zuckermans, einer seiner früheren Lehrer, hielt sich immer noch versteckt, weil jemand eines Nachts, als er gerade mit einem Glas warmer Milch und einem Roman von Wodehouse am Tisch saß, mit einem Gewehr durchs Küchenfenster geschossen hatte. Der pensionierte Junggeselle hatte an der Universität von Chicago fünfunddreißig Jahre lang Mittelenglisch gelehrt. Der Kursus war schwierig gewesen, aber ganz so schwierig auch wieder nicht. Heutzutage genügte es nicht mehr, jemandem die Nase blutig zu schlagen. Niedermetzeln – das war offenbar an die Stelle jenes Rundumschlags getreten, von dem die Erbitterten früher geträumt hatten; nur noch völlige Vernichtung konnte eine dauerhafte Befriedigung verschaffen. Im vergangenen Jahr waren während des Wahlkongresses der Demokratischen Partei Hunderte mit Schlagstöcken traktiert, durch Fensterscheiben geschmissen oder von Polizeipferden niedergetrampelt worden – wegen Verstößen gegen Zucht und Ordnung, die weniger gravierend waren als jene, die Zukkerman nach Meinung zahlreicher Briefschreiber begangen hatte. Er hielt es keineswegs für unwahrscheinlich, daß irgendwo in einem schäbigen Zimmer das mit seinem Porträt (ohne Schnurrbart) gezierte Titelblatt von Life mit Reißzwecken an die Wand geheftet war – genau so weit vom Bett eines »Einzelgängers« entfernt, daß dieser mit Wurfpfeilen danach zielen konnte. Solche Titelgeschichten waren schon schlimm genug für die Schriftstellerfreunde eines Schriftstellers, ganz zu schweigen von halbgebildeten Psychopathen, die wohl kaum über die vielen guten Taten Bescheid wußten, die er im PEN-Club vollbrachte. Ach, Gnädigste, wenn Sie doch bloß mein wahres Ich kennen würden! Schießen Sie nicht! Ich bin ein ernsthafter Schriftsteller, nicht bloß einer von diesen Sittenstrolchen! Aber es war schon zu spät für solche Argumente. Hinter der randlosen Brille waren die blaßgrünen Augen der gepuderten Fanatikerin vor lauter Glaubenseifer schon ganz glasig geworden. In Kernschußweite packte sie ihn am Arm. »Sie dürfen nicht …« – sie war nicht mehr jung und mußte nach Atem ringen – »Sie dürfen nicht zulassen, daß das viele Geld einen anderen Menschen aus Ihnen macht,...